Das Herz der Silberwölfe - Die Begegnung
Lautlos robbte Kemir einen Hügel hinauf und bat inständig darum, dass der Wind nicht ausgerechnet jetzt die Richtung wechseln würde. Ganze 3 Tage hatte er die Spur der Hirschkuh verfolgt und sie nicht einmal zu Gesicht bekommen.
Heute wollte er die Jagd erfolgreich zu Ende bringen und seiner Familie ein Festessen bescheren. Leider war das nicht sehr oft der Fall, da die scheuen Tiere nur selten am Waldrand anzutreffen waren.
Doch kein Mann der klar bei Verstand war würde tiefer in den riesigen Wald vordringen. Zu groß war die Angst von den Silberwölfen erwischt zu werden.
Kemir dachte an die vielen Geschichten die er über diese mystischen Wesen gehört hatte. Angeblich wurden sie doppelt so groß wie ein Pferd und ihr Fell soll wie der klare Vollmond in der Nacht glänzen. Laut der Legende soll sogar einmal ein ganzes Heer von 1500 Kriegern aufgerieben worden sein. Von den Männer ist nichts mehr übrig geblieben als die angenagten Knochen.
Diese Geschichten wurden in seinem Dorf schon immer von Generation zu Generation weitergegeben. Doch heute hatte er keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn seine jüngeren Geschwister brauchten frisches Fleisch. Außerdem war er sowieso der beste Jäger in Dorf, trotz seines jungen Alters von 12 Jahren. Währenddessen kümmerte Shasta sich um ihr kleines Stück Land und Ezoriel führte den Haushalt.
Schließlich schüttelte er nur kurz den Kopf und vertrieb die hinderlichen Gedanken. Jetzt wollte er sich nur auf die Jagd konzentrieren und seine Beute erfolgreich niederstrecken. Er robbte noch ein Stück vorwärts, bis er schließlich durch das Gras die Hirschkuh ausmachen konnte. Sie hatte sich zum Ausruhen unter einen schattigen Baum gelegt. Zu Kemirs Glück hatte der Wind nicht gedreht und vorsichtig nahm er einen Pfeil aus seinen Köcher und legte an. Bedächtig zog er die Sehne zurück und spürte wie seine Muskeln sich anspannten. Auf diesen Moment hatte er die letzten 3 Tage gewartet. Er durfte jetzt einfach nicht vorbei schießen. Instinktiv nahm er die Hirschkuh ins Visier und ließ den Pfeil los.
Sein Herz schien stehen zu bleiben als er plötzlich ein unheimliches Heulen vernahm. Wie ein Blitz tauchte der riesige Wolf auf und verbiss sich in der Kehle der Hirschkuh und begrub sie unter sich. Einen Herzschlag später bohrte sich Kemirs Pfeil in die rechte Brust des Wolfes und ließ ihn schmervoll brüllen. Schnell hielt sich Kemir die Ohren zu und wollte nur noch den Hügel runter rennen.
Doch seine Beine waren wie gelähmt und so konnte er sich keinen Meter bewegen.
Minuten schienen wie Stunden dahin zufließen. Langsam ließ er die Hände zu Boden gleiten. Sein Verstand wollte nicht wahrhaben was er jetzt sah, doch gegen aller Vernunft blieb er an Ort und Stelle liegen.
Benommen stand der Wolf auf zittrigen Beinen da und versuchte sein Gleichgewicht zu halten. Blut floss an seinem Bein hinab und bildete auf dem Boden eine Pfütze.
Dann verlor er das Bewusstsein und ging zu Boden.
In diesem Moment brach der Mond durch die Wolkendecke und brachte das Fell des Wolfes zum leuchten. Ein Silberwolf… Der Gedanke brannte sich in sein Gedächtnis und machte jegliches logisches Denken unmöglich.
Mühsam stand er auf und machte ein paar unsichere Schritte in Richtung des Wolfes. Sein Blick fiel auf den Kadaver der Hirschkuh.
