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Das ist unsere Nacht
Endlich mal Gesellschaft. Hey Neuer! Ich lade dich ein - flieg mit mir. Wir sind wie der Wind, sind ein Teil von ihm, wir führen ihn an. Wir lassen Äste knarren und heulen um die Schornsteine der alten Fabrik. Einverstanden? Schön.
Ist eine stockfinstere Nacht, was? Nicht ganz. Da vorne kannst du die Lichter des Bahnhofs erkennen. Das ist unser erstes Ziel.
Ich weiß, dass alles neu für dich ist, aber es ist wirklich leicht. Stell dir einfach ganz fest vor, wie du abhebst. Und, kannst du es schon spüren? Natürlich nicht, du fühlst ja nichts mehr. Aber du siehst, dass das Gleis kleiner wird, du hörst, wie das Konzert der Grillen leiser wird, und du erahnst den Wind, der um dich streicht. Jetzt folge ihm, dirigiere ihn. Gut gemacht. Die Lichter kommen schon näher. Dort vorne ist der Bahnsteig. Entschuldige mich für eine Sekunde - da unten warten einige Jugendliche auf den letzten Nachtzug. Ich erlaube mir einen kleinen Spaß. Siehst du, wie das Mädchen den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu zieht? Der Wind, den sie spürt, ist eine warme Sommerbrise. Und dennoch habe ich sie eine Sekunde lang frösteln lassen. Sie wird sich diese Nacht enger an ihren Freund kuscheln und etwas unruhiger schlafen als sonst. Eine kleine Bestrafung dafür, dass sie jung und lebendig ist und ich nur jung.
Weiter geht es, lass uns nicht zu viel Zeit verlieren. Siehst du die Kirchturmuhr da vorne? Schon zehn nach zwölf. Du fragst dich vielleicht warum es mir eilt, immerhin haben wir die Ewigkeit. Ja mein Freund, du und ich, wir haben sie. Aber er nicht. Und wenn er seinen letzten Atemzug getan hat, holen ihn die da unten. Vielleicht erbarmen sich auch die da oben seiner unwürdigen Seele. Jedenfalls hat er sich dann meinem Griff entwunden. Er wünscht sich oft, dass es jetzt schon so weit wäre. Und genau das ist das knifflige an der Sache. Man muss ihm Hoffnung geben, dass alles eines Tages vorbei ist. Dass ich einfach verschwinde oder dass er tatsächlich nur wahnsinnig geworden ist. Immer, wenn er kurz davor ist, seine armselige Existenz zu beenden, lasse ich ihn eine Weile in Ruhe. Sein Geist - hihi - erholt sich, sein Körper kommt zur Ruhe. Und wenn er dann glaubt, alles überwunden zu haben, komme ich zurück. Natürlich nur, wenn er gerade alleine ist. Das ist dann eine wilde Nacht, sage ich dir.
Die letzte dieser Art ist schon eine Weile her. So was ist auch für mich verdammt anstrengend. Derzeit sind wir in einer ruhigen Sinuskurve. Kleine Höhepunkte, kurze Ruhephasen. So wie es Spiegeltrinker gibt, gibt es Spiegelspuker. Ich gebe ihm die tägliche Dosis wohl dosierten Horrors. Psychospielchen, Special Effects, manchmal auch eher altmodisches Zeug. Langweilig wird ihm mit mir nie.
Ich muss sagen, du machst das sehr gut für das erste Mal. Gerade noch lebendig auf der Erde gewandelt, und schon fliegst du herum wie ein Alter. Was für ein Glück, dass du und ich an demselben Ort den Löffel abgegeben haben. Die alte Rangierstation war immer schon ein beliebtes Gebiet für Suizid. Die Gegend zieht einen richtig runter. Und wenn man es hier tut, erschreckt man zumindest keine Passanten. Natürlich habe ich den Lokführer erschreckt, vor allem als er ein Stück meines Kopfes in seinem Fahrwerk entdeckt hat.
