Das Herz meines Pharaos
Vom Hof aus konnte ich hinauf in ihre Gemächer sehen. Die Nacht war bereits angebrochen und die Luft kühlte sich allmählich ab. Ich blickte hinauf in ihre Zimmer, sah nur ihre Silhouetten, aber das genügte mir. Ich sah den nackten, runden und wohlgeformten Körper meiner Mutter, den noch kindlichen meiner Schwester im Fenster neben an und mir wurde übel. Nicht, daß sie nicht wunderschön anzusehen waren, doch ich wußte, daß ich das niemals erreichen konnte.
"'Êb 'alêk, schäme dich!" rief mein Vater hinter mir und betrat zornig den Hof. Ich sah gefangen zu Boden. Bitte störe mich nicht! wollte ich sagen, doch mein Mund wagte es nicht meinem Vater gegenüber vorlaut zu werden und schwieg. Ich sammelte hastig die Kleider zusammen, die ich vor Schreck hatte fallen lassen und eilte mit ihnen hoch in das Gemach meiner Mutter, dann in das meiner Schwester, das ich mit ihr teilte. Ich brachte ihnen die Kleider demütig und mit schlechtem Gewissen, doch versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen. Ich selbst entledigte mich schnell meiner eigenen Kleider und ging zu Bett.
"Lêltak sa'îda, gute Nacht!" flüsterte mir meine Schwester zu.
"Lêltak sa'îda mbârak!" flüsterte ich zurück und schloß meine müden Augen, hatten sie heute doch genug gesehen...
Ich konnte nicht einschlafen, mein Körper war müde und erschöpft, doch mein Geist war hellwach. Seit Tagen plagte mich diese Schlaflosigkeit. Die Bilder in meinem Kopf zeigten sich immer wieder so scharf und so deutlich wie ein direkter Blick in die Sonne und die Bilder schmerzten nicht nur so sehr wie jener Vergleich, nein, sie waren ebenso unerreichbar.
Mein Vater schlief mit meiner Mutter im Nebenzimmer und ich hörte all ihre Bewegungen, folgte ihnen in meinen Gedanken, versuchte durch bloßes Hinhören davon zu lernen. Meine Hand fuhr an mir hinunter und mein Körper zuckte. Ich quälte mich in den Schlaf. Der Pharao stand heute wieder am Erscheinungsfenster, mein Pharao...
Am anderen Morgen wachte ich schweißgebadet auf. Meine Schwester war bereits aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, kämmte mir mit den Fingern meine zerzausten Haare zurecht und sah durch das Fenster neben meinem Bett hinunter auf den Hof. Hatten sie mich gestern dort unten stehen sehen? fragte ich mich und stand auf. Ich stellte mich an dieselbe Stelle, an der meine Schwester die vorige Nacht stand, wendete meinen Kopf seitlich hin zum Fenster und erkannte, daß sie mich gestern gut hätte sehen können. Mein Blut schoß mir in den Kopf und als ich so dastand, nackt, späte Merit zur Tür herein und kicherte.
"Kommst du?" kicherte sie und wollte mich zum Frühstück holen. Mein Kopf pochte vor Scham und ich kleidete mich hastig und ungeschickt an. Merit, meine kleine Schwester, verschwand kichernd aus der Tür ins Nebenzimmer.
Als ich am Elternzimmer vorbei kam, sah ich Merit und Vater vor dem Bett knien. Ich trat vorsichtig ein. Merit hörte mich und legte einen Finger auf ihre Lippen. Ich trat näher. Mutter war krank und konnte das Bett nicht verlassen.
"Wie konnte sie über Nacht nur so krank werden?" fragte Merit beim Frühstück. Sie bekam keine Antwort. Das Frühstück schlang ich sowieso nur so schnell wie es ging hinunter und Augenkontakt versuchte ich so gut es ging zu vermeiden. Die Scham war mir noch immer ins Gesicht geschrieben und an Mutters Krankheit konnte ich jetzt nicht denken.
