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- 19.06.2001
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Das Heulen der Wölfe
DAS HEULEN DER WÖLFE
Wie sich laut polizeilicher Ermittlungen herausstellte, war der linke Vorderreifen an Carl Bakers Ford Taunus geplatzt. Eine Tankstelle in der Nähe versprach schnelle Rettung in der sengenden Hitze der Mittagssonne, demzufolge, das konnte man an Reifenspuren gut nachvollziehen, rollte er den Wagen mit Hilfe seiner beiden Söhne zu 'Chypies Raststätte', billiges Lokal und Tankstelle gleichermaßen. Norman und Jason Baker, beide zwölf Jahre alt und mit einem erstaunlichen IQ gesegnet, starben zusammen mit ihrem Vater in einer grausamen Feuerhölle. Es war wohl Pech, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren: Der Tanklaster, den ein magersüchtiger Mann namens Andrew Floyd steuerte, raste unkontrolliert in die Raststätte. Der Krankenakte zufolge ging Floyd bei den Anonymen Alkoholikern ein- und aus, hatte allerdings eine erstaunliche Rückfallquote von fünfundneunzig Prozent, und neigte zu sporadisch auftretenden Sekundenschlaf. Eine wirkliche Chance gab es für niemanden im Umkreis von einhundert Metern. Feuer, Gas und Benzin ergaben eine tödliche Mischung. Eine Woche lang berichteten einzelne Fernsehsender von dem Unglück. Die lokale Presse brachte es immerhin auf vier Tage mehr, bevor ein schwerreicher Viehbaron sich dabei ertappen ließ, wie er seinem mit mehreren Preisen überhäuften Zuchtbullen einen chromverzierten Baseballschläger in den stinkenden Arsch schob. Diese Vorkommnisse lagen mittlerweile vier Jahre zurück. Und für Sheila Baker waren sie im Moment nicht wirklich wichtig.
Nach dem Tankstelleninferno war sie in ein tiefes Loch gefallen, hatte alles um sich herum vernachlässigt, vor allem sich selbst, jedem nur allzu verständlich. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis sie wieder fähig war, sozialen Kontakt aufzubauen. Schnell fand sie auch wieder in ihren alten Job zurück. Ihr Arbeitgeber, eine fette Schwuchtel mit Hang zu Kindern, hatte sich als freundlicher Kerl entpuppt und die Stelle im Schönheitssaloon für sie freigehalten. Trotz der grauen Strähnen im Haar war Sheila mit ihren vierundreißig Jahren immer noch attraktiv, vielleicht sogar schöner als jemals zuvor. Alles lief gut, sie war für das normale Leben wieder bereit. Drei Jahre währte ihr bescheidenes Glück. Das Schicksal jedoch meinte es nicht gut mit ihr und vereinte Boshaftigkeit mit Zynismus: Sheila Baker wurde das Opfer einer Entführung.
Die Lichtung war vielleicht einhundert Meter lang und dreißig Meter breit. Das Licht des Vollmondes tauchte das Gras in ein schimmerndes Grau. In den bedrohlich wirkenden Kastanienbäumen am Rande der Lichtung hockten nachtaktive Vögel, die merkwürdige Geräusche von sich gaben. Es klang so, als ob eine Großfamilie sich darüber entzweite, wer als letzter ein Wort sprechen durfte.
Kaum, dass sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, verspürte Sheila einen beißenden Geruch und um sie herum wurde alles dunkel. Sie wachte im Kofferraum eines Autos wieder auf, hörte ein fröhliches Pfeifen, erbrach sich und schlief wieder ein. Glück, redete sie sich ein, als sie sich nackt und gefesselt auf der Lichtung wiederfand.
