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Das Hotel
Das Hotel
Es war nun schon sieben Jahre her, dass sie dieses verfluchte Hotel betreten hatten.
Alan saß auf dem Bett und mischte gedankenverloren ein Kartenspiel, dessen Karten schon völlig abgenutzt und schmierig waren. Wie oft hatten sie dieses Kartenspiel schon benutzt? Sie hatten damit angefangen, als es ihnen sehr, sehr langweilig wurde. Als sie die Hoffnung aufgegeben hatten. Das war nach etwa einem Jahr gewesen. Wahrscheinlich hatte jeder einzelne von ihnen schon viel früher die Ausweglosigkeit der Situation erkannt, aber eingestanden hatten sie es sich offiziell erst später. Er hob den Blick vom Kartenspiel und sah in die Runde. Dort in der Ecke saß Cemica und brütete still vor sich hin. Christoph und Anna saßen auf dem Bett neben ihm und sahen eine bekloppte Serie, die sonst niemanden interessierte, und amüsierten sich köstlich, weil sie die Dialoge beinahe synchron mitsprechen konnten. Barth (eigentlich hieß er Bartholomäus, aber alle waren dafür, dass sie ihn nur mit "Barth" anredeten) kniete auf dem Boden und beschäftigte sich mit seiner Sammlung. Es war keine Münzsammlung, keine Briefmarkensammlung, sondern einfach nur eine Sammlung. Er sammelte alles mögliche, was klein genug war, um irgendwo eingeordnet zu werden. Diesen Spleen hatte er erst nach einiger Zeit entwickelt, es war wohl seine Art mit der Situation fertig zu werden oder seine Umwelt systematisch zu erfassen. Vor ihm lag eine handtuchgroße Fläche mit allen möglichen Dingen: Knöpfe, Fäden, Flusen, Kerne, Steinchen, Schrauben, undefinierbare Splitter und hundert andere Dinge. Konzentriert bückte sich Barth über das Sammelsurium und verschob einige Teile, bis er zufrieden schien. In Barths Privatappartement war alles voll mit Glaskästen, in denen er die ganzen Dinge pedantisch aufgereiht hatte. Jeder hier hatte ein Privatappartement, doch meist fanden sie sich alle hier in der Luxussuite zusammen, da keiner allein auf seinem Appartment hocken wollte. Zumindest nicht die ganze Zeit. Ja, sie hätten eigentlich glücklich sein können. Jeder hatte ein eigenes, sogar mehrere Zimmer auf Lebenszeit und Vollpension.
Aber zu welchem Preis?
Die roten Samtvorhänge waren Gitterstäbe und die edel tapezierten Wände mit ihren Bordüren waren Gefängnismauern. Diese Analogie hielt Alan sich immer vor Augen. Er brauchte einfach eine Analogie, einen Vergleich mit etwas, das er kannte, denn für dieses Hotel gab es eigentlich kein Beispiel. Es sah wie ein ganz normales Luxushotel aus, mit all dem teuren, verschnörkelten Mobiliar. Doch es unterschied sich von einem gewöhnlichen Hotel durch eine wichtige und sehr unangenehme Tatsache:
man konnte nicht hinaus.
Das war alles.
Man konnte bis zum Haupteingang gehen, und die Tür öffnen, aber man konnte nicht hinaus. Sie alle hatten es natürlich versucht, gejammert und geschrieen, mit den Fäusten an die unsichtbare Barriere gehämmert, die jeden denkbaren Ausgang aus diesem Hotel versperrte. Nicht nur, dass diese Barriere keinen Millimeter nachgab, man hörte auch nicht den geringsten Ton, egal wie fest man dagegenschlug. Und was vielleicht noch unheimlicher war: man spürte nichts, man tat sich nicht mal weh, wenn man mit dem Kopf dagegenrannte. Es war schrecklich. Diese Barriere konnte man mit keinem Sinn wahrnehmen, aber man konnte sich einfach nicht hindurchbewegen. Man weigerte sich, daran zu glauben, da man sie nicht direkt nachweisen konnte, sondern nur ihre Folge - man blieb im Hotel. Was man auch tat, dieses Gesetz schien unsichtbar tausendfach in die Wände gemeißelt zu sein: du bleibst im Hotel.