Ich machte mich fertig und ging ohne meinen Vater hinunter zum Nil, um der direkten Konfrontation mit meinem alten Herrn zu entgehen. Eine Unterhaltung mit ihm allein oder noch schlimmer, ein gemeinsames, ein gegenseitiges, wissendes Anschweigen auf dem Weg hinunter zum Nil, hätte ich nicht ertragen. So ging ich allein und kam noch vor all den anderen Arbeitern an. Ich ging einige Schritte weiter den Nil entlang und überprüfte die von uns nebeneinander aufgereihten Leichen. Wir hatten die Körper zur Entwässerung des Gewebes mit Natronsalz gefüllt und das Salz um sie herum aufgeschichtet. Einige lagen bereits seit vierzig Tagen dort.
"Was ist in letzter Zeit los mit dir?" schrie mir mein Vater von hinten entgegen und mit ihm kamen auch die anderen Arbeiter. Ich drehte mich zu ihnen um, begrüßte sie, versuchte mich unter sie zu mischen, meinem Vater aus dem Weg zu gehen, doch er bahnte sich durch sie hindurch und zog mich zu sich an seine Seite.
"Reiß' dich zusammen!" herrschte er mich an. "Was ist nur los mit dir?" Das weiß ich selbst noch nicht, mußte ich mir eingestehen, doch keine Silbe verließ meine Lippen.
Ich half den Arbeitern eine der vierzigtägigen Leichen zuzumachen und für die Mumifizierung vorzubereiten. Der entleerte Brustkorb und Bauchraum, stopfte ich mit Leinen aus. Bei Königen wurde dafür aromatisch duftende Flechten verwendet und die Bauchdecke mit einem dünnen Goldblech verschlossen, aber dieser hier wurde offengelassen, sie war nur eine gewöhnliche Leiche. Mein Vater hatte einmal einen Pharao einbalsamiert, hatte nur mit den besten Balsamierern gearbeitet, hatte dafür nur die besten und kostbarsten Materialien verwendet, die feinsten Binden, Gold, Masken aus Gold...
Bei der einen Leiche mußte ich einen Stock vom Brustkorb aus entlang der Halswirbelsäule in den Schädel einführen, um den Kopf fester am Brustkorb zu fixieren. Die Arbeit war eine gute Ablenkung für mich, auch wenn ich nicht wirklich abschalten konnte. Ich mußte immer an ihn denken und wie schön es war ihn anzusehen.
"Hadritak!" sprach ich meinen Vater an, es war bereits Mittag geworden. "Darf ich schnell zur Mutter laufen und schauen wie's ihr geht?" Mein Vater atmete tief und schaute mich prüfend an, so, hatte er kein Vertrauen mehr in mich? Ich würde nur schnell zur Mutter laufen, gab es für mich hier gerade doch nichts zu tun, und schauen wie's ihr geht! Würde auf dem Rückweg einen Umweg laufen, doch zur Mutter hin würde ich bestimmt!
"Merit ist bei ihr, sie kümmert sich gut um sie!" antwortete mein Vater.
"Sicher kümmert sich Merit gut um sie, ich will nur schau'n, ob's auch an nichts fehlt, wo ich doch gerade eh frei bin!" wagte ich mich zu sagen.
Mein Vater hatte mich lange beäugt, ehe er mich gehen ließ. Ich lief so schnell ich konnte durch die Hitze, durch den heißen Sand und hin zu unserem kleinen Haus, in dem die Mutter krank dalag. Hatte ich sie in der Nacht zuvor noch vom Hof aus beobachtet, hatte ich doch ihr Liebesspiel noch mitgehört und hatte nicht das in mir den brennenden Wunsch ausgelöst, meinem Liebsten einmal genauso nah sein zu können? So dachte ich, während ich zum Haus hin lief und weiter dachte ich, wenn meine Mutter jetzt an ihrer Krankheit sterben müßte, wäre mein Vater dazu im Stande ihren Körper zu mumifizieren? Wäre ich dazu im Stande, wenn er es nun nicht könnte?
