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Das Idol
Was für ein hässliches Mädchen, denkt Priebe. Schorfig helle Haut, die garantiert keiner anfasst. Beine wie Spargel, Hüfte und Becken wie die Teile einer falsch zusammengesetzten Maschine gegeneinander verdreht.
„Caterina Valente hat ’nen Arsch wie ’ne Ente“, flüstert er, als sie sich vor ihm aufbaut.
„Wie bitte?“, schnappt die Falschzusammengesetzte und Priebe wiederholt: „Caterina Valente …“
„Jetzt hören Sie auf mit dem Quatsch! - Was machen Sie hier? Im Eingangsbereich?“
Ihr Gesicht ist so interessant wie der Blick in eine Kaltschale. Bei näherem Studium erinnert es Priebe an einen Geier. Sie trägt die Hosen so, wie es alle hässlichen Mädchen tun: zu kurz am Saum, so dass man die Arschritze sieht.
„Hallo?“, hebt sie Stimme. „Ich spreche mit Ihnen! Wer sind Sie, bitte, und was wollen Sie hier?“
„Ich warte auf jemanden“, antwortet Priebe und tastet mit den Fingern nach der Spritze in seiner Manteltasche. „Auf jemand ganz Besonderen. - Auf Ihren prominentesten Bewohner.“
„Wir haben hier keine Prominenten.“
Sie ist schon ganz Pflegerin. Imitiert Ton und Haltung der Älteren ihrer Zunft. Von denen es zwei Arten gibt: Die ausgemergelten, totenkopfäugigen Hutzen und die mit Essensresten bekleckerten Vetteln.
Seufzend zieht Priebe das Foto hervor.
„Erkennen Sie Ihn?“, fragt er und streicht mit der Fingerkuppe darüber. „Er, aufm Pferd. Zwei Heißblüter unter sich. Hat ja alle Stunts selbst gemacht, in jener Zeit und ist oft genug auf die Fresse gefallen dabei.“
„Nie gesehen“, sagt die Falschzusammengesetzte. „Jedenfalls: Heut gibt’s keine Besuche. Bitte verschwinden Sie.“
Priebe seufzt.
Nicht zu fassen, dass sie Ihn nicht erkennt … Aber schlimmer noch die Alten - wie konnten die Ihn vergessen?
Immer mal wieder schleust er sich hier ein. Schaut den Greisen beim Fernsehen zu. Vorige Woche brachte „History“ den Totmacher – und in der Hauptrolle Er, mit geschorenem Schädel in dieser unglaublichen Rolle …
Aber nicht einer der Greise hat Ihn erkannt. Hat kapiert, dass der Totmacher, in einem verdammten Altersheim, unter ihnen sitzt.
„Ich helf‘ Ihnen auf die Sprünge“, murmelt Priebe. „Schauen Sie sich meine Jacke an, junge Frau …“
„Die ist speckig.“
„Aber das ist doch völlig egal. Wichtig ist, was es mit dieser Jacke auf sich hat.“
„Und das wäre?“
„Es ist die Originale, junge Frau. Eine beigefarbene M-65 ohne Schulterklappen - woll’n Sie vielleicht mal anfassen?
„Gott bewahre. Und jetzt hören Sie zu, …“
„Sehen Sie hier, junge Frau. Auf der Brusttasche. Da steht Sein Name - unglaublich, aber Er hat mir Sein Autogramm drauf gegeben. Und wissen Sie auch, wann?“
„Sie werden es mir gleich sagen.“
„Das war am 10. Oktober 1985. Die Premiere von Faust auf Faust, im Duisburger „Asbach“ Kino! Himmel, da war ich ja praktisch noch ein Kind.“
„Wie auch immer, Sie verlassen jetzt unser Haus.“
Priebe schlurft zum Ausgang, lässt sich durch die Drehtür schubsen, zündet sich eine Zigarette an und setzt sich auf eine Bank.
1985. Da hatte er noch eine Freundin. Sie hat sich von ihm getrennt, hat nicht kapiert, dass er Ihn von jetzt an auf Schritt und Tritt folgen musste. Hörte ihm gar nicht zu, wenn er ihr berichtete: von Blechschaden, Seinem ersten Tatort, bei dem Er noch auf der falschen, der bösen Seite stand. Von Seinen fantastischen Faustkämpfen in Dr. Fu Man Chu und Winnetou. Und natürlich von Schimmi, dem ersten Kommissar, der „Scheiße“ sagte statt: „Wo-waren-Sie?“
Keine hat das je kapiert. Also hat er es bleiben lassen mit den Weibern und sich eine Menge Ärger damit erspart.
