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Das Hochzeitsspiel
Das Hochzeitsspiel (Zum 3. Mal überarbeitet)
Das Spiel war einfach: Auf der Tanzfläche wurde eine lange Schnur, an der Luftballons gebunden waren, gespannt gehalten. Ihr und ihrem Bräutigam wurden die Augen verbunden, so daß sie nichts mehr sahen. Dann bekamen sie jeweils eine brennende Zigarette in den Mund gesteckt und wurden durch Zurufe zu den Luftballons dirigiert. Nun mußten sie - ohne Zuhilfenahme der Hände - die Ballons zum Platzen bringen.
Sie erschrak jedesmal, wenn ein Luftballon direkt vor ihrer Nase mit einem lautem Knall platzte. Sie wußte, daß in der Mitte der Schnur, die von zwei Kollegen ihres Mannes gespannt wurde - sie erkannte sie an ihren Stimmen - mehrere sehr große Ballons hängen mußten. Sie hatte die Größe mit dem Kopf erspürt, fürchtete sich aber, diese mit der Zigarette zum Platzen zu bringen. Sie hoffte, daß Tom, ihr Mann, es tun würde.
So hielt sie sich immer möglichst am Rand der Spielfläche, ignorierend, daß die Zuschauer sie immer in die Mitte zu den Riesenballons lotsen wollten.
Es war wirklich der glücklichste Tag in ihrem Leben. Als wäre sie vorherbestellt worden, schien nach zwei Wochen Regen die Sonne. Die Luft war mild, weder zu heiß noch zu kalt.
Die Trauung war genauso, wie sie es sich schon immer erträumt hatte: Der Pfarrer hatte eine ergreifende Rede gehalten, die Frauen hatten gerührt in ihre Taschentücher geschluchzt.
Ihr schönstes Geschenk hatten sie von ihrem Großvater erhalten: Einen Scheck über genau den Betrag, der ihnen noch fehlte, um ihr Traumhaus anzahlen zu können. Obwohl - vielleicht war das ihr schönstes Geschenk: Ihre Mutter zu sehen, die mit ihrem Vater tuschelte und kicherte, nachdem die beiden seit fünf Jahren getrennt waren und seitdem kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten.
Auch Klaus war anwesend und überraschend nett und friedlich. Er war ein Kollege ihres Mannes in dem Metallverarbeitungsbetrieb, in dem Tom seit einem Jahr arbeitete. Sie hatten ausdrücklich alle Kollegen eingeladen, auch wenn Klaus ihr Ex-Freund war und die Beziehung nicht gerade friedlich auseinanderging. Doch anscheinend hatte er ihr inzwischen verziehen. Jedenfalls schien er sich köstlich zu amüsieren und grinste ihr den ganzen Tag zu.
Mit einem Ruck wurde sie wieder in die Gegenwart gerissen: Tom war gegen sie gestolpert. Die Rufe der Zuschauer, die Ballons in der Mitte der Schnur platzen zu lassen, wurden jetzt lauter. Tom schien sich in diese Richtung zu entfernen. Sie selbst machte nur zögernde Schritte, trödelte absichtlich, in der Hoffnung, daß Tom in der Zwischenzeit diese Aufgabe schon erledigt hätte.
Plötzlich gab es eine ohrenbetäubende Detonation. Von einer Druckwelle erfaßt, wurde sie zu Boden geschleudert. Sie riß sich das Tuch von den Augen und erfaßte sofort das Geschehen: Tom hatte einen der Riesenballons mit der Zigarette erwischt. Dieser war wohl mit Gas gefüllt gewesen und explodiert. Tom lag ohnmächtig auf dem Boden. Er sah so friedlich aus, als würde er schlafen. Im Saal brach ein heilloser Tumult aus. Frauen schrien, Kinder weinten. Zwei von Toms Kollegen kümmerten sich sofort um den Bewußtlosen. Einer der beiden rief ihr zu, sie solle die Rettung anrufen.
Sie rappelte sich vom Boden auf, stolperte kurz über ihre Röcke und rannte dann, diese raffend, in die Küche, die hinter der Theke lag. Dort stand das Telefon.
Als sie abhob, wollte ihr nicht sofort die Nummer des Notrufes einfallen und so stand sie einen Moment da und drückte den Hörer ans Ohr. Kein Freizeichen. Sie drückte auf die Gabel, rüttelte am Apparat, doch es ertönte noch immer nichts.
Sie rannte zurück in den Saal, um irgend jemand mit einem Handy zu bitten, von diesem aus die Rettung zu alarmieren.
Der Saal war leer.
Und still.
Sie dachte sich, daß sie wohl doch länger in der Küche gewesen war und die Sanitäter inzwischen wohl schon da gewesen waren. Die anderen waren wohl hinaus gegangen um den Abtransport von Tom mitzuverfolgen.
Sie stürmte hinaus in die laue Nachtluft.
Sie war allein.
Wo vorher noch der Hof voll war von geparkten Autos, war nun nichts mehr zu sehen. Eilig rannte sie zum nächsten Haus und klingelte. Einer der Anwohner hatte bestimmt den Tumult bemerkt und würde sie ins Krankenhaus bringen, den Gästen und ihrem Mann hinterher.
Niemand öffnete.
Und auch im Nebenhaus nicht.
Und auch nicht im Haus zwei Straßen weiter.
Das Dorf war leer und tot.
Erschöpft taumelte sie zum Saal zurück. Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte, was passiert war.
Als sie den Saal betrat, fing sie an zu schreien.
Der Saal war leer.
Keine Gäste. Keine Tische. Keine Stühle. Keine Blumen. Keine Luftballons. Nur Boden und Wände.
Schwester Barbara tat die junge Frau im Bett vor ihr leid. Die entsetzlichen Verbrennungen würden die Ärzte im Laufe der Jahre durch plastische Chirurgie mildern können, doch gestern hatte man festgestellt, daß die Frau vom Hals abwärts gelähmt bleiben würde.
Zwei Wochen, seit ihrer Einlieferung, wurde sie nun schon im künstlichen Koma gehalten. Schmerzen konnte sie nicht haben, dafür waren die Dosen Schmerzmittel zu hoch, doch schien sie jede Nacht schlimme Träume zu erleiden, dann stöhnte und schrie sie manchmal sogar. Seltsamerweise immer um die selbe Uhrzeit.
"Wie ist es eigentlich passiert?" fragte die neue Schwesternschülerin leise, wie um die Verletzte nicht zu wecken. "Sie untersuchen den Unfall immer noch", antwortete Schwester Barbara. "Wahrscheinlich waren Luftballons aus einer falschen Gasflasche befüllt worden. Statt Helium war Acetylen, das man zum Schweißen benutzt, darin. Dies führte dann zu der furchtbaren Explosion. Stell Dir das vor: Das ganze Gasthaus ist in die Luft geflogen! Es sah aus wie nach einem Bombenangriff. Man hat sie nach zwei Stunden aus den Trümmern gezogen. Sie war trotz der Verbrennungen noch bei Bewußtsein und hat immer wieder gemurmelt "Es ist niemand da".
Keiner außer ihr hat überlebt.
Sie war die Braut."