Ich erreichte unser Haus in fünf Minuten, war es doch ein viertelstündiger Fußmarsch. Außer Atem betrat ich das Elternzimmer und sah meine kranke Mutter im Bett liegen und meine Schwester bei ihr sitzen. Der Anblick erschreckte und ängstigte mich zugleich. Wie konnte ich nur abwegige Gedanken haben, währen meine Mutter im Sterben lag? Ich trat ein und setzte mich zu ihr. Ich nahm ihre Hand, hielt sie fest umschlossen, eiskalter Schweiß, mich fror. Niemand sagte auch nur ein Wort. Mein heftiges Atmen war das einzige Geräusch im Raum und es erinnerte mich daran, daß ich noch weiter wollte, doch die leeren Augen meiner Mutter fesselten mich hier her, ließen mich nicht gehen. Hin- und hergerissen schloß ich meine Augen. Ich küßte sie auf die Stirn, stand auf und verschwand.
"Ich muß zurück!" entschuldigte ich mich, "Vater wartet!"
Mein Herz zerriß in zwei Hälften, hatte ich nun beide verschenkt und nichts blieb für mich übrig.
Mich selbst ohrfeigend, so war mir zumute, rannte ich aus dem Haus. Ich rannte durch den Hof, rannte weiter in die andere Richtung. Ich rannte hin zum Palast, ja, zum Palast, dort wollte ich sein. Vorfreude und Angst vermischten sich, ich wußte nicht, ob ich mich freuen sollte, ob ich mich freuen durfte oder weinen.
Ich schlich mich näher an den Palast heran, würde ich ihn heute wieder sehen? Von ganz nahem? Ich kletterte wieder über die hohe Palastmauer, hatte ich doch letztes Mal eine Stelle gefunden, wo das möglich war. Und wieder schlich ich mich durch den hintersten Hof, vorbei an den Wächtern, vorbei am Frauenhaus, ob er gerade bei ihnen war? Ob er sich gerade mit ihnen vergnügte? Ich gelang ungesehen in mein Versteck, von wo ich direkt in des Pharaos Kammer sehen konnte. Ich reckte mich und späte hinein, doch niemand schien im Raum zu sein. Vielleicht wuschen sie ihn gerade, rieben ihn mit wohlriechenden Ölen ein, seidig, samtige Haut... Dann mußten sie ihn natürlich einkleiden und schminken. Tausend fremde Hände, wie sie seinen Körper berührten, ach könnte ich nur solch eine Hand sein, nur ein Finger, sei's noch der kleinste! Schwarze Augenschminke aus Antimonpulver, schiefergraues Galenit, Schmuck, Schmuck aus Perlen, Perlen aus Fayence, Glas, Steatit...
Was war das? Etwas huschte durch das Zimmer des Pharaos! Er war zurück! Ich beschloß es zu wagen in den Palast zu gelangen. Ich schlich mich zunächst aus meinem Versteck, vorbei an den Dienerquartieren, vorbei an den Lustgärten, in denen sich zu jeder Tageszeit Leben tummelte und hinein in eine der Säulenhallen. Mein Herz raste und sagte mir, daß ich auf dem richtigen Weg war. Zeit hatte ich vergessen. Zeit hatte keine Bedeutung mehr, denn jetzt würde ich meinen Pharao sehen.
Schatten geisterten über die Wände. Schatten, so groß, statuenähnlich... er war es! Ich erkannte seine Krone, seine mächtige Krone. Er kam näher. Drei andere Männer waren noch bei ihm und redeten mit ihm. Sie kamen näher. Sie kamen näher auf mich zu. Wollte ich nicht schreien und hinter der Säule, hinter der ich mich verbarg, herausplatzen, ihm mich zeigen! Daß er mich sehen kann! Mich! Aug in Aug! Der Pharao und ich! Würde ich das wagen, ließen sie mich als Eindringling verhaften, gar hinrichten. Ich schwieg. Der Pharao und die drei Männer gingen an mir vorbei, sahen mich nicht.