Einige Meter entfernt vollführte ein dicker Mann einen bizarren Tanz. Er war ebenfalls nackt, nur sein Gesicht war mit einer Maske bedeckt. Ein Zorro für Übergewichtige, wie Sheila feststellte. Der Mann lief drei Schritte, warf sich ins Gras, rollte hin und her, stand wieder auf und wiederholte das Ganze. Jedes Mal, wenn er im Gras lag, streckte er die Arme nach oben und brüllte: "Oh Herr! Oh Herr!" Hinter ihr, tief im Wald, hörte Sheila das Heulen von Wölfen. Sie war sich sicher, dass der Mann sie geschändet hatte, als sie schlief. Gewissheit bekam sie, als sie etwas vom Baumstamm wegrückte, und ein stechender Schmerz wilde Kapriolen in ihrem Unterleib schlug. Sie war froh, dabei bewußtlos gewesen zu sein. Die dünnen Drähte um ihre Handgelenke schnitten bei jeder Bewegung tiefer ins Fleisch. 'Das ist es! Das ist es also! Vier Jahre hast du gelitten, hast dich erniedrigt, Heile Welt vor den anderen zu spielen...' Sheila hustete, kleine Bäche aus Blut liefen am Kinn hinab. 'Und nun das!' Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war, und warum er ausgerechnet sie entführt hatte. Sheila lehnte am Baumstamm und sah nach oben. Eigentlich hatte sie Vollmond immer gemocht, oft waren Carl und sie Arm in Arm eingeschlafen, nach einer gesunden Portion Sex unter freiem Nachthimmel, draußen auf der Veranda. In Sheilas Kopf kreuzten sich Gedanken, wobei sich einige mehr und mehr herauskristallisierten: Vor vielen Jahren war einmal ein Sheriff in der Schule gewesen und hatte Verhaltensregeln erklärt. Die Kinder wußten nicht, wozu er das tat, sie lebten das Leben behüteter Vorstadtkinder. "Sagt laut euren Namen!", hatte der Sheriff ihnen gesagt. "Sagt die Namen eurer Eltern!", hatte der Sheriff ihnen gesagt. "Sagt, dass ihr Angst habt!", hatte der Sheriff ihnen gesagt. Ob sie in der Lage dazu war, wußte sie nicht, aber einen Versuch war es wert. Sheila richtete ihren Blick auf den Mann, der wir ein Irrer ("Es handelt sich zweifellos um einen Irren, Sheila!") über die Wiese lief. Sie holte tief Luft und rief, so gut wie sie es konnte, klar und deutlich: "Mein Name ist Sheila Baker..." Der Mann blieb stehen und drehte sich zu ihr um. "Ich... Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen..." Es kam ihr vor, als ob Zorro einen winzigen Moment lang mit der Umgebung eins wurde... Der Mann kam langsam auf sie zu. "Hören Sie, ich... Ich habe..."
"Nein!", brüllte der Mann und setzte sich. Fünf Meter trennten ihn und Sheila. "Nein!" Er schüttelte den Kopf. "Nein!", wiederholte er. "Nichts mehr sagen!" Er deutete nach oben. "Heute Nacht geschieht es, wieder einmal, und trotzdem so selten..." Der Mann fuhr sich mit der Hand über den Mund. "Lass es einfach passieren!" Langsam stand er wieder auf und breitete seine Arme auseinander. "Heute Nacht, Lindsay, wird dir etwas widerfahren, was du dir schon immer gewünscht hast!"
Erst jetzt fiel Sheila die starke Brustbehaarung des Mannes auf. Überhaupt schien er über und über mit Haaren bedeckt zu sein. "Mein Name ist Sheila...", flüsterte sie schwach und zwang sich, nicht mehr auf den gewaltigen Penis zu starren. ("Mein Gott! Selbst da sind Haare! Bei Gott, selbst da!") Und dann hörte sie wieder die Wöfe, deren markerschütterndes Geheul nun deutlich näher war.
Der Mann zuckte zusammen und ging in die Knie. Angestrengt sah er an Sheila vorbei in den Wald hinein. "Was? Was sagtest du?" Seine Unterlippe begann zu zittern. "Bist du nicht Lindsay King?"
Sheila schüttelte schwach den Kopf. "Nein, das bin ich nicht..."
Wie von einer Tarantel gestochen sprang der Mann auf und begann wild zu kreischen. Sekundenlang trampelte er herum, fuchtelte dabei mit den Armen und stieß grelle Schreie aus. Dann riss er sich die Maske vom Gesicht und drehte sich schwer atmend zu Sheila am. "Dein Name ist nicht Lindsay King aus Washington? Cherrymoon vom Forum? Blue Channel Second Chance?"
