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Das Kalenderblatt
Es war ein perfekter Sommertag. Die Zeit stand still und das gleißende Licht der Sonne ließ die Welt in einem blendenden Weiß verschwinden. Wann immer es ihr beliebte strich eine zarte Brise über die Gräser, das Haus, und manchmal erreichte sie sogar die Küche. Der Stuhl neben dem alten Gasherd meiner Großmutter war mein Platz. Der große, grüne Küchenschrank, gefüllt mit Lebensmitteln, Süßigkeiten und Gewürzen verströmte wie immer seinen einmaligen, magischen Duft der ihn zu einer besonderen Kindheitserinnerung machte.
Doch, was mir diesen Tag seit jeher immer wieder ins Gedächtnis brachte, war eine andere Erinnerung; die Erinnerung eines Gefühls, ein Gefühl dass ich nur selten erleben durfte. Es lockte mich aus der Küche, geradewegs durch das Esszimmer mit seiner mürrischen Standuhr, in das kleine Fernsehzimmer meines Großvaters.
Schnupftabak und Bier zeichneten den Raum.
Eine Tür weiter lag der Eingangsbereich, kleine Mosaike in der Tür brachen das Licht. Bunte Schatten ruhten auf dem Boden.
Mit einer Hand am Geländer mied ich die ausgetretene Mitte des Läufers und hangelte mich am Rand nach oben.
Das Schlafzimmer meiner Großeltern war ein selten gesehener Ort, ebenso die alten Kinderzimmer meiner Mutter und ihrer Geschwister. Doch der Dachboden - den ich nicht einmal alleine betreten durfte - stand offen und lud mich geradezu ein der alten Welt den Rücken zu kehren.
Die wurmstichige Holzleiter machte auf mich zwar keinen guten Eindruck mehr, doch die kindliche Neugier trieb mich voran, auf das knarrende Holz, und auf den Dachboden.
Die gesammelte Hitze des Hauses staute sich unter dem Dach und machte die Luft dick und schwer. Säulen aus Licht, getragen vom Staub. Der Duft von modrigen Büchern und altem Holz zeichnete eine eigene Welt auf dem beengten Dachboden. Die Tonfigur einer schwarzen Katze starrte von oben auf mich herab, das arme Tier war vom Wetter ausgegraut und vom Teich im Garten einseitig mit Grün überzogen worden.
Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch die alten Kartons, Fundstücke aus dem Leben meiner Großeltern, Spielzeug aus Blech und Holz vergangener Epochen. Ich verbrachte Stunden damit alles zu untersuchen, mechanische Federn aufzuziehen, hundert Jahre alte Lettern zu entziffern und dem heißen Druck des Sommers standzuhalten.
Das grelle Licht des Tages wurde weicher, Gelb wich einem Orange und kroch den Stützbalken in der Mitte des Dachbodens hoch.
Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern wie mein Blick auf sie fiel, oder wann, aber sie werde ich nie vergessen. Ihr Gesicht, ihre braunen Augen, ihr langes schwarzes Haar, das vom Wind erfasste, weiße Sommerkleid auf ewig eingefroren in einer Fotografie.
Jahr und Tag die ihr zugedacht, waren längst vergessen.
Aber sie war noch da, und jeden Tag aufs neue begrüßte sie die ersten Lichtstrahlen des Tages mit ihrem Lächeln, und jeden Abend wiederum entließ sie die Welt in die friedliche Unendlichkeit der Nacht.
Der Mittelpunkt der Welt, von Raum und Zeit war ein kleiner Dachboden, und ich hatte ihn gefunden - ich hatte sie gefunden, versteckt in ihrer kleinen Welt der Wunder.
Copyright: Marcus Brasse, Oktober 2016