Ich war wie in einem Rausch. Ein Rausch, der ewig anhalten sollte. Er war zum Greifen nahe, doch hätte mich das meine Hand gekostet. Der Pharao ging an meinem Versteck vorbei, wie wunderschön er doch war, wie anmutig er ging, sich bewegte, doch was war das? Er drehte sich um! Sah mich! Sah mich an! Sah mir direkt in die Augen! Hatte ich gesprochen? Mich bewegt? Wie hatte ich mich verraten? Er sah mich an, sah die Ehrfurcht in meinen Augen, doch er sagte nichts.
"Wachen!" schrien seine drei Begleiter, als sie mich entdeckten und rissen mich aus dem Moment, der doch ewig währen sollte. Aber eins war sicher, der Pharao wußte ab jetzt von meiner Existenz!
"Wachen!" schrien sie wieder und ich lief Widerwillen aus der Säulenhalle zurück vorbei an den Lustgärten, die Wächter hinter mir her, ich zurück und vorbei an den Dienstquartieren und die Wachen mir hinterher. Ich drehte mich zu ihnen um, schaute wie nah sie mir auf den Fersen waren und rannte prompt in eine Wäscherin. Sie schrie als wir zu Boden fielen und ich flehte sie an mich nicht zu verraten und ich wußte nicht wieso, doch sie schwor.
Sie hüllte mich in die frisch gewaschenen Gewänder, verkleidete mich als Frau und gab mir einen Korb, befahl mir, ihr zu folgen und ich folgte. Die Wachen rannten an mir vorbei, jagten einem ganz Falschem hinterher. Das Waschweib stand tief in meiner Schuld, doch sie wollte nichts annehmen.
Als ich so sprach und dachte, bei der Wäscherin sicher zu sein, stand plötzlich der Pharao in der Tür und belauschte uns. Er kam näher und lächelte, ich bedeckte mein Gesicht. Er trat noch näher, berührte mich, er berührte mich, zog das Tuch von meinem Gesicht und sah mir wie vorhin in die Augen. Ich war starr vor Angst! Doch der Pharao lächelte und sah mich schweigend an.
"Mein Bruder..." flüsterte ich und war der Ohnmacht nahe. Der Pharao wurde auf einmal ernst und blickte vor mir zu Boden. Hatte ich so laut gesprochen, daß er es hören konnte?
"Mein Bruder..."
Die getäuschten Wachen tauchten hinter ihm auf und drängten sich an ihm vorbei. Der Pharao sah mich ernst an. Die Wachen packten mich, rissen die Gewänder von mir und zerrten mich hinaus in den Hof, während ich nur etwas stammelte wie: "Meine Mutter ist krank! Sie wird sterben! Ich bin hier wegen der Medizin!" Sie hörten nicht.
"Wie ist dein Name?" fragte sich mich barsch. "Wo kommst du her?"
"Halt!" rief der Pharao und hob seine Hand. "Deine Mutter ist krank, sagst du und wird sterben?"
"Ja!" sagte ich demütig und mit gesenktem Kopf, würde ich ihm doch viel lieber in seine Augen sehen, doch die Wachen packten mich nur härter, da wagte ich mich nicht ihn anzusehen.
"Laßt ihn los!" befahl mein Pharao. "Gebt ihm Medizin! Und wenn er welches erhalten hat, dann laßt ihn gehen!"
Der Pharao lächelte nicht mehr, er sah ernst auf mich herab und ließ mich ziehen.
Es war bereits Abend geworden als ich zurück nach Hause kam. Mein Vater erwartete mich im Hof und schrie mich an: "Zur Mutter wolltest du laufen und sehen wie's ihr geht! Nur kurz warst du bei ihr und bist dann nicht mehr aufgetaucht, weder zur Arbeit noch sonst wo! Wo warst du, mein Sohn?"