Sie sah in dunkle, kalte Augen. Irgendein Wurm kroch über ihren linken Fuß. Es kitzelte, fühlte sich gleichzeitig auch unangenehm an. 'Was wird das hier?', dachte Sheila. 'Ein billiger Scherz?' Ihr Körper war eine einzige große Schmerzzone. Ihre Finger spürte sie kaum noch, und Sheila war sich sicher, dass ihre beiden Hände längst hinter dem Baumstamm auf dem Boden lagen, und somit eine äußerst willkommende Nahrungsquelle für Waldbewohner verschiedenster Größenordnungen darstellten. Kurz zog sie die Arme etwas zur Seite. Gleich würden die blutenden Armstümpfe aus den Drahtfesseln flutschen und... Eine Supernova des Schmerzens explodierte in ihrem Kopf. Die Drähnte hatten sich noch tiefer ins Fleisch gegraben. Seltsamerweise kam kein Laut über Sheilas Lippen, obwohl ein Schrei von ihr sogar auf irgendeinem Messgerät irgendeiner wissenschaftlichen Expedition auf dem Südpol registriert worden wäre.
Der Mann näherte sich der Frau, die er an den Baumstamm gefesselt hatte. Zuvor hatte er sich mehrmals an ihr vergangen, als sie bewußtlos war. Aber das war alles vereinbart gewesen... Zumindest mit Lindsay King... Er kniete sich hin und berührte die Frau an der Schulter. "Du bist nicht Lindsay King?", fragte er abermals nach. Er mußte sich einfach sicher sein. Die Frau gab ein leises, wimmerndes Nein von sich. Erschrocken wich der Mann zurück. "Aber... Aber das ist unmöglich! Du mußt es sein! Du mußt es einfach sein! Sidewinter 594! Washington!"
Sheila schloss die Augen. 'Leck mich doch einfach am Arsch, Sackgesicht!' Etwas stach sie am linken Ellenbogen, vermutlich ein Insekt. "Nein, Sir! Bin ich aber nicht!" Sie versuchte zu lächeln, was ihr jedoch nicht gelang. "Sidewinter 594 ist das Haus gegenüber von meinem..." Sheila verfluchte alle Götter, die es im Universum gab. 'Das Arschloch hat sich gottverdammt nochmal in der Adresse geirrt!'
"Dann..." Zorro runzelte die Stirn und wischte sich wieder über den Mund. "Dann ist das alles ein einziges großes Mißverständniss." Sein Blick verriet Mitleid. Suizid-Foren gab es im Internet wie Sand am Meer. Und manche waren sehr speziell, die man erst über Umwege erreichte, so, wie man zum perfekten Strand erst nach einer strapaziösen Odyssee quer um die halbe Welt gelangte. Lindsay King wollte sterben. Auf eine ungewöhnliche Weise. Er hatte es ihr bieten können. Alles war so gelaufen, wie sie es vertraglich ausgehandelt hatten. Und nun das: Die geschundene Frau vor ihm war nicht Lindsay King, sondern... "Sheila? Sheila... Laker? Baker?" Sein Blick verwandelte sich von Mitleid in Panik. "Oh Gott! Es tut mir so Leid!" Er stand auf und ging taumelnd einige Schritte zurück.
