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Das Holz der Zwölfapostelbuche

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28.12.2009
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Das Holz der Zwölfapostelbuche

Das Sägewerk rief freitag morgens bei meinem Bruder in der Werkstatt an. Sie sagten, er könne das Holz sofort abholen, es sei jetzt kammertrocken.
Ich hatte den Sommer über für einen belgischen Architekten schwarz auf dem Bau gearbeitet, Rigipswände und Schutt wegfahren, der Mann schuldete mir noch zweitausend Mark Lohn, war aber nach seinem letzten Projekt in Lüttich untergetaucht. Seitdem lag ich auf Eis und verbrachte meine Zeit mit Backgammon und Gin Tonic.
Mein Bruder hielt mit seinem Kastenwagen direkt vor dem Cafe, in dem ich jeden Tag verkehrte und fragte, ob ich mitkommen wollte, und ich hatte nichts Besseres zu tun.

Das Sägewerk lag mitten im Sauerland, die Fahrt dauerte zwei Stunden. Wir tranken Kaffee aus Thermoskannen, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und hörten Creedence Clearwater Revival.
Und, fragte mein Bruder. Haste schon was Neues?
Noch nicht, bin am gucken, sagte ich, und mein Bruder nickte, aber ich erkannte an seinem Blick, dass er mir nicht glaubte.
Kannst du dich noch an den Turhan erinnern?
An wen?
Der blaue Junge …
Ich sah ihn vor mir stehen, unten auf dem schattigen Vorplatz der Genossenschaftshäuser, klein, schmächtig, die Lippen blass, seine blau angelaufenen Hände ständig am Zittern.
Ach ja, klar. Dem sein Bruder war doch ‘n klasse Boxer, oder?
Du meinst den Erdinc, ja … sechsmal deutscher Meister, hat dem bis heute keiner nachgemacht.
Ist der dann nicht auch Profi geworden?
Profi, das ist nochmal eine andere Sache.
Und? Also, ich meine, was ist jetzt mit dem … Turhan?
Tja, sagt mein Bruder. Der ist letztes Jahr gestorben. Er sieht mich an und hebt die Braue. Dabei haben die doch immer gesagt, der machts nicht mal bis er volljährig ist. Wegen seiner Krankheit.
Und von wem weißt du das?
Hat mir’n Kunde erzählt, letzte Woche erst.
Ach was … und wie alt war der jetzt?
Sowas um die Vierzig, denk ich. Aber kannste mal sehen, die wissen auch nicht alles.
Hatte der Frau und Kinder, Familie?
Weiß ich doch nix drüber, keine Ahnung.
Na, stell dir das mal vor, da erzählen die dir erst, dass du quasi demnächst den Löffel abgibst, und dann … da weißt du nachher ja gar nicht mehr, was du noch glauben sollst.
Irgendwann vergisst du’s wahrscheinlich einfach, sagte mein Bruder.
Bis es dann soweit ist …
Wir schwiegen, rauchten, durchquerten das Sauerland Richtung Brilon.
Da lernst du ‘ne Frau kennen, Kinder, Haus, sagte ich nach einer Weile.
So ist das Leben, oder?
Beschissen ist das.
Der Erdinc, sagte mein Bruder, er lachte und schüttelte den Kopf, der hat mit mir damals seinen ersten Joint geraucht.
Ja?
Unten am EDEKA, an der Treppe bei den Parkplätzen, die lag doch so hintenrum, da konnte uns keiner sehen.
Weiß ich noch, sagte ich. Da ist jetzt ‘n TEDI drin, mein ich.
Ich habe mal zwei Jahre lang im Sauerland gelebt, in einer Kleinstadt, in der es außer zwei großen Fabriken und einem Discounter nur dichten Wald gab. Das ist schon lange her, ich kann mich kaum daran erinnern. Nur dass ich in einer feuchten Bude im Souterrain gewohnt und in einem Baumarkt gearbeitet habe, den der Inhaber dann heiß sanierte.
Was?, fragte mein Bruder.
Nichts.
Ach so, ich dachte, du hast was gesagt.