Sag mal, kennst du nicht die erste Regel unter Selbstmördern? Frage den anderen nicht nach dem Warum. Aber du liegst natürlich richtig mit deiner Vermutung, dass es mit ihm zu tun hat. Brech' ich halt selbst die Regel. Gefickt hat er mich, und nicht auf die sanfte. Hat mich Scheiße zugerichtet, frage nicht nach Sonnenschein. Natürlich habe ich es nicht gleich danach getan. Aber das alte Leben war vorbei, und mit dem neuen konnte ich nichts anfangen. Depressionen. Beschissene Ängste, die ich vorher nicht mal aus den übelsten Alpträumen kannte. Ganze fünf Psychodocs hab' ich verschlissen.
Ironie des Schicksals. Im Tod hab ich die Lust am Leben entdeckt. Am Nachleben. Plötzlich hatte ich ein Ziel, und darum habe die freundliche Einladung von denen da oben abgelehnt. Und freundlich sind die wirklich, das kannst du mir glauben. Heulen wahrscheinlich heute noch über die Seele, die sie nicht retten konnten.
So, langsam jetzt. Da unten ist sein Haus. Nach den paar Jahren Knast war er heilfroh, wieder in der Stinkbude zu sitzen. Heute denkt er wehmütig an die Zeit da drinnen zurück. Er war drin, ich draußen. Warum? Mann, die Gruselkacke fliegt dir nicht einfach zu wie ein Gespenst um Mitternacht. Das ist harte Arbeit. Für den Einfluss auf die physische Welt zahlst du Lehrgeld. Glaub ja nicht, dass Tote keinen Schmerz empfinden können.
Ich geh durch das Fenster rein. Folge mir. Könnten genauso gut durch die Wand gehen, aber das Fenster hat mehr Stil, finde ich.
Siehst du die ganzen leeren Flaschen im Gang? Er säuft sich jeden Abend die Hucke voll, um einzupennen. Den Wecker stellt er auf halb zwölf. Ist ihm lieber, wenn nicht ich es bin, die ihn aufweckt. Er hat schon versucht, sich in's Koma zu saufen, aber sogar damit kann ich inzwischen umgehen. Die Schlaftabletten waren noch einfacher. Er entkommt mir nicht - kaum bin ich da, ist auch er voll da.
Ich glaube, es wird dir gefallen, zuzusehen. Für dich werde ich mir besondere Mühe geben.
Siehst du, da sitzt er auf der Couch. Komisch, das Licht ist ausgeschaltet. Normal dreht er alles auf, Fernsehen, Stereoanlage, alle Lichter. Ich schalt ihm das dann natürlich aus, aber das kann ich mir heute wohl sparen.
Sag mal... hast du auch das Rumpeln gehört? Und das Buch da - warst du das vielleicht? Nein? Ein Luftzug?
Ich hör doch da noch was. Alter - das darf doch nicht wahr sein. So eine blöde Anfängerstimme. Schwaches Timbre, wenig Hall, keinerlei Rückkopplung. Davor erschreckt sich nicht mal ein kleines Kind. Also bitte. Hey du Schlampe! Was hast du hier zu suchen?
Ja, natürlich willst du den Typ erschrecken. Soviel hab ich schon raus gefunden. Aber warum?
Was? Weil er dich verlassen hat, hast du dich umgebracht? Wegen diesem Kerl?! Bist du noch bei Trost?
Natürlich bereust du es jetzt. Mädchen, es fällt mir echt schwer das zu sagen, aber da kann der eigentlich nichts dafür. Sieh es ein, Kleine: dieses lahme Rumgespuke bringt niemandem was. Der Kerl ist von mir so viel Härteres gewöhnt. Da, siehst du? Er hat gerade gegähnt! Mitten während deiner Vorstellung! Lerne, wie du es ihm ordentlich besorgen kannst, oder sag denen da oben, du hättest es dir anders überlegt. Die sind wirklich verdammt nett, weißt du. Ich glaube, bei denen würdest du dich sehr wohl fühlen. Da triffst du sicher auch deine Großeltern wieder. Ach, die leben beide noch. Okay, dann triffst du halt deinen Hamster oder sonstiges Getier.
Du wirst es dir überlegen? Braves Mädchen. Lebe wohl, und hoffentlich sehen wir uns nie mehr wieder. Um deinen Ex werde ich mich gut kümmern.
Schön. Das wäre erledigt. Also gut, mein Freund. Das war das Vorspiel, jetzt mach dich auf was gefasst. Schnall dich besser an.