Sheila hustete und spuckte Blut aus. Als Zorro sie wieder nach dieser Lindsay King gefragt hatte, da gab es ein Klicken in ihrem Kopf. Vergessen waren die Schmerzen. "Was... Was nun?", fragte sie, und es klang beinahe belustigend. Irgendwie war ihr klar, dass sie unter einem wunderschönen Vollmond sterben würde. Der Mann ballte seine Hände zu Fäusten. 'Oh... Erwürgen wird er mich...' Doch er rannte davon. "He!", rief ihm Sheila hinterher. "He!" Schnell war der Mann von der Lichtung verschwunden. "Du blödes Arschloch kannst mich doch nicht einfach hier zurücklassen!" Sheile schrie sich die Seele aus dem Leib, ihre ganze Wut der letzten Jahre kam aus ihr heraus. Aus ihrer Sicht war die ganze Angelegenheit mehr als bizarr. Ein paar Minuten saß sie stumm da, lauschte, und hoffte, dass der irre Mann zu ihr zurückkehrte, um sie zu befreien. Oder zu töten. "Das ist doch alles..." Hinter ihr brachen Äste im Dickicht, kam ein unheimliches Schnaufen näher. Sheila brach in hysterisches Gelächter aus, als vier Wölfe an ihr vorbeitrotteten, sich einige Meter vor ihr aufstellen und sie stumm ansahen. Ihre Augen funkelten wie Sterne. Dann verdeckte plötzlich eine einzelne Wolke den Mond, und kurz wurde die Lichtung in einen bedrohlichen Schatten getaucht. Bruchteile von Sekunden später spürte Sheila, wie sich spitze Zähne in ihren Hals gruben. Beißender Gestank trieb ihr Tränen in die Augen. Es waren auch Tränen der Verzweiflung mit dabei. Auch Tränen der Wut. Und Tränen der Trauer. Für eine lange Zeit wurde es dunkel um sie herum.
Einer der Wölfe zerbiss die Drahtfesseln und lief in den Wald zurück. Die anderen drei packten mit ihren Zähnen vorsichtig den bewegungslosen Körper der Frau und verschwanden ebenfalls in die schützende Dunkelheit des Waldes. Nichts war mehr zu hören, eine merkwürdige Stille legte sich über die Lichtung. Erst, als der Vollmond endgültig von plötzlich aufkommenden Wolken verdunkelt wurde, regte sich wieder Leben. Vögel, in ihrer Nachtruhe gestört, zwitscherten aufgeregt, und der Wald selbst schien gequält zu stöhnen.
Nach Sheila Baker wurde eine Zeit lang intensiv gesucht, schließlich war sie den Medien keine Unbekannte. Einen Zusammenhang mit Lindsay King, die, drei Tage nach Verschwinden ihrer Nachbarin, im Keller unter Zuhilfenahme eines starken Seils dem eigenen Leben ein Ende setzte, gab es nicht. Das ergaben polizeiliche Untersuchungen. Nach einigen Wochen schließlich wurde Sheila Bakers Akte zu anderen in eine große Schublade getan. Manche Menschen verschwanden und tauchten nach einer Weile wieder auf. Manche Menschen verschwanden jedoch für immer.
***
"Du warst lange weg", sagte Francis Truman und gab ihrem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
"Was machen die Kinder?" Chester sah zur Funkuhr, die auf dem Kühlschrank stand. "Sie schlafen?"
"Ja."
"Gut." Zufrieden lächelte er und gab seiner Frau einen sanften Klaps auf den Hintern. "Ich habe Hunger."
Francis nickte und zeigte zur Mikrowelle. "Stufe Eins." Sie legte ihren Kopf etwas quer. "In den letzten Wochen kommst du oft spät nach Hause."
Chester nickte. "Viel zu tun..." Damit hatte es sich für ihn. "Ich werde noch ein bißchen fernsehen beim Essen."
Es war acht Minuten nach Mitternacht. "Schläfst du wieder auf der Couch?" Dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmte, war Francis klar. Nur was, das konnte sie nicht genau bestimmen. Oder wollte sie es auch nicht? "Gute Nacht, Chester." Früher waren sie eine normale Familie gewesen. Die Zeiten waren längst vorbei. "Du mußt nicht auf der Couch schlafen." Sie liebte ihn noch immer, obwohl er sich so verändert hatte. Es war nicht die Tatsache, dass er sein Gewicht innerhalb von vier Jahren nahezu verdoppelt hatte, daran lag es nicht. Auch nicht an seinem Haarwuchs, der an manchen Stellen unnatürliche Ausmaße angenommen hatte. Chester zeigte keinerlei Gefühle mehr für sie. Ein kurzer Klaps auf ihren immer noch wohlgeformten Hintern... Das war alles. Das nagte an ihr.
"Schlaf gut", brummte er und machte sich an der Mikrowelle zu schaffen.
"Ja, du auch..." Enttäuscht verließ Francis die Küche und ging nach oben ins Schlafzimmer.