"Hey, Alan, was machst du für ein düsteres Gesicht?"
Alan sah auf. Es war Anna. Sie seufzte.
"Oh, ich weiß..." sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante.
"Alan, du... du kannst dich niemals damit abfinden."
Er nickte zögerlich.
"Wie sollte ich." flüsterte er vergrämt, "oder hast du dich damit abgefunden?"
"Wir müssen", sagte sie statt einer Antwort. "Irgendwann wirst auch du dich damit abgefunden haben. Die Zeit -"
Sie unterbrach sich, als Alan seinen hängenden Kopf hob und sie ansah. Die Zeit. Anna sah exakt genau so aus, wie an dem Tag als sie das Hotel betreten hatten. Da war sie siebzehn gewesen. Sie müsste jetzt eigentlich 24 sein.
"Weißt du, Anna, es gibt einen sehr schönen, dramatischen Satz, den ich jetzt gern sagen würde", sagte Alan verbittert.
"Welchen?"
" 'Wir werden alle sterben.' "
"Nein. Wir werden ewig hier drin sitzen", sagte Anna mit hohler, hoffnungsloser Stimme und großen Augen. Alan tat es plötzlich leid, sie daran erinnert zu haben. Ihn plagte es all die Jahre, aber er musste nicht die anderen damit belasten, die es vielleicht verdrängt hatten. Das hatte lange gedauert. Etwa ein Jahr lang hatten sie intensiv darüber diskutiert, wie sie hier herauskommen sollten. Sie hatten es irgendwann aufgegeben. Danach kam die verzweifelte Hoffnungsphase, in der sie einfach nur hofften, dass irgendjemand sie retten würde. Auch diese Phase verging und sie verfielen in einen Zustand der Resignation, in dem sie sich auch heute noch größtenteils befanden. Natürlich hatten sie auch Spaß, aber über alles legte sich das bedrückende Gefühl des Gefangenseins. Worüber sie auch lachten, es handelte sich praktisch immer um Erlebnisse innerhalb des Hotels. Aus der Zeit vor dem Hotel hatte keiner mehr besonders viele detaillierte Erinnerungen. In zehn oder zwanzig Jahren, schätzte Alan, würden sie auch in diesem Hotel alles, wirklich alles, erlebt haben, was es hier zu erleben gab. Worüber würden sie dann lachen? Und in hundert Jahren? Und in hunderttausend Jahren? Alan fragte sich, wie lange ihre Gedächtnisse eigentlich noch mitmachen würden. Irgendwann wird jeder für etwas, das er sich merkt, etwas altes vergessen müssen. Vorne kam was rein, hinten ging etwas raus. Er stellte sich das wie einen langen Realitätsstrom vor, der durch ihre Gehirne floss. Der Abschnitt, der gerade hindurchfloss, also maximal ein Zeitraum von schätzungsweise 200 Jahren, war ihnen einigermaßen bekannt. Alles, was außerhalb dieses Stroms lag, war ihnen vollkommen unbekannt. Wenn er sich jetzt beide Beine brechen würde, würde er auch das irgendwann unwiderruflich vergessen haben.
"Hast du Lust, Karten zu spielen?"
Anna hatte die ganze Zeit schweigend neben ihm gesessen. Sie sah auf den Kartenstapel, den er noch immer in der Hand hielt.
"Nein", sagte Alan knapp. Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, meldete sich Cemica zu Wort.
"Es ist Zeit, was zu essen, denk ich."
Die anderen äußerten sich zustimmend, und so erhob sich auch Alan vom Bett und ging mit ihnen in den Speisesaal.