Mist… das Blut des Silberwolfes macht das Fleisch ungenießbar. Wütend stampfte er mit den Fuß auf. Sein Blick wanderte zum Silberwolf, der nur noch flach atmete. Mit einen Lächeln zog er sein Jagdmesser und ging noch näher heran. Wenn ich schon kein Fleisch nach Hause bringen kann, dann wenigstens eine Trophäe.
Er konnte ja warten bis der Silberwolf verendete und dann einfach eine Pfote vom restlichen Körper abschneiden.
Mein Dorf wird mich als Helden feiern und wenn sie fragen wie ich ihn erlegt habe, werde ich die Geschichte einfach noch etwas ausschmücken. Vielleicht würde ich dann auch nach Salavor bestellt werden.
Salavor war die Hauptstadt des Königreichs und lag weit entfernt im Westen am Randmeer. Er malte es sich in den prächtigsten Bildern aus wie er vom König empfangen und dann zum Ritter geschlagen wurde.
In der Zwischenzeit war der Silberwolf wieder auf die Beine gekommen und geräuschlos näher gekommen.
Genüsslich hatte Kemir die Augen bei seinen gedanklichen Vorstellungen geschlossen, und bemerkte die Gefahr erst als Blut auf seine Weste tropfte.
Die Zähne des Wolfes verharrten genau vor seinen Gesicht. Voller Angst wagte er nicht sich zu bewegen und verschwendete auch keinen Gedanken an eine Flucht.
Wohin solltest du auch fliehen kleiner Mensch?
Der Junge wagte nicht zu atmen und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
Das kann unmöglich der… W… Wolf gewesen… sein… Seine Gedanken überschlugen sich und schon erklang wieder diese fremde Stimme in seinem Kopf.
Für wie dumm haltet ihr uns eigentlich? Die Stimme war eindeutig weiblich und brachte Kemir nur noch mehr durcheinander als er schon war.
Ärgerlich knurrte die Silberwölfin den Jungen an und fegte mit ihren Geist seine chaotischen Gedanken beiseite, bis nur noch nackte Todesangst übrig war.
Bitte… töte mich nicht… Dabei konnte er jedoch den Blick nicht von ihren azurblauen Augen abwenden.
Überrascht sah sie den verängstigten Jungen an und wunderte sich warum er nicht davongelaufen war.
Verschwinde endlich… bevor ich es mir anders überlege und dich auffresse.
Ich wollte dich nicht verwunden… ich habe nur…
Mit Leichtigkeit zwang sie Kemir zu Boden und nagelte ihn dort mit Ihrer Pfote fest.
Eine Schande das ich meine letzte Energie an ein erbärmliches Menschenkind verschwenden muss. Wieso bist du nicht einfach wie jeder andere Mensch davon gelaufen?
Kemir zitterte am ganzen Körper und machte sich vor Angst glatt in die Hose.
Die Wölfin roch den frischen Urin und rümpfte die Nase vor Abscheu.
Du riechst wie ein Stinktier. Immer noch unfähig eine Antwort zu geben schaute Kemir nach oben und schloss innerlich mit seinen Leben ab.
Was soll nur aus Shasta und Ezoriel werden… Sofort erhöhte die Wölfin den Druck auf seinen Körper.
Hör auf mit diese blödsinnigen Gedanken. Beantworte gefälligst meine Frage.
Inzwischen war sich Kemir einer Sache jedenfalls sicher. Die Wölfin konnte jeden seiner Gedanken mithören. Seltsamerweise dachte er wieder an die Erzählungen über die Silberwölfe. Davon war doch nie die Rede…
Wieder erhöhte sie den Druck und Kemir glaubte eine seiner Rippen knacken zu hören. Schmerzvoll stöhnte der Junge auf.