"Ich, ich... " begann ich, "ich war im Palast und hab' Medizin geholt!"
"Du warst wo?" schrie mein Vater mich an. Merit war bei Mutter am Bett und sorgte sich um sie.
"Sie hätte heute mittag sterben können! Und du warst nicht da!"
"Ich, ich hab' Medizin geholt!" ich zitterte vor Angst.
"Medizin? Ist es denn auch die richtige Medizin?"
"Ich, ich weiß nicht." stotterte ich.
"Weißt du denn überhaupt was deine Mutter hat?"
"Ich, ich weiß nicht."
"Weißt du denn irgendwas?" Tränen schossen mir in die Augen.
"Ich weiß nicht."
"Woher wollen dann die im Palast wissen was deine Mutter hat?" schrie er.
"Ich weiß es nicht." Ich weinte.
"Was?"
"Ich weiß es nicht!" Tränen rannen meine Wangen hinunter. Mein Vater nahm mir die Medizin aus den Händen und brachte sie hoch zur Mutter und Merit. Ich blieb unten zurück im Hof, blieb weinend im Hof stehen, wußte weder ein noch aus. Ich wollte zurück zum Palast, nur er konnte mir jetzt Trost spenden, wollte aber meine Familie nicht schon wieder enttäuschen.
Ich lief hinein ins Haus, stahl mir die schmutzigen Kleider meiner Mutter und einen Beutel, Schuhe, Schminke und Schmuck und rannte los, rannte los, zurück zum Palast. Auf halber Strecke machte ich Halt und begann mich zu verkleiden.
Ich gelangte auf übliche Weise in den Palasthof und schlich los, vorbei an dem Frauenhaus und hin zu den Lustgärten. Wachen entdeckten mich, ich verdeckte mein Gesicht.
"Na, verlaufen?" lachten sie. Mir war auf einmal unwohl, war mir meines Vorhabens unsicher.
"Hier geht's lang!" sagte einer der beiden und wies mir den Weg direkt auf den Eingang des Lustgartens zu. Ich lief schnell los, ehe sie etwas bemerken konnten, lief schnell los in Mutters Frauenschuhe, in Mutters Frauenkleid und Schminke und Schmuck und öffnete das Tor zum Lustgarten. Ein Harem eröffnete sich mir, vollkommener Schönheit und Göttlichkeit und ich trat schüchtern ein. Sie lachten und lächelten mir zu und ich fühlte mich entlarvt. Ich ging einige Schritte, schaute mich nach allen Richtungen um, meinen Pharao suchend, bis ich ihn schließlich fand. Er war umschwärmt von leichtbekleideten Göttinnen und lachte mit ihnen und liebte jede einzelne. Dann sah er mich. Erkannte er meine Augen wieder, das Einzige, was ich von meinem Gesicht unverdeckt hielt? Er stand auf und trat an mich heran, trat vor mich hin. Er legte seinen Kopf schief und begann zu lächeln, wollte mein Gesicht enthüllen, doch ich verweigerte mich und wich zurück. Ich? Ich wich zurück? Spielte ich etwa mit dem Pharao? Spielte ich den Unnahbaren, wo er doch die Sonne war?
"Eine Schüchterne!" lachte eine seiner Gespielinnen und ging um mich herum, betrachtete mich von oben bis unten, durchschaute meine Maske. Sie und eine andere Göttin nahm mich an der Hand und führte mich fort, führte mich in den Palast. Wollten sie die Wachen holen? Mich den Wachen vorwerfen, mich zu ihnen bringen und ich ging ohne weiteres mit? Nein, sie brachten mich hoch in Pharaos Gemach. Unbemerkt war er uns gefolgt und stand nun hinter mir und verschloß die Tür. Er trat wieder an mich heran und enthüllte diesmal mein Gesicht.
"Geht es deiner Mutter besser?" fragte er mich, doch ich konnte nicht antworten, geschweige denn jetzt an meine kranke Mutter denken. Er nahm mir die Frauenkleider ab, zog mich aus, zog mich ganz aus und küßte mich.