Wir kamen gegen Mittag beim Sägewerk an. Mein Bruder übernahm das Reden, er ist gut darin, seine Gesten souverän, seine Aussprache klar und bestimmt, er weiß immer, was er sagen soll, wie er es sagen soll, auch heute noch. Das Geschäftliche war rasch erledigt, ein paar Scheine wechselten den Besitzer, dann luden wir das Holz auf den Kastenwagen; lange Bohlen, schwer und griffig, ohne jede Risse.

Auf der Rückfahrt hielten wir nach halber Wegstrecke bei einer Raststätte, parkten vor dem pavillon-artigen Gebäude mit Glasdach und vertraten uns erstmal die Beine auf einem Grünstreifen.
Hunger?
Nee, ich muss nix essen.
Mein Bruder lachte. Komm schon, geht auf mich.

Wir setzten uns an einen großen Tisch weiter hinten, blickten aus dem Fenster auf die Fahrzeuge. Mein Bruder bestellte Kartoffelsalat mit Frankfurter Würstchen und Diätcola. Wir teilten uns die letzte Tüte Senf.
Hast du hier in der Nähe nicht mal gewohnt?
Ich nickte. Schon zwanzig Jahre her.
Bisse den Baumarkt abgefackelt haben …
Ist jedenfalls das, was sie gesagt haben.
Nee, du hast doch sogar erzählt, dass sie den Typen damals extra in seinem Ferienhaus in Holland festgenommen haben, wegen Verdunkelungsgefahr.
Ja?
Weißt du das nicht mehr?
Wie gesagt, schon was länger her.
Mein Bruder schüttelte den Kopf.

Wir kamen am späten Nachmittag auf dem Hof der Werkstatt an und luden das Holz vom Kastenwagen in die dunkle Vorhalle.
Legen wir hier auf die Böcke, sagte mein Bruder und machte Licht.
Was willste da eigentlich draus machen?
Tafeltisch, ganz klassisch.
Und für wen machste den?
Ist kein Kundenauftrag.
Für dich selbst?
Mein Bruder nickte.
So ‘n Riesending?
Für zwölf Personen.
Zwölf?
Zwölf Aposteln Buche, sagte er und strich über die Hirnholzkanten. Dann standen wir schweigend in der Werkstatt, in der es nach Sägespänen und Teeröl roch, bis mein Bruder mich fragte, was ich noch vorhabe.
Nichts, antwortete ich, und das war die Wahrheit.
Könnten grillen, sagte er und trat aus der Werkstatt ins Freie. Wetter hält ja.
Holen wir paar Bier beim PM.
Nee, ich hab noch welches …

Mein Bruder verteilte Grillanzünder über den Kohlen.
Was hasten da?, fragte ich und zeigte auf den Teller.
Rumpsteaks …
Und was essen wir dazu?
Glaub, da is noch Krautsalat im Kühlschrank.
Ach nee, scheiß was drauf, dann nur Fleisch.
Wir lachten. Ich holte zwei Flaschen Bier aus dem Coleman und öffnete sie mit dem Zollstock meines Bruders.
Hab lange nicht mehr gegrillt, sagte er und setzte sich auf den Anglerstuhl neben mir. Aber hat ja auch keiner mehr Zeit, oder?
Ja, sagte ich. Ich, ich hab Zeit.
Er nahm einen Schluck Bier. Wie viel schuldet dir dieser Belgier nochmal?
Knapp zweitausend.
Zweitausend?
Ich nickte.
Ist ‘ne Menge Kohle.
Tja, da werd ich nix von sehen, der Typ ist weg, untergetaucht. Hätte ich ahnen können. Einer von den Albanern von der Baustelle hat erzählt, dass der wohl immer ‘ne Knarre in seiner Aktentasche mit sich rumträgt.
Dann weißer Bescheid, würd ich sagen.
Auf jeden Fall richtiger Drecksack.