Der Speisesaal lag im Erdgeschoß, war riesengroß und hatte holzgetäfelte Wände, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren. Auf dem Parkettboden waren in regelmäßigen Abständen rote Teppiche ausgelegt und von der Decke hingen Kronleuchter. Ganz wie es sich für ein Luxushotel gehörte. Alan und seine Freunde waren die einzigen Gäste. Allerdings gab es einen ganzen Haufen Bedienstete, die geschäftig herumliefen. Schon bald kam einer von ihnen an ihren Tisch.
"Darf ich ihre Bestellung entgegennehmen? Das Reh auf Wildpreiselbeeren kann ich heute besonders empfehlen."
Cemica bestellte sich das Reh, die anderen nahmen schlichtere Gerichte.
Anschließend empfahl der Kellner noch einen 73er Bordeaux, den sich alle außer Alan gönnten, der lieber ein Bier nahm. Schließlich hatten sie Vollpension und mussten auch für die ausgefallensten Sachen nichts bezahlen. Als der Kellner sich gerade zum Gehen wandte, hieß ihn Christoph, einen Moment zu warten. Dann stand er seelenruhig auf, und goss ihm seinen Bordeaux in den Kragen. Er blickte grinsend in die Runde.
"Den Bordeaux hab' ich mir nur deshalb bestellt!"
An den Kellner, dessen Hemd mit edelstem Wein getränkt war, gewandt, sagte er:
"Ich hätte dann gerne eine große Cola."
Der Kellner ging, ohne eine Reaktion zu zeigen, fort.
In jeder anderen Situation hätte diese Aktion Entsetzen ausgelöst, doch Christoph und seine Freunde schmunzelten nur. Keiner der Angestellten des Hotels war zu etwas anderem in der Lage als Bestellungen entgegenzunehmen oder andere Hotelarbeiten zu verrichten.
Natürlich hatten sie sich damals alle hilfesuchend an das Personal gewandt und gesagt, sie seien in dem Hotel gefangen. Aber wenn sie überhaupt irgendeine Antwort bekamen, war die alles andere als hilfreich. Mit der Zeit hatten sie erkannt, daß sie wohl die einzigen Menschen in diesem Hotel waren. Es mussten hunderte Angestellte in diesem Hotel arbeiten, alle liefen sie durch das gesamte Hotel, putzten und pflegten es, gingen in jedes Appartement und wechselten die Bettwäsche, arbeiteten in der Küche. Und das, obwohl Alan, Anna, Barth, Christoph und Cemica wirklich die einzigen "Gäste" waren. Die Bediensteten wirkten eher wie Roboter, als wie Menschen und Alan fragte sich, wie lange sie hier wohl schon existierten. Er selber hatte keinen großen Spaß daran, sie mit Getränken zu übergießen, oder ihnen ein Bein zu stellen.Aber vielleicht war das das größte Vergnügen, das sie für lange, für sehr lange Zeit haben würden. Er und seine Freunde gingen davon aus, daß das Personal einfach ein Teil dieses Hotels war und nichts menschliches an sich hatte. Außerdem wußten sie, daß es hoffnungslos wäre, nach dem Wie und Warum zu fragen.
Nach dem - wie üblich sehr gehaltvollen - Essen gingen sie alle in das Gemeinschaftsappartement, um den Tag langsam ausklingen zu lassen. Cemica hatte die angebrochene Weinflasche mit hochgenommen. Alan kostete davon und empfand den Bordeaux als außerordentlich wohlschmeckend und angenehm betäubend. Das war genau das, was er jetzt brauchte, da er sich den Tag einfach zu viele Gedanken gemacht hatte und möglichst bald einschlafen wollte. In der Flasche war nur noch ein kleiner Rest, den er sich genüßlich die Kehle herunterrinnen ließ. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß der Speisesaal bereits geschlossen war, und er deshalb in den Weinkeller müßte, um eine neue Flasche zu holen. Als den ehrenwerten Gästen des Hotels stand ihnen nicht nur der Weinkeller offen, sondern buchstäblich jeder Raum. Was ihnen aber auch nicht weiter half.