Er hatte weiche, glatte Haut überall an seinem Körper und duftete, ja, er duftete, während ich, behaart nach Mutters schmutzigen Kleidern roch. Ich traute mich nicht, ihn zu berühren, doch er führte meine Hände und liebte mich. Er liebe mich die ganze Nacht.
Bevor es hell wurde, weckte mich mein Pharao. Er zog mich an, bekleidete mich wieder, schminkte mich wie eine Frau, verabschiedete sich von mir und ließ mich von den Wachen ungesehen aus dem Palast schleusen. Auf halber Strecke machte ich wieder Halt und zog mich um. Ich ging schnell zurück zum Haus, war immer noch wie in Trance.
Mein Vater stand im Hof und erwartete mich. Merit war bei Mutter und weinte. Sie war tot. Mein Vater schrie mich nicht an, was mich noch mehr ängstigte. Ich konnte jetzt nicht an Mutter denken, konnte das jetzt unmöglich begreifen, wo die Nacht doch so wunderschön war.
Mein Vater konnte es nicht, die Balsamierung und ich konnte es ebenso wenig. Tage verstrichen und mein Gewissen quälte mich, zurecht. Mein Vater sprach nicht mehr mit mir, was sollte ich ihm auch erklären? Ich hatte alle enttäuscht, ihr Vertrauen mißbraucht, sie vernachlässigt, sie vergessen, was mich quälte und mir aufs Gewissen drückte, Mutter war tot und ich war nicht bei ihr, dachte nicht an sie, tat es noch nicht einmal jetzt.
Jahre verstrichen und mein Vater sprach noch immer nicht mit mir. An Merit nagte die Zeit und die Arbeit und ich hatte mich zu einem der besten Balsamierer hochgearbeitet, trat in die Fußstapfen meines Vaters und hatte Zeit meinen Pharao zu vergessen, doch in Wirklichkeit dachte ich jede Sekunde an ihn.
Weitere Jahre vergingen und mein Pharao wurde alt und starb. Die Nachricht brachte mich um. Ich hatte ihn seit jener Nacht nicht mehr gesehen, traute mich nicht mehr hin zum Palast, doch der bloße Gedanke daran, daß er in seinem Palast noch lebte und liebte und vielleicht ab und zu an mich dachte, ließ mich weiter leben. Ich fühlte wie meine eine Herzhälfte, die seit jeher in seinem Besitz war, mit ihm starb.
Sie brachten ihn zu mir. Ich stach mit dem gekrümmten Bronzehaken durch seine Nase in sein Gehirn, zog es durch seine Nasenlöcher aus seinem Schädel heraus. Ich verwendete mein bestes Set an verschiedenen Haken, mußte ich mit dem einen die knöcherne Siebbeinplatte im Schädel durchstoßen und somit den Zugang zum Hirnschädel öffnen, mit dem anderen die Hirnsubstanz und die Hirnhaut entfernen.
Ich wollte alleine arbeiten. Ich schickte alle weg. Ich und mein Pharao. Aug in Aug...
Koniferenharze, extra aus Palästina eingeführt, erhitzte ich und goß sie so in seinen Schädel ein, wo sie erstarrten. Ich strich über seinen Körper, über seine weiche, glatt rasierte Haut. Noch immer duftete er. Ich strich behutsam und langsam über seine königliche Brust, fuhr hinunter über den Bauch und setzte den Einschnitt oberhalb des Beckenkamms auf der linken Seite. Ich nahm Lunge, Leber, Magen und Gedärm heraus, gab sie Anubis in die Hände.
"Ich helfe dir!" hatte er gesagt, als er hinter mich trat und seine Hand auf meine Schulter legte. Ich übergab ihm die geliebten Innereien, ihm vertraute ich. Er setzte sich und reinigte die Eingeweide, spülte sie mit Palmwein aus und ich holte das Räucherwerk.