Das Fleisch war gut. Wir nahmen es vom Grill, ließen es auf einem Servierbrett abkühlen, schnitten es dann in schmale Streifen, aßen es mit den Fingern.
Fressen hier wie die Schweine, sagte mein Bruder und wischte sich die Hände an der Arbeitshose ab.
Egal, guckt doch keiner zu.
Ich drehte mir eine Zigarette und reichte Blättchen und Tabak an meinen Bruder weiter.
Kannst mir helfen, wenn du willst, sagte er dann. Bei dem Tisch, mein ich. Also nich für Umme, klar, ich zahl schon was.
Weiß nicht, ob das so ne gute Idee ist …
Mein Bruder rieb sich ein paar Tabakkrümel von der Oberlippe. Solange du machst, was ich sage.
Wir lachten, sahen der Kohle beim Verglühen zu, rauchten unsere Zigaretten.
Hast mich nie mitgenommen, sagte ich nach einer Weile.
Was meinst du?
Da, auf den Parkplatz beim EDEKA.
Ja?
Ja. Nie.
Er nickte und lächelte. Willste noch ‘n Bier?
Ich schaute auf die halbvolle Flasche in meiner Hand und versuchte mir Turhan vorzustellen, wie er mit seiner Familie am Tisch sitzt, seine Frau, seine Kinder, doch es gelang mir nicht. Ich konnte mich nicht mal mehr an sein Gesicht erinnern, da waren nur seine Hände, die schmalen, bläulich verfärbten Finger, die Finger eines Kindes.
Ja, sagte ich dann. Ich nehm noch ‘n Bier, klar.

 

Hey @jimmysalaryman ,

schön mal wieder was von dir zu lesen. Nach dem Lesen fühle ich da so eine gewisse Ruhe, schon auch die übliche Freude über feine, sensorische Beschreibungen (das Fleisch mit den Händen essen z. B.). Der Text spricht bei mir so eine Ordnung an, ich finde ihn auch in seiner Sprache inspirierend, ja, hat Spaß gemacht, mir gut gefallen. Danke dir dafür!

So cherry-on-top wäre für mich noch gewesen, wenn es so zwischen den Zeilen noch etwas mehr gekracht hätte. Wenn ich mir die Perspektive deiner Figuren visualisiere, sehe ich da so eine Leere und auch ‚Öde‘. Es wird über den alten Supermarkt gesprochen, der heute ein Krimskramsladen ist, irgendwer, den man flüchtig kannte, ist gestorben, irgendwo ist sicher auch ein Sack Mörtel/Sägespähne umgefallen. Der Protagonist sitzt auf dem Trockenen, wartet, harrt aus. Das ist für mich so der Kern der Story, das Ausharren. Um nochmal an meinen Cherry-on-top-Wunsch anzuknüpfen: Vielleicht wäre es gut, da im Gespräch noch ein paar größere Kaliber (bzw. eindringlichere, vielleicht verstörende Bilder) abzufeuern. Zum Beispiel nochmal, ohne zu effektheischend zu sein, den Tod des blauen Mannes etwas ausschlachten. Was denkst du?

Seitdem lag ich auf Eis und verbrachte meine Zeit mit Backgammon und Gin Tonic.

So ein Hemmingway-Move haha

Und, fragte mein Bruder. Haste schon was Neues?
Noch nicht, bin am gucken, sagte ich, und mein Bruder nickte, aber ich erkannte an seinem Blick, dass er mir nicht glaubte.

Dachte ich beim Lesen, das könne man streichen, weil dann der blaue Junge direkt zur Sprache kommt, aber dann gings ja nicht sooo sehr um ihn.

Er sieht mich an und hebt die Braue.

Fand ich interessant, dass du hier in so ein historisches Präsens wechselst. Dieser kleine Satz beeinflusst die Erzählsituation massiv, denke ich.

Wie immer sehr gern gelesen.
Beste Grüße
Carlo

 

Hey @jimmysalaryman
Die Zwölfapostelbuche setzt den Zeitrahmen für diese Geschichte. Der erste Satz hat mich im Laufe der Geschichte ein wenig irritert. Er klingt mir so, als ob die Brüder ein gutes und inniges Verhälnis zueinander haben. Aber das ist ja offensichtlich nicht so. Dann kommt der blaue Junge, aber auch der ist eher eine Randfigur für zielloses Gerede - wie man halt so miteinander spricht, wenn man sich eigentlich nichts zu sagen hat. Dabei sind es doch sehr unterschiedliche Brüder. Der eine will einen großen Esstisch bauen und wartet auf das richtige Holz.

Und für wen machste den?
Ist kein Kundenauftrag.
Un der kleine ? Bruder ist schon zufrieden, wenn er seinen Gin Tonic hat.
Hast mich nie mitgenommen, sagte ich nach einer Weile.
Das wurmt ihn, etwas verpasst zu haben. Dass er keinen Job hat, scheint ihn dagegen gar nicht zu stören. Wird sich schon was finden, wenns sein muss.