Jetzt rede endlich!!! Hilflos schrie er die riesige Wölfin an. “Ich weiß es doch auch nicht… weil ich einfach zu blöd war.” Er kämpfte mit den Tränen und schniefte lautstark.
Mit dieser Reaktion hatte die Wölfin nicht gerechnet und sah den Jungen musternd an. Besonders kräftig bist du nicht… dafür aber sehr mutig.
Plötzlich erlebte sie einen starken Schwächeanfall und ging erneut zu Boden.
Kemir nutzte die Chance sofort und kämpfte sich unter der nun kraftlosen Pfote hervor.
Ich muss unbedingt hier weg bevor dieses Monster wieder aufsteht…
Verzweifelt versuchte er einen großen Abstand zwischen sich und der Wölfin zu bekommen. Doch plötzlich vernahm er wieder ihre Stimme in seinem Kopf. Wenn auch diesmal deutlich leiser.
Bitte töte mich… ich will nicht elendig verbluten. Zuerst eilte Kemir noch unbeiirt weiter, bis er schließlich inne hielt. Warum sollte ich das für dich tun? Du wolltest mich auffressen.
Nein, ich wollte dich laufen lassen. Der Junge erwiderte nichts und hob schließlich sein Jagdmesser auf. Die Wölfin seufzte sichtlicht erleichtert.
Dennoch näherte sich Kemir ihr nur vorsichtig. Ein paar Schritte noch, dann aber zögerte er und ließ das Messer fallen.
Ich kann das nicht… Die Wölfin sah Kemir auffordernd an. Drück den Pfeil einfach tiefer hinein. Nein! Plötzlich wild entschlossen nahm Kemir sein Messer wieder auf und ging ohne zu zögern zu der Wölfin. Sofort kniete er sich vor ihrer Wunde und brach den Pfeilschaft ab. Schmerzvoll winselte sie und zuckte leicht mit den Vorderpfoten. Schweigend behielt Kemir die Pfoten im Blickwinkel. Schließlich wollte er nicht von ihnen getroffen und verletzt werden.
Was hast du vor? Warum tötest du mich nicht?
“Stell in den nächsten Minuten keine dummen Fragen mehr und halt einfach still.”
Kemir hatte die Worte absichtlich laut gesprochen um sich selbst von seinen gespielten Mut zu überzeugen. Doch in Wahrheit hatte er eine Heidenangst.
Letztenendes drang die Klinge seines Messers mühelos in das Fleisch. Sie zappelte wieder und erwischte ihn an der Schulter mit ihren Krallen. Drei blutige Striche zeichneten sich auf seiner Haut ab.
Halt still Sarina während ich die Pfeilspitze heraus hole. Ohne zu wissen woher er ihren Namen kannte hatte er sie damit angesprochen. Er schien einfach passend zu sein. Sie schien ihn verstanden zu haben und lag nun ruhiger da.
Ein paar Minuten suchte Kemir angestrengt nach der Eisenpfeilspitze und konnte sie mit letzter Kraft entfernen. Mit einen ächzen warf er die Spitze weit weg und sank erschöpft auf den Rücken zu Boden. Doch zwang er sich noch einmal auf und zog dabei gleich seine Weste und Leinenhemd aus. Sofort drückte er sein kostbares Hemd auf die Wunde und hoffte damit die Blutung noch rechtzeitig stillen zu können.
Immer wieder horchte er nach ihren Herzschlag und beobachtet ihre Atmung. Diese zwei Dinge waren sein einigster Anhaltspunkt um festzustellen ob Sarina noch lebte.
Die Erkenntnis ihres Namens konnte er sich keinesfalls erklären. Doch aber ihrer rätselhaften Bedeutung.
Warum heißt ein weiblicher Silberwolf bloß “Frieden“?
Mit einen Schulterzucken ließ er es vorerst dabei bewenden und schloss vor Erschöpfung langsam die Augen. Im nächsten Moment war er auch schon eingeschlafen.