"Ich möchte auch sterben!" sagte ich traurig als ich Leber, Lunge, Magen und Gedärm in Leintücher wickelte. "Aber ich habe mein Herz schon lange verloren, wie kann ich vor dem Totengericht bestehen? Ohne Herz?"
"Schweige, mein Freund!" sagte Anubis und lächelte. "Beende deine Arbeit!" drängte er mich und legte seine Hand auf meine Brust. Er ging, um mir die Kanopengefäße zu holen. Als er sie brachte, verbeugte sich der Schakal und verschwand. Ich vertraute ihm.
Ich gab jedes Organ in sein zugehöriges Kanopengefäß, als sich mir die Horussöhne offenbarten. Amset, mit der Gestalt eines Menschen, setzte sich auf das erste Gefäß und verschloß es mit seinem Körper, Hapi, der Pavian, kam und bildete den Deckel des zweiten, Kabeh-Senuef, der Falke, schwebte von der Decke herab und ließ sich auf dem dritten Gefäß nieder, bildete dessen Deckel und Dua-Mutef, der Schakal, bedeckte den vierten...
Der Trauerzug zog zum Grab des Pharaos, angeführt vom Nachfolger, gefolgt von hohen Beamten, Würdenträger, Priesterinnen und Priester. Anubis, Isis und Nephthys zogen mit ihnen. Der Sarkophag mit dem Pharao wurde von Ochsen auf einem Schlitten gezogen, seine Eingeweide in den Kanopen dahinter. Die Klageweiber zerrissen sich die Kleider, schütteten Erde über ihr Haupt. Beim Mundöffnungsritual verließ ich den Trauerzug.
Jetzt sitze ich hier in seiner Grabkammer, verberge mich hinter dem Sarkophag als sie die Steintür zuschieben. Stockfinster wird es auf einmal. Der Raum hüllt sich in ein schwarzes Tuch, nicht einmal die eigene Hand vor Augen kann ich mehr sehen, aber ich habe keine Angst. Wenn mein Pharao mein Herz hat, muß ich mit ihm sterben. Ich und mein Pharao. In seinem Herzen trägt er meins. Die Luft ist stickig und ich werde bald sterben, aber ich habe keine Angst. Ich sitze hier bei meinem Pharao, neben mir die Harussöhne, im Jenseits werden wir wieder zusammen sein, im Jenseits wird mein Herz wieder eins.
Begriffserklärung:
Hadritak: Deine Gegenwart (lenenslange Anrede der Kinder an ihre Eltern, der Schüler an ihre Lehrer und Professoren)
Herz: Das Herz war für den Ägypter der Sitz des Denkens und Fühlens und somit für die Individualität des einzelnen Menschen verantwortlich. Beim Totengericht vor Osiris gibt das Herz Auskunft über die Lebensführung des Verstorbenen. Die Balsamierer achteten darauf, daß sie das Herz des Verstorbenen entweder im Körper beließen oder es wieder in ihn zurücklegten.
Mein Bruder...: Ein verliebtes Paar redete sich gegenseitig jeweils mit "Mein Bruder" oder mit "Meine Schwester" an.
Anubis: Schakalköpfig, der Gott des Leichnams; als Balsamiergott wird er mit schwarzer Hautfarbe dargestellt, ist in den Gräbern über die Mumien geneigt; wägt das Herz beim Totengericht.
Kanopengefäße: Die entnommenen Eingeweide wickelten die Balsamierer jeweils in ein Leinentuch und steckten jedes Organ in eins der vier sogennanten Kanopengefäße, die neben der Mumie im Grab beigesetzt wurden. Die Deckel: Für den magischen Schutz der Eingeweide waren vier spezielle Götter verantwortlich, die sogenannten Horussöhne Amset, Hapi, Kebeh-Senuef und Dua-Mutef bildeten mit ihren Köpfen die Deckel der Gefäße.
Isis und Nephthys: Schutzgöttinnen...
© by Corinna Prokop
[ 26.07.2002, 19:26: Beitrag editiert von: Korina ]