Eine sehr realistische Geschichte. Hat mir gut gefallen.

Grüße

jobär

 

Hallo @jimmysalaryman,

man kann zwei Brüdern beim Holz abholen und grillen zugucken, wenn man will, aber allein schon wegen des Titels schreit das Ding natürlich nach Interpretation. Ich versuch mich mal dran.

Für mich ist es erstens die Geschichte eines (mutmaßlich älteren) Bruders, der ein bisschen fester im Leben steht als der andere („Mein Bruder übernahm das Reden, er ist gut darin, seine Gesten souverän, seine Aussprache klar und bestimmt, er weiß immer, was er sagen soll, wie er es sagen soll, auch heute noch.“) und sich wahrscheinlich auch immer schon ein bisschen um den anderen gekümmert hat, ihn symbolisch hier sogar füttert („Komm schon, geht auf mich.“); und, nicht ganz so dick, ihm einen Job anbietet („Also nich für Umme, klar, ich zahl schon was.“). Und zum Kiffen hat er ihn früher nicht mitgenommen. Also so die Art Fürsorge, die man erst zehn, zwanzig Jahre später versteht.

Der andere Bruder, der Ich-Erzähler, da ist schnell klar, der hat immer irgendwie Pech, tut vielleicht auch selbst gelegentlich was dazu, hat mal hier gewohnt, dann da gewohnt, dann hat er Arbeit und gerät natürlich an so Figuren, da muss man ja schon in gewisse Wasser vorgedrungen sein, um überhaupt in Kontakt zu geraten. Der Belgier mit seinen zweitausend Euro und auch früher schon, der Versicherungsbetrüger.

Das kann zu Rivalität und Minderwerigkeitskomplexen führen, aber der – weil du das Alter weglässt, nenne ich ihn mal souveränere – Bruder holt sich auf seinen Status keinen runter, ist Kümmerer und kein Boss, und weil der andere das merkt, stimmt das Verhältnis („Solange du machst, was ich sage. Wir lachten, sahen der Kohle beim Verglühen zu, rauchten unsere Zigaretten.“).

Zweitens geht es natürlich um Vergänglichkeit. Diese Jahre, wenn man die ersten Male sagt „Der und der ist tot“, und es geht um einen Gleichaltrigen. Heißt ja übersetzt immer: Früher oder später trifft es jeden. Also wirklich jeden. Ich hab die Zwölf-Apostel-Buchen gegoogelt, und keine Ahnung, ob du die meinst, die ich gefunden habe (waren die obersten Treffer), aber da stand was von unsere Wege sind alle unterschiedlich, nur das Ziel ist für jeden gleich.

Na ja. Und jetzt lehn ich mich etwas weit aus dem Fenster, aber Jesus hat ja nun mal vor seinem Tod mit allen noch mal am Tisch gesessen. Mit seinen Brüdern, um die er sich gekümmert hat. Und hier ist so eine Stelle drin, da scheint mit der Souveränere was anzukündigen. Mit Bezug darauf, wie lange der Turhan gegen alle Diagnosen noch gelebt hat, sagt er: „Aber kannste mal sehen, die wissen auch nicht alles.“ Das klingt für mich, als wäre er neulich selbst beim Arzt gewesen.

Ach so, und wenn ich noch hinzufüge, dass das Ganze damit quasi zur Ostergeschichte wird, falle ich aus dem Fenster raus.

„Hab lange nicht mehr gegrillt, sagte er und setzte sich auf den Anglerstuhl neben mir. Aber hat ja auch keiner mehr Zeit, oder?“ Auch so eine typische Beobachtung der zweiten Lebenshälfte. Ein Mal im Jahr, das soll jetzt reichen, bis sie einen von uns verscharren oder einäschern? Wenn die eigene Beerdigung absehbar wird, kommt da natürlich noch mal ein ganz anderer Druck rein.

Jo. Bin da jetzt mal rangegangen, als würd ich eine Deutschklausur drüber schreiben, aber steht ja nirgends, dass das verboten ist. Hat Spaß gemacht.

Viele Grüße
JC

 

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