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Das kalte Gedächtnis
Krächzend und hustend flehten ihre Lungen nach Luft und das Stechen in ihren Seiten begann sich nicht länger auf diesen Teil des Körpers zu beschränken. Doch die Angst in ihrem Kopf lies sie all das fast vergessen, denn es ging um ihr Leben. Wie in Trance rannte Lena durch die verwinkelten Gassen, die im zwielichtigen Schein der wenigen Laternen und beleuchteten Fenster vor ihr lagen. Vorhin, als sie bemerkte, dass dieser Mann sie verfolgte, kam es ihr wie eine gute Idee vor, zwischen den Häusern zu verschwinden. Hier war sie aufgewachsen. Hier kannte sie sich aus. Aber der vermeintliche Ausweg hatte sich mittlerweile in etwas anderes verwandelt. Mit jedem Schritt den sie tat, veränderte sich das Bild der Sicherheit mehr und mehr in das der Ausweglosigkeit. Die einzige Hoffnung bestand darin, so schnell sie konnte zu rennen. Sie musste schneller sein, als ihr Verfolger.
Und sie rannte...rannte um ihr Leben.
Er kam näher und Lena glaubte, den fremden Atem in ihrem Nacken zu spüren. Diesen warmen Hauch, in dem sie die bösartigen Absichten des Mannes förmlich riechen konnte.
Vor ihr tauchten die grauen Mauern eines alten Lagerhauses auf, indem sie als Kind oft gespielt hatte. Während die anderen Mädchen mit ihren Puppen beschäftigt waren, tobte sie zwischen den schon damals verfallenen Mauern herum und stellte sich vor, wie es einmal sein würde, wenn sie als reiche Geschäftsfrau ein Leben in Glück und Freude führte.
Sie hastete durch das alte Tor, das sie wie ein gähnender Schlund verschluckte. Als sie kurz innehielt und die bekannten Konturen und Silhouetten betrachtete, war es wie früher. Nur das Gefühl hatte sich verändert. Freude war nun zu Angst geworden, wie ein kalter Schauer, der durch ihre Adern floss, sich um ihr Herz legte und es zu einem kleinen Klumpen zusammendrückte.
„Stop. Bleib endlich stehen!“ hallte es dumpf hinter ihr. Lena drehte sich um und sah durch das Tor hinaus in die vom Mond erleuchtete Nacht. Da war er. Dieser Mann. Ganz dicht. Sie hastete weiter, durchquerte die riesige Eingangshalle, vorbei an alten Maschinen und Apparaturen, die wie stählerne Gerippe auf dem Betonboden lagen. Eine verrostete Treppe führte am anderen Ende hinauf in das ehemalige Büro des Vorarbeiters. Sie musste es nur noch bis dort hinauf schaffen und sie würde in Sicherheit sein, denn die schwere Tür lies sich von innen verschließen und niemand konnte dann dort noch hinein. Außerdem hoffte sie, dass sie oben aus dem Funkloch heraustreten würde und ihr Handy benutzen konnte. Sie könnte Hilfe holen und in Ruhe abwarten, bis der Mann verschwunden war, oder die Polizei eingetroffen ist. Mit dieser Hoffnung, die sich nun wie ein warmer Schleier in ihrem Kopf ausbreitete, peitschte sie sich auf und es gelang ihr in einer letzten Kraftanstrengung ihren Lauf noch einmal zu beschleunigen. Die Treppe kam näher. Immer näher. Dann spürte sie die erste Stufe unter ihren Füßen, dann die zweite und es folgte immer eine weitere, bis sie schließlich den Knauf der Tür in ihrer Hand hielt....
Er rührte sich nicht...
Sie drückte noch einmal...
Nichts...
Der Mann war auf der Treppe...
Bitte, bitte, betete sie vor sich hin, als sich mit einem lauten Knacken der Schmutz der Jahre löste und die Tür sich öffnete. Sie sprang hinein, warf die schwere Metalltür hinter sich ins Schloss und verriegelte sie.
