Das Heer der Nacht
Das Heer der Nacht strömte aus. Zu Tausenden krochen sie aus dem Nest und kamen wie eine schwarze Flut über die Stadt. Sie verteilten sich wie ein Virus in alle finsteren Ecken, abgelegenen Winkel und dunklen Gassen, unbemerkt waren sie überall dort, wo es Böses und Grauenvolles gab, und lachten mit dem Schreien und Wehklagen der Frauen und Kinder. Es waren jene Wesen, die in Bars saßen, Bier bestellten und sich stundenlang nicht rührten; Streuner, die scheinbar ziellos durch die Stadt zogen, aber weder bettelten noch hausierten; Prostituierte, die zurückhaltend an den Laternen standen und nur halbherzig Freier in ihre Gemächer lockten. Sie warteten stunden-, manchmal sogar tagelang auf den richtigen Moment, lauerten ihren Opfern auf und schlugen dann erbarmungslos zu. Sie waren verantwortlich, wenn Betrunkene den Barkeeper abstachen, wenn Obdachlose unter Drogen kleine Mädchen vergewaltigten und Männer in der Nacht ihre Frauen zu Tode prügelten. Dann lachten und schrieen alle Wesen der Stadt vor Leidenschaft auf, denn das war ihr Moment, ihre Erfüllung der Pflicht, ihr perverser Sinn des Lebens, der daraus bestand, das Böse im Menschen aufzuwecken. So wie ein toter Fisch in einem See in die Höhe treibt und zu stinken beginnt, so kommt das Böse im Menschen zum Vorschein und treibt für einige Zeit auf der Oberfläche eines Meeres aus Liebe, Angst und hilflosen, widersprüchlichen Gefühlen. Dann kann man einen kollektiven Ruf in der Stadt hören, der zu entstellt und obszön klingt, als dass ihn ein Mensch als solchen wahrnehmen könne. Aber sie wissen Bescheid. Das Heer der Nacht schließt sich zu einem Jubelschrei zusammen und ihre Augen leuchten rot von der Erregung eines grauenvollen Höhepunktes.
„Wer ist das?“ zischte ein Schatten hinter ihr.
„Ist sie das?“ knurrte ein Ast.
„Sollen wir sie töten?“ fauchte eine Fledermaus und flog kichernd davon. Doch all die Stimmen konnten sie nicht abhalten, zu entschlossen war sie, als dass das beständige Flüstern der Dunkelheit sie nun fernhalten konnte.
Und so ging sie weiter durch die nächtliche Allee von Siebenbrunn, weiter in eine Ungewissheit über das, was ihr bevorstand und über den Ausgang ihrer Expedition. Sie war sehr mit der Materie vertraut, hatte sie schließlich nicht umsonst drei Jahre an der Universität Wien Okkultismus und vier Jahre an der Universität von London Spiritismus studiert. Sie hatte ihre Doktorarbeit über Mythologie im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben und diese war sogar im Londoner´s Magazine for Spiritism veröffentlich worden. Ja, sie hatte mit Freude achtundzwanzig Jahre ihres Lebens in das Übersinnliche investiert, hatte Bücher gelesen und Vorträge besucht. Es war ihr stets wichtig, wissenschaftlich arbeiten zu können, um sich von der Trivialliteratur und Scharlatanen abzusondern. Zu viele Menschen waren dem Glauben verfallen, dass das Übernatürliche, und somit ihre Arbeit, ihre Obsession, nur aus Lug und Trug bestünde. Doch dem würde sie heute abhelfen.
Es war der Tag der Ablöse im Untergrund, des Machtwechsels. Ein neuer Herrscher würde sich heute auf den Thron setzen und der Befehlshaber des Heeres der Nacht werden. Es war der Zeitpunkt der Wiedergeburt der schrecklichen Macht, welche die Stadt an den Teufel verkaufte. Es war der Zeitpunkt der Schwäche des Reiches, wenn man den Büchern über Prophezeiungen Glauben schenken konnte. Einmal in siebenundneunzig Jahren wird die Befehlsgewalt abgelöst und dann ist sie verletzlich, dann und nur dann kann man den Herrscher stürzen und das Heer vernichten.