"Ich hol mal einen neuen Wein aus dem Keller!", rief er in die Runde. Die anderen nickten müde.
Alan ging nicht sehr gerne alleine im Hotel herum. Besonders nach Einbruch der Dunkelheit meinte er zu spüren, wie die Wände eine ständige Aura der Bedrohung sezernierten. Doch er wußte, daß das Unsinn war, schließlich lebte er schon lange genug in diesem Haus, um zu wissen, daß hier nichts passierte. Aber selbst ohne dieses leichte Grauen, wäre es Alan unangenehm gewesen, durch die langen Flure zu gehen, deren tausende Appartements alle ihnen allein gehörten, denn er haßte dieses Gebäude einfach. Wenn er bloß wüßte, warum sie hier allesamt eingesperrt waren! Er erreichte die Treppe, die in das Erdgeschoß führte und folgte ihr hinab. Er lief durch den dunklen, kühlen Speisesaal, dessen Kronleuchter sich über ihm nur halb und matt aus der Finsternis schälten. Nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, erreichte er die Tür zur Küche. Von der Küche aus führte ein schmale Treppe in den Weinkeller, die er vorsichtig hinunterstieg, denn die Stufen waren sehr schmal. Im Halbdunkel tastete er mit den Händen an den rissigen Wänden entlang, bis er im Weinkeller anlangte und den Lichtschalter betätigte. Einige Glühbirnen gingen an, aber die meisten blieben dunkel und verbreiteten nur Schatten. In der Ferne erkannte er das Weinregal, das, wie er wußte, den Bordeaux enthielt. Beinahe hastig lief er hin und nahm sich gleich zwei Flaschen, schließlich wollte er sich sobald nicht wieder an diesen Ort begeben. Und hätte er einen Schatten auf die Stelle geworfen, an der die Weinflaschen lagen, dann hätte er es nicht kurz aufblitzen sehen. Verwundert blieb er stehen, da hinter den Flaschen normalerweise nur grobes Mauerwerk war. Vorsichtig, als könnte eine Schlange aus dem Dunkel hervorschießen, räumte er einige andere Flaschen aus, bis er dessen sicher war, was er vermutet hatte, aber nicht glauben konnte. Ihm stockte der Atem.
Wie lange waren sie in diesem Hotel herumgeirrt und hatten alles durchsucht? Wie viele Räume hatten sie gezählt und wie viele Flure durchschritten? Wie oft hatten sie tränenblind gegen die Wände geschlagen?
Es war eine Tür. Eine Tür, die all die Jahre hinter diesem Weinregal gewesen war und hinter der ein neuer Raum sein musste.
Alan fiel fast mit der Tür ins Zimmer.
"Leute, das müsst ihr euch ansehen!" rief er außer Atem.
Alle drehten sich zu ihm um und starrten ihn aus großen Augen an.
"Eine neue Tür! Ein neuer Raum!"
Seine Freunde sprangen auf und eine Sekunde später schon rannten sie durch die Flure, Alan an der Spitze. Auf der schmalen Kellertreppe wären sie dann noch fast alle gestürzt. Alan zeigte ihnen die Klinke hinter dem Weinregal.
Christoph war nicht mehr zu halten.
"Lasst uns das Regal wegräumen!"
Aber noch bevor ihm die anderen bei diesem Vorhaben helfen konnten, hatte er das Weinregal einfach umgerissen und die Flaschen auf dem Boden zerschmettert. Niemand trauerte auch nur einem Tropfen des edlen Weins nach. Morgen würde das Regal wieder aufgefüllt sein - nur würden sie dann noch hier sein? Vielleicht war dies der langersehnte Weg in die Freiheit. Christoph zerrte mit aller Kraft an der Tür, aber er bekam sie nicht auf. Auch als Alan ihm zu Hilfe kam, rührte sich die Tür keinen Millimeter.