Sie war in Sicherheit. Ihre Lungen brannten und Lichter tanzten vor ihren Augen. Sie war am Ende und sie wusste genau, dass sie nicht mehr lange durchgehalten hätte. Nur wenige Augenblicke länger und ihr Körper hätte aufgegeben, sie in die Hände des Fremden getrieben, der... . Nein, sie mochte sich nicht vorstellen, was alles hätte passieren können, denn es war vorbei.
Lena schleppte sich schwer atmend an das dicke Fenster und blickte hinaus. Dort stand der Mann, die Hände auf die Knie gelegt und nach Luft ringend. Es verschaffte ihr ein Gefühl der Genugtuung, dass sie ihm soviel abverlangt hatte. Hoffentlich stirbt er an Luftmangel dachte sie. Demonstrativ stellte Lena sich vor das große Fenster und holte fast wie in Zeitlupe ihr Handy heraus, wobei sie der Fremde keinen Moment aus den Augen ließ. Sie blickte auf das grüne Display...Netzsuche...
Das durfte nicht sein. Es durfte einfach nicht. Und egal, wie oft sie hin und herlief, dass Bild auf ihrem Mobiltelefon änderte sich nicht. Netzsuche.
„Verdammt noch mal. Jetzt hör mir wenigstens zu!“ schrie der Mann zu ihr hinein.
„Lassen sie mich in Ruhe! Ich hole die Polizei!“
„Sophie, erkennst du mich denn nicht mehr? Ich bins. Donnie.“
Lena konnte es nicht fassen. War es nur eine Verwechslung? Oder war ihr Gegenüber Geisteskrank?
„Sophie? Wer zum Teufel ist Sophie?“ kreischte sie zurück.
„Du bist es!“
„Nein. Mein Name ist Lena! Sie haben sich vertan. Und jetzt hauen sie ab! Ich bin nicht ihre Sophie!“
Donnie kam ganz dicht an das Fenster heran. „Doch das bist du. Sieh in den Spiegel. Diese Schlampe hat irgendwas mit dir gemacht. Erinnere dich an heute morgen. Weißt du noch, was heute morgen passiert ist?“
„Oh ja. Das kann ich dir sagen. Ich ging zur Bank und wollte meine Auszüge holen. Bist du jetzt zufrieden.“
Plötzlich blitzte es auf. Aber nicht draußen, nicht in diesem Büro, sondern direkt in Lenas Kopf. Vor ihrem geistigen Auge entstanden Bilder. In ihrer Hand hielt sie eine Waffe und sie fühlte sich sonderbar, nicht wie sie selbst, sondern irgendwie fremd.
Lena stolperte und fiel, da sie nur die kalten Bilder eines fremden Gedächtnisses sah. Der Schmerz durchzog ihren Körper, doch die Erinnerungen blieben. Sie sah alles wie in einem Film.
Der Bankier vor ihr stotterte. Sie konnte nicht hören was, doch sein Gesicht war eine Fratze aus Angst und Verzweiflung. Mit zittrigen Fingern schob er Geld über die Theke und es waren ihre eigenen Hände, die es nahmen und in einer Tasche verstauten. Lena, oder besser gesagt, diese Frau drehte sich herum und sah auf einen Mann, der ihr bestätigend zunickte. Es war Donnie, ihr Verfolger. Die Bilder der Erinnerungen bewegten sich auf den Ausgang zu und auf eine Frau, die dort stand. Sie sah sich selbst. Sie, Lena, stand dort und blickte sich, sie, an.
Donnie war bereits durch die Tür und in Lenas Augen tat sich etwas. Sie lauerten und es war, als wäre ein besonderer Zeitpunkt gekommen, denn die Pupillen verengten sich und mit einem Mal, hatte sie ein Pfefferspray in der Hand. Eine neblige Wolke entsprang der Sprühflasche und wehte direkt in die Augen, welche sich erinnerten. Dann ging alles ganz schnell. Die Bilder zeigten den Schuss, den zusammenklappenden Körper Lenas und ihre Augen, wie sie wie wild in das verschwommene Bildnis blickten, direkt in ihren Kopf, direkt in ihren Verstand. Dann erlosch alles und sie befand sich wieder in dem Büro, in das der Mond sein bleiches Licht warf.