Er sah sich irgendeine Wiederholung irgendeines Basketballspiels an. Es interessierte Chester nicht wirklich. In seiner Hosentasche spürte er die Maske. 'Junge, das war ganz schön unvorsichtig! Was, wenn jemand die Frau findet? Was, wenn sie sich befreien konnte? Was, wenn...' Er schob den Teller angewidert weg. Nicht einen einzigen Bissen hatte er getätigt. Die Makkaroni dampften noch, bald würden sie kalt und klebrig sein. Hatte er sich dermaßen geirrt? Chester legte sich auf die Couch, presste ein Kissen gegen sein Gesicht und versuchte einzuschlafen. Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Bilder von Jamie und Curtis, wie er mit ihnen am Strand des Meeres Volleyball spielte. Sie waren zwei tolle Kinder, zwölf und fünf Jahre alt, sehr aufmerksam und wunderschön, wie Väter ihre eigenen Kinder nun einmal empfanden. Er sah Bilder von sich und Francis, wie er sie begehrte, sie glücklich machte. Verflossene Momente einer nach außen hin funktionierenden Familie. Seit er die Seiten im Netz entdeckt hatte, war es um ihn geschehen. Vor vier Jahren hatte er eine verbotene Frucht gekostet und sich nicht mehr vom Geschmack lösen können. "Verdammt!", schnaufte er schwer. "Verdammt! Verdammt!" Chester hatte Angst. Richtige Angst. Wenn er nun verhaftet werden würde? Was würde mit den Kindern geschehen? Francis war nicht in der Lage, sich um Jamie und Curtis zu kümmern. 'Bei Gott, das ist sie nicht!' Und Francis selbst? Keuchend warf Chester das Kissen weg und richtete sich auf. Er holte die Maske aus der Hosentasche hervor. Nachdenklich betrachete er sie. Sie fühlte sich geschmeidig an, lag gut in der Hand, und auch im Gesicht war sie angenehm zu tragen. Eine Weile saß er einfach nur da, die Maske betrachtend, und mit unangenehmen Gedankenspielen im Kopf. Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit, und Chester fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
"Es tut mir Leid", sagte er am nächsten Morgen und nippte an der Kaffeetasse. Vor zwanzig Minuten hatte Jamie fröhlich und aufgeregt das Haus verlassen. Heute war Jamies großer Tag. Die Theateraufführung der Schule. Sie spielte zwar nicht die Hauptrolle, hatte aber immerhin mehr Text als die anderen Komparsen zusammen. Wochenlang hatte sie mit ihrer Mutter geprobt, an ihrer Aussprache gefeilt. Curtis schlief noch, würde aber sicherlich pünktlich zum Sendebeginn des Kinderkanals aufwachen. "Es tut mir Leid", wiederholte Chester und stellte die Tasse zurück auf den Tisch.
Francis lächelte verunsichert. "Dir muß nichts Leid tun, Chester."
"Doch, und das weißt du auch!" Er stand auf, ging zu seiner Frau, nahm sie fest in den Arm und küßte sie.
Das Radio dudelte Oldies. Die Ampel zeigte Rot. Chester saß im Wagen und sah gebannt zu dem Kadaver einer toten Katze am Straßenrand. Ein halbes Jahr war vergangen, ohne dass etwas passierte. Die ersten Wochen waren für Chester hart gewesen, kaum eine Nacht, in der er nicht schweißgebadet aufwachte. Fast ständig hatte er damit gerechnet, dass die Polizei auftauchte, oder eine andere Behörde. Gierig hatte er Zeitungen gelesen, die lokalen Nachrichten verfolgt. Lindsay King hatte sich erhängt, und diese Frau, Sheila Baker, war verschwunden. Und alles hing direkt mit ihm zusammen. Aber es geschah nichts. Mehr und mehr beruhigte er sich und sein Gewissen. Den Computer hatte er abgebaut und in einen großen Karton gepackt, der nun zwischen anderen Kartons oben auf dem Dachboden Staub ansetzte. Die Zorromaske hatte er verbrannt. Es war irgendwie befreiend gewesen, nicht mehr die Suizidforen zu durchsuchen, Kontakte zu knüpfen. Eigentlich suchte er nie seinen eigenen Tod, sondern wollte immer nur... Jemand klopfte an die Fensterscheibe. Erschrocken zuckte Chester zusammen.