"Verflucht!", schrie Christoph und trat gegen sie. Barth bot daraufhin an, zu helfen, doch auch zu dritt schafften sie es nicht und zerrten bis ihnen jeder Muskel wie Feuer brannte und der Schweiß ihnen in die Augen lief.
"Vielleicht sollten wir uns einen Rammbock beschaffen. Eines der Regale zum Beispiel.", meinte Anna.
Christoph nickte knapp und erschöpft und winkte Barth und Alan herbei, dass sie ihm helfen sollten, ein geeignetes Regal zu holen.
"Halt."
Es war Cemica, die dies sagte. Sie betrachtete den Türgriff mit einem seltsamen Blick. Dann trat sie vor und legte die Hand darauf. Sie hieß die anderen es ihr gleichzutun. Zögernd legte schließlich auch Christoph seine Hand dazu.
Hätte Alan darüber nachgedacht, hätte er die Situation jetzt sicher für komisch gehalten, doch er war nicht der einzige, der unwillkürlich den Atem anhielt.
Der Türgriff leuchtete auf.
Erschrocken zogen sie alle ihre Hände zurück, Cemica stieß einen leisen Schrei aus.
Nach einigen Sekunden umfasste sie entschlossen den Griff und zog. Die Tür ging widerstandslos auf. Fasziniert und schockiert gleichzeitig starrten die Freunde in einen grellen Lichttunnel.
"Was...", begann Cemica.
"Wo führt der hin?", unterbrach Christoph.
"In die Freiheit.", meinte Barth ruhig, und in seiner Stimme lag eine Gewissheit.
"Woher willst du das wissen?", fragte Alan, der nach einem rationalen Beweis suchte. Doch auch er hatte das sichere Gefühl, dass dieser Tunnel der Ausgang war.
"Sollen wir hindurchgehen?", fragte Anna ängstlich.
"Na klar!", entgegnete Christoph, "oder hast du was besseres vor? In dem Hotel hier auf ewig herumhängen zum Beispiel?"
"Moment", wandte Alan ein, "wer sagt eigentlich, dass wir gehen? Es wäre besser, einer würde vorgehen und die Lage auskundschaften. Erst wenn sicher ist, wohin der Gang führt, folgen die anderen. Und da du es offenbar nicht mehr aushältst, Christoph, solltest du derjenige sein."
Er musste sich selber eingestehen, dass er Angst hatte. Hoffentlich würde Christoph mitspielen, sonst müsste am Ende er selbst in den Tunnel, da er den Vorschlag mit dem einzelnen Kundschafter gemacht hatte.
"Ok. Warum nicht? Ich werde es herausfinden", sagte Christoph jedoch zu Alans unendlicher Erleichterung. Er war schon immer der Heißsporn der Gruppe gewesen und darauf hatte er gesetzt.
Ohne sich noch mit Förmlichkeiten aufzuhalten, ging Christoph in den Tunnel. Den anderen stockte der Atem, als er so plötzlich die Schwelle übertrat und schnell zu einem schwarzen Umriss wurde, dessen Ränder flirrten. Es war kaum möglich, einzuschätzen, wie weit er in den Tunnel hineinlief, er wurde einfach immer kleiner.
Und plötzlich war er weg.
Für einige Sekunden herrschte erschrockenes Schweigen.
"Oh mein Gott, was ist mit ihm passiert?!", schrie Anna.
Cemica schluchzte und Barth war schneeweis.
"Er wird es wohl geschafft haben", sprach Alan mit hohler Stimme die Hoffnung aller aus.
"Vielleicht kommt er zurück, um uns zu sagen, dass es wirklich der Ausgang ist."
"Aber was, wenn er nicht zurückkommen kann?", fragte Anna.
"Dann sollten wir davon ausgehen, dass er in die Freiheit gefunden hat und ihm folgen. Die Alternative wäre, im Hotel zu bleiben."
Barth nickte düster.
Christoph fiel.
Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, was sonst mit ihm passieren sollte, da er keinen Boden unter den Füssen hatte und es vollkommen schwarz um ihn herum war. Dennoch musste von irgendwoher Licht kommen, denn er konnte seinen Körper deutlich erkennen. Entweder war der Raum, in dem er sich befand, unfassbar groß oder seine Wände schluckten alles Licht.
Eines wurde ihm klar: Wenn er fiel, dann würde er den Aufprall bestimmt nicht überleben, es hatte vor einer halben Minute begonnen. Er spürte auch keinen Luftzug.
Bis jetzt. Überrascht registrierte er einen feinen Hauch an seinem Gesicht und auf seinen Handrücken. Die Luft schien aus allen Richtungen zugleich auf ihn einzuströmen und rasch wurde der Hauch zu einem Wind. Es wurde kalt. Eiskalt. Christoph begann mit den Zähnen zu klappern und bekam blaue Lippen. Seine Finger hatte er in die Ärmel zurückgezogen, die im Wind inzwischen flatterten, aber es nutzte nichts. Zuerst begannen sie heftig zu schmerzen, dann spürte er sie nicht mehr. Seinen Zehen erging es ebenso. Christoph versuchte, zu schreien, aber es klang wie ein hohles Stöhnen, das sich mit dem heulenden Eiswind vermischte. Wie mit Rasierklingen begann die Kälte in seinen restlichen Körper zu schneiden. Christoph hatte die Arme eng um seine Brust geschlungen und stellte erschrocken fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Seine Gliedmaßen waren wie tot. Panik stieg in ihm auf, doch konnte sie seinen Körper nicht aus der Starre lösen. Langsam kroch die Eiseskälte auch in seinen Bauch und breitete sich aus wie ein wachsendes Nadelkissen. Seine Gedärme wurden erst taub und dann steinhart. Als ein stechender Schmerz sich in seiner Brust auszudehnen begann, stellte er fest, dass er nicht mehr atmen konnte. Seine Lunge wurde zu einem Sack voller Eisnadeln und ein Schrei wollte aus seiner Kehle dringen, doch blieb er stumm. Für einen Beobachter musste er bereits aussehen wie tot. Er erwartete, dass der Drang nach Luft übermächtig werden würde, wie er es einst im See geworden war, als er sich mit dem Fuß in einem Seil am Grund verfangen hatte.
Die Wasseroberfläche hatte über ihm im Sonnenlicht geschillert, doch hatte er sie nicht einmal mit der Hand erreichen können. Schließlich hatte er in unendlicher Qual gezappelt und sich gewunden. Doch die Augen hatte er erst im Krankenhaus wieder aufgeschlagen.
Das ihm so schrecklich vertraute Gefühl der Atemnot blieb nicht aus. Zuerst erflehte er in Gedanken verzweifelt, er möge es sich nur einbilden und versuchte mit aller Gewalt, seine Lunge wieder in Gang zu bekommen. Vergebens. Er konnte sich keinen Millimeter bewegen. Hätte er es gekonnt, so hätte er sich auch diesesmal wieder gewunden, als die Qual übermächtig wurde, und seine Augen wären aus den Höhlen getreten, wären sie nicht hart wie Kieselsteine im Schädel festgefroren gewesen. Sein Herz hörte auf zu schlagen und erstarrte. Doch Christoph konnte nicht sterben, das wusste er. Es war der...
"...Fluch des Hotels.", sagte Cemica, "Wir können nicht sterben. Also, was haben wir zu befürchten?"
Alan, Barth und Anna hatten keine Gegenargumente. Sie alle hatten Angst, in diesen Lichttunnel zu gehen, auch Cemica. Doch sie war es, die die Aufgabe übernommen hatte, allen Mut zuzusprechen. Natürlich hätten sie den entscheidenden Schritt auch so gemacht. Irgendwann hätten sie es sowieso getan.
So nahmen sie sich alle an den Händen, damit niemand alleine gehen musste.
"Bereit?", fragte Cemica, als sie vor dem Lichttunnel standen.
"Ja", sagten sie wie aus einem Mund und ihre Augen glänzten.