Das Genöle wegen des Geldes, zum Beispiel. Die Videokassetten hatten ihren Preis, später die DVDs und Blu-rays.
In Gedanken zählt er die Bänder durch.
Er besitzt all Seine Filme, sechzig Stück, von Wenn der weiße Flieder wieder blüht von 1953 bis Babelsberg von 2022. Auf seinen Bändern und Festplatten liegen, vor Staub geschützt und sauber etikettiert, alle 140 Fernsehfilme, von Kolportage, 1957, bis Rattennest von Zwo-Neunzehn.
Die Frauen lagen George zu Füßen, denkt Priebe auf dem Weg ums Gebäude. Privat, da war Er eine treue Seele - aber in Seinen Filmen …
Zum Beispiel in den Achtzigern, da waren sie richtige Zuckerschnitten, Seine Frauen, mit blonden Locken wie Drehspäne. Hatten nicht viel Text, bekamen öfters eine rein oder sind draufgegangen.
Priebe schaut am Haus hoch, checkt Georges Zimmer, lugt nach einer Bewegung hinter den Gardinen. Streicht mit den Fingern der Rechten über die Spritze und greift nach dem Holm der Feuerleiter.
Er wird Ihn hier rausholen. Jetzt - denn morgen ist es dafür zu spät. Morgen ist der 23.Juli 2038, Sein hundertster Geburtstag, an welchem es Kaffee und Kuchen mit den Greisen gäbe, Blumen und einen Händedruck vom Bürgermeister.
Priebe lächelt: Im Vorjahr hatten sie einen verdammten Weihnachtsmann durch die Zimmer geschickt. Georges Brüllen war bis hier unten zu hören gewesen.
George wird es gut bei ihm haben. Priebe hat alles vorbereitet: Der Star schläft auf dem Sofa, da, wo früher Zorro geschlafen hat. Priebe hofft, Seine Fürze riechen besser. Jeden Sonntag gibt’s echten Kaffee, seine Musik wird George gefallen und sie werden sich die alten Fotoalben ansehen: Tante Hedwigs Hochzeit und natürlich Priebes Urlaube mit Mutter im Harz. Priebe wird Ihm erklären, was er anders gemacht hätte, als Ermittler. Sie werden sparsam leben, sich Priebes Rente gut einteilen, bei sechs Euro für ein Brot.
Da gibt es diese Migranten, im Park, die ihm immer blöde Bemerkungen zuwerfen. Er wird ihnen George vorstellen, erklären, wen sie da vor sich haben - und dann ist Schluss mit lustig.
Die Feuerleiter ist mit einem Hängeschloss versehen.
„Gar nicht erlaubt“, keucht rotfleckig Priebe und verdächtigt den Hausmeister.
Wütend schlurft er zum Eingang zurück.
Durchquert das Foyer und steigt in den Fahrstuhl.
Der Lift hält auf Zwei und es ist tatsächlich sie - die Falschzusammengesetzte - die die Kabine betritt.
Sie schaut Priebe verwirrt an. Dann greift sie nach dem Telefon - aber er ist schneller, rammt ihr die Spritze in den Vogelhals und drückt das Diazepam hinein.
Die ganze Injektion - bei George hätte er kaum ein Viertel verwendet.
Priebe beginnt, wie ein Irrer zu lachen.
„Sie stinken …“, keucht die Falschzusammengesetzte; dann rinnt Speichel aus ihrem Mund und sie rutscht die Fahrstuhlwand herunter.
„Sind sie dir wirklich nie aufgefallen?“, flüstert Priebe. „Seine Augen?“
Der Lift hält auf Drei. Die Tür öffnet und …
Dann passiert eine dieser verrückten Sachen - die es im Leben manchmal gibt.
Priebe starrt George und George starrt Priebe an.
Er Ihn und Er ihn, aus wässrig trüben und immer noch stahlblauen Augen. Priebe ist überwältigt, von der wachen Intelligenz in Seinem Blick.
Tatsächlich erfasst George die Situation und schlägt zu.
Sechs Monate später dann die Verhandlung. Mit jeder Menge Presse - doch leider ohne George.
Der hat ja wieder gedreht und heute nun strahlen sie den Hundertjährigen aus. Das Comeback des Jahres und gleich im Anschluss eine zwanzigminütige Zusammenfassung Seiner Hochzeit mit der neunundsechzigjährigen Michelsen.
Priebe hockt am Tisch seiner Zelle und lächelt.
Hat sich doch letzten Endes gelohnt, der ganze Aufwand.