Es war eine Frau, die ihn mit hoher Stimme wütend anschrie: "He, Arschloch! Wie lange willst du noch den Verkehr aufhalten?"
Er schluckte schwer und hob entschuldigend die Arme. "Verzeihen Sie..." Die Frau sah ihn komisch an, winkte schließlich ab und stapfte zurück zu ihrem Wagen. Chester holte tief Luft und fuhr weiter. Bis nach Hause war es nicht mehr weit. "Wir unterbrechen unsere Sendung für eine wichtige Eilmeldung. Wir bitten um Vorsicht! Laut Polizei gab es in den letzten Tagen vermehrt Sichtungen von Wölfen. Eine erstaunliche Tatsache, wenn man bedenkt, dass die Tiere in unseren Regionen als ausgerottet..." Er schaltete das Radio ab und bog in eine Seitenstraße. Die ersten Einfamilienhäuser der kleinen Siedlung kamen in Sichtweite. "Das wars also", murmelte Chester. Er war nun bereit, die zweite Chance zu nützen, die ihm das Schicksal gewährte. Die letzten vier Jahre waren eine schöne Zeit gewesen, aber damit war nun endgültig Schluß! Nur noch seine Familie zählte! Nur noch die Harmonie und Idylle. Eine große Erleichterung machte sich in ihm breit, nur der Tierkadaver störte ein wenig. "Geh aus meinem Kopf! Geh aus meinem Kopf!"
Es war Mitternacht. Die Kinder schliefen, Francis döste auf der Couch. Im Hintergrund lief ein Film aus den Fünfzigern, selbstverständlich im äußerst kontrastreichen Technicolor. Chester stand auf der Veranda und beobachtete den Himmel. Etwas war anders als sonst. Der Himmel war wolkenlos, Sterne funkelten, und über allem strahlte der grelle Vollmond. Ab und zu kam Wind auf, ließ Blätter rascheln, pfiff in den Ritzen, fuhr sanft über die Haut. Nichts war zu hören. Und dann wußte Chester, was anders war. 'Wo ist das Zirpen der Grillen?' Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er einen Schatten. Schnell drehte er sich um und sah zum Zaun. "Hallo?" Angespannt hielt Chester die Luft an. In der Nähe wurden Mülltonnen umgeworfen. "Hallo!" Schnell ging er die Möglichkeiten durch, was als Ursache in Frage kommen konnte: Betrunkene Jugendliche, stinkende Penner, streunende Hunde, sterilisierte Katzen, ein mittleres Erdbeben, boshafte Geisterwesen aus dem Reich der Toten... "Mach dich nicht lächerlich!", fluchte er und wischte sich mit der Hand über den Mund. Das Heulen eines Wolfes erklang und hallte wie ein Donnerschlag in seinen Ohren. Er hatte schon einmal dieses Heulen gehört. Langsam, Schritt für Schritt, ging Chester zurück zur Verandatür. Ein weiterer Schatten huschte gespenstisch schnell über das gepflegte Gras, sprang über den Zaun und verschand. "Das... Das kann nicht sein!" Als er an die Tür stieß, hätte er beinahe laut aufgeschrien. Chester zwang sich, ruhig zu bleiben. Er ging ins geräumige Wohnzimmer hinein, schloss die Tür und machte das Licht aus. Nur noch der Fernseher lief. Francis schnarchte. Sollte er sie wecken? Was sollte er ihr sagen? Dass eine Gruppe Terroristen ausgerechnet ihr Haus zur zentralen Zelle in den Staaten umfunktionieren wollten? Dass der Geist einer Verstorbenen sie heimsuchte? 'Aber wenn sie überhaupt nicht tot ist?' Er berührte die Schulter seiner Frau. "Francis?" Im nächsten Moment splitterte Glas, gab es ein gewaltiges Krachen, und millionen Scherben prasselten auf Francis und ihn herab. Keines Wortes fähig starrte Chester Truman ungläubig auf die fünf Wölfe, die im Wohnzimmer hockten. Ihre Augen funkelten im Schein des Vollmondes, und der Wolf in der Mitte hatte ein langes Stück Draht zwischen den Zähnen.