Lena hielt sich die Hände vors Gesicht, so als wolle sie sich vor dem schmerzenden Gas schützen, doch dabei hatte sie gerade gesehen, dass sie es war, die es versprüht hat, aber sie hatte auch gesehen, wie es direkt in ihre Augen traf. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen und sie war zu keinem Gedanken mehr fähig, bis sie etwas bemerkte. Denn die Hände, die sie auf ihre Augen gelegt hatten, riefen einen Schmerz hervor. Sie rieb und der Schmerz wurde stärker, schwoll zu einem Brennen an.
Lena lief hinter den alten Schreibtisch, der am hinteren Ende des Büros stand. Dort hing ein alter Spiegel und mit einem einzigen Wisch, hatte sie das milchige Glas von Staub und Schmutz befreit, der ihr nun direkt in die Nase wehte. Sie roch und schmeckte die Zeit selbst, als sie sich selbst tief in die Augen blickte. In die roten und geschwollenen Augen. Wie konnte das sein? Sie hatte doch gesprüht!
Eine schreckliche Gewissheit machte sich in ihr breit und sie beobachtete ihre Augen, wie sie sich weiteten und den Blick auf das gesamte Gesicht freigaben...
Es war nicht das ihrige. Sie hatte es noch nie gesehen. Blonde Strähnen fielen in ein schmales Gesicht mit markanten Wangenknochen. Lena blickte an sich herunter. Ihr Körper war der einer sportlichen Frau Ende zwanzig. Deshalb konnte sie dem Mann entkommen. Deshalb ist ihr Körper nicht schon vorher kollabiert.
Es blitzte wieder und erneut webten feine Fäden aus Erinnerungen Bilder. Doch es waren die ihrigen. Es waren Lenas.
Sie kam gerade zur Tür hinein, als sie bemerkte, was vor sich ging. Ein Mann und eine Frau, die Frau, die sie gerade im Spiegel gesehen hatte, raubten die Bank aus. Dreist am hellen Tage. Alles ging ganz schnell. Der Mann, Donnie, war zuerst hinaus, dicht gefolgt von der blonden Frau. Lena erkannte ihre Chance und zog aus ihrer Tasche eine Flasche Pfefferspray. Sie richtete sie direkt auf die Augen Sophies. Und noch bevor die ersten Tropfen an ihr Ziel gelangt waren, drückte die Blonde ab. Sophie musste es in ihren Augen gesehen haben. Sie spürte, wie etwas in ihren Körper drang und ihr das Leben raubte. Die Zeit stand still. Nichts um sie herum tat sich und die Blicke der beiden Frauen trafen sich und dieses Treffen schien eine Ewigkeit anzudauern.
Lena wollte nicht sterben. Nicht so. Wie oft hatte sie gehört, dass der Wille über den Körper siegen kann, doch sie spürte ganz deutlich, dass die Zeit ihrer Hülle vorbei war und sie glaubte an das, was ihr Vater immer gesagt hatte. Ihr Vater war ein einfacher Mann, doch wenn er Abends von der Arbeit nach Hause kam, verschlang er unzählige Bücher über fremde Kulturen und fremde Religionen. Ihr Vater glaubte an die Seelenwanderung und in diesem Augeblick, dem Zeitpunkt ihres Todes, glaubte Lena an ihren Vater. So wie sie es noch nie getan hatte. Es blitzte und die Erinnerungen verschwanden zum zweiten Mal.
Gewissheit. Klarheit.
Sie schritt zur Tür und öffnete sie. Donnie kam herein. Ihr Verfolger, ihr Freund.
„Alles klar Sophie?“
„Ja.“
„Wir haben es geschafft. Gott sei Dank, es geht dir wieder gut! Und wo hast du jetzt das Geld.“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“
Donnie blickte sie ratlos an.
„Sie hat es irgendwo hin getan.“
„Wer ist sie?“
„Lena! Wer denn sonst. Diese Schlampe!“
„Pass auf, wie du mich nennst!“
Donnie machte instinktiv einen Schritt zurück. Was er dort sah, ging über seinen Verstand hinaus. Seine Freundin Sophie stand inmitten dieses alten Büros und stritt mich sich selbst. Sie lief umher und beschimpfte eine Frau Namens Lena.
„Sag mir endlich wo du das Geld hingetan hast!“
„Nein. Das werde ich nicht!“
„Warum nur? Warum machst du es uns, so schwer? Wir haben doch beide verstanden was hier los ist.“
„Ja. Wir wissen es. Zwei Menschen. Ein Körper. Aber wenn ich dir sage, wo das Geld ist, werden wir beide sterben.
Denk nach. Warum meinst du, bin ich vor Donnie geflohen. Er wollte mich umbringen. Du bist ihm total egal. Für ihn zählte immer nur das Geld. Deshalb hattest du die Waffe und hast alles durchgezogen. Er stand nur im Hintergrund, wie ein normaler Kunde. Hätten sie euch bekommen, wärst du dran gewesen, nicht er.“
Die Frau im Zimmer hielt inne und beobachtete Donnie, der wild gestikulierend auf sie zuschritt, doch er kam nicht weit, denn Sophie hatte schon eine schwere Eisenstange in der Hand, die bis dahin auf dem Boden gelegen hatte. Sie schlug auf ihn ein. Immer wieder ging die schwere Stange auf den Mann nieder, bis schließlich sämtliches Leben aus seinem Körper gewichen war. Donnie lag am Boden und aus mehreren klaffenden Öffnungen strömte das Blut in Wellen heraus. Lena schrie und heulte. Sophie lachte. Und eine einzige Frau stand im Licht des Mondes. Ihre Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln verzogen, weinte sie Tränen der Erkenntnis.
Sophie folgte Lena in ihre Wohnung. Dort lag eine Tragetasche auf dem Tisch, gefüllt mit Geld.
„Ich kann das nicht. Du bist eine Mörderin. Ich werde nicht zulassen, dass du auch nur einen Cent davon ausgibst. Nie mehr wirst du jemandem schaden!“
Beide erkannten, dass Worte längst überflüssig geworden waren, denn sie begannen sich neben ihrem Körper auch ihren Verstand zu teilen. Ihr Konflikt ging weit über das was sie kannten hinaus. Intensiver als ein verbaler Angriff und schmerzhafter als ein physischer Schlagabtausch.
Vor ungefähr einer Stunde, als sie Donnie leblos am Boden liegen sahen, war es nur eine Erkenntnis, ein Sachverhalt. Aber nun war es mehr. Langsam schlich es sich in ihr Bewusstein; das Wissen um die Unzertrennlichkeit ihrer Persönlichkeiten; das Wissen um einen immerwährenden innerlichen Kampf.
Lena und Sophie hörten keine Worte mehr. Alles war erfüllt von einem lauten Grollen, vergleichbar mit einem Gewitter; wenn warme und kalte Luft aufeinander treffen.
Lena erlebte die Hölle. Es war nicht jener heißer Ort, von dem die Bibel erzählte und es waren auch nicht die Länder Hels aus den alten Geschichten, sondern es war ihr eigener Kopf, der sich langsam aus der Realität löste. Denn ihre gesamte Kraft konzentrierte sich auf den innerlichen Konflikt.
Ihr Körper kauerte nieder und ihre Fäuste hämmerten auf die eigenen Schläfen ein. In einem letzten klaren Augenblick nahm Lena ein Messer von ihrer Anrichte und setzte es sich an den Hals.
Sophie nahm das Messer und legte es zurück, denn die Gier nach Reichtum und der Wille alles nur erdenkliche gegen Lena zu unternehmen, war stärker als die Vernunft und so griff sie mit der freigewordenen Hand nach der Tragetasche.
Lena lies sie wieder fallen und dann trennte sich der Körper endgültig vom Geist und bildete nur noch das Schlachtfeld.
Über Tage hinweg tobte der Kampf, bis schließlich Hunger und Durst das Fleisch und das Leben beendeten. Doch der Konflikt und der Wunsch den anderen zu besiegen war so stark, dass sich im Augenblick des Todes zwei umschlungene Seelen auf den Weg hinaus in die Welt machten.