Francis wachte kreischend auf. "Was zum..." Weiter kam sie nicht. Einer der Wölfe sprang auf sie zu und grub seine Zähne in ihren Hals. Gurgelnd schlug Francis auf den Wolf ein. Zwecklos. Der Wolf gab sie frei, und wie ein durchnässter Sack Mehl fiel sie auf den Boden: Dumpf und hart. Blut spritzte aus ihrer zerfetzten Kehle, ihre geöffneten, weit aufgerissenen Augen zeugten von unglaublicher Angst, die sie in den letzten Sekunden ihres Lebens gehabt haben mußte.
Chester stolperte rückwärts und fiel über einen Hocker. Hart schlug er auf, und nichts wünschte er sich mehr, als bewußtlos zu werden. 'Francis! Francis!' Schreiend rollte er sich auf den Bauch und kroch davon. "Jamie!", schrie er. "Curtis!" Drei Wölfe liefen an ihm vorbei, die Treppe hoch. "Nein! Nein!" Er verharrte. Einen Moment lang war es absolut still. Und dann hörte er seine Kinder. Ihre Schreie waren voller Angst. Und sie waren sehr kurz. "Nein!" Wütend schlug er mit den Fäusten auf den Teppich. Dann richtete er sich mühsam auf. "Elende Mistviecher!", zischte er und sah sich suchend um. "Euch mach ich alle!" 'Der Kamin! Die Schürhaken!' Wie selbstverständlich versperrten die zwei im Wohnzimmer verbliebenen Wölfe ihm den Weg. "Verdammt nochmal, was seid ihr!" Jemand kam die Treppe hinunter. Kein Wolf, das spürte Chester instinktiv. Er drehte seinen Kopf etwas und brach in Tränen aus.
Jamie schleppte sich am Treppengeländer die Stufen entlang. Ihr folgten die Wölfe, die leise knurrten, sie aber nicht anfielen. "Mom? Dad?" Sie hatte unbeschreibliche Angst. "Mom?" Dann brach sie zusammen und rollte die restlichen Stufen herunter. Unten angekommen blieb sie in grotesker Haltung liegen. Aus ihrem aufgerissenen Bauch quollen Blut und Eingeweide.
"Jamie!", schrie Chester und rannte zu seiner Tochter. Er kam nicht weit. Einer der Wölfe sprang ihn an und riss ihn mit einer beispiellosen Leichtigkeit um. Keuchend lag Chester Truman auf dem Rücken. In seinem Kopf rumorte es. Schmerz, Wahnsinn und Angst trafen aufeinander und pressten von innen heraus an die Schädeldecke. Über ihm erschienen die Wölfe. Ihre Mäuler waren leicht geöffnet, lange Zungen hingen heraus, und ihre scharfen Reißzähne waren blutig. Chester sah den Wolf an, der das Stück Draht zwischen den Zähnen hatte. "Das ist nicht fair!", stammelte er. Sein Rücken schmerzte. Der Wolf knurrte ihn an und für einen kurzen Moment sah Chester Truman in das Gesicht von Sheila Baker. "Nicht fair!", wiederholte er schwach. Seine Gedanken waren bei den Kindern, Jamie und Curtis, und bei seiner Frau Francis. Sein letzter Gedanke galt jedoch einer scheinbar trivialen, aber nicht unwichtigen Sache: 'Warum, verfluchte Scheiße, hast du das verdammte Licht ausgemacht!' Es gab einen kurzen, stechenden Schmerz. Dann war es vorbei. Die Wölfe verließen stumm das Haus, liefen über das Gras, sprangen über den Zaun und waren schnell verschwunden.
Einige Nachbarn hatten Lärm gehört. Einige bemühten sich sogar, aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen. Überall war es dunkel, ein paar Straßenlaternen leuchteten nicht. Jedoch war dies kein Anlass, gleich die Bürgerwehr zu alarmieren. Irgendwo heulten ein paar Wölfe. Lokale Radiosender und Fernsehstationen hatten davon berichtet. Kein Grund zur Panik.
ENDE
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