Und es war der Zeitpunkt, in dem Anne Marie Hallauer zeigen konnte, dass sie nicht bloß eine Verrückte war, die an Halbwahrheiten glaubte, sondern dass sie Recht hatte an all das zu glauben. Dann würde die Wissenschaft für das Übersinnliche sensibilisiert werden und das Böse aus der Welt schaffen. Niemand konnte sie dann wie ein kleines Mädchen behandeln, das in der Welt ohne Ziel und Verstand herumlief, ihre Zeit mit Aberglauben verschwendete und blind für das Wichtige im Leben war. Niemand.
Im Geiste sah, wie ihr Vater ehrfürchtig zu ihr empor blickte und seine Tochter umarmen wollte und wie sie mit einem herablassenden Lächeln wegging. Sein Kopf wurde rot und er schrie etwas, doch sie hörte nicht hin. Sie ging einfach nur davon und hinter ihr konnte sie ein platzendes Geräusch und erschrockene Stimmen hören. Doch sie stolzierte einfach weiter.
„Ich denke, das ist sie wirklich?“ keuchte ein Schatten aufgeregt.
„Das kann sein. Komm, wir sagen Krekara bescheid!“ Zwei Schatten flitzten an Anne vorbei. Sie folgte ihnen.
Das Knicklicht offenbarte ihr eine seltsame, unheimliche Welt. Anne war den Schatten bis zu einer Höhle gefolgt, die versteckt hinter zwei Bäumen in ein altes Gemäuer führte. Anfangs konnte sie nur den Geruch alten Gewölbes, faulenden Holzes und einen seltsamen säuerlichen Gestank wahrnehmen, doch das fluoreszierende Licht zeigte ihr etwas, das den Geruch in seiner Unheimlichkeit übertraf.
Sie hielt sich in einem Gang auf, dessen Decke von Spinnweben verborgen war, die so zahlreich und dicht waren, dass sie beinahe wie ein Stück Stoff aus einem seltsamen Material aussahen. Tausende Fliegen waren darin gefangen, sogar eine Amsel hing mit aufgerissenem Schnabel tot von der Decke. Sie sah aus wie ein Luftballonvogel, aus dem die Luft entwichen war, klein und runzelig. Als Kind hatte Anne Luftballone geliebt, sie waren so ziemlich das einzige Spielzeug gewesen, dass sie von ihrem Vater bekommen hatte. Und es waren die einzigen Momente, in denen sie zusammen gelacht hatten... Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, dass sie keinen Luftballon anblickte. Die Spinnen hatten sich sicherlich wochenlang an dem Vogel gelabt. Kalte Finger strichen von ihrem Nacken bis ans untere Ende ihrer Wirbelsäule und es schien als unternahmen ihre feinen Körperhärchen einen suiziden Versuch, sich aus der Haut zu lösen. Sie schüttelte sich.
Die Wände waren rotbraun und sahen weich aus. Sie berührte die Wand zu ihrer Linken und schrie auf. Kann das denn sein? dachte sie. Langsam griff sie wieder hin. Es konnte sein. Sie spürte ein leichtes Pulsieren unter einer weichen Schicht. Es kam ihr vor, als wäre sie von einem riesigen Ungeheuer verschluckt worden und irre nun durch den Magen des Wesens. Der säuerliche Geruch wurde stärker und sie beschloss, die Wand nicht mehr anzufassen.
Langsam ging sie weiter, bemüht sich jedes einzelne Detail zu merken, um es später aufschreiben zu können. Rotbraune Wände. Spinnweben. Gestank. Sie war nun am Ziel, das wusste sie. Sie hatte den Eingang in die Unterwelt gefunden, Kardor, wie es in den Büchern beschrieben wurde. Nur eines fehlte. Es gab keine Wachen. Die Literatur sprach von zwei Wachen aus Stein, die für gewöhnlich schliefen und nur aufwachten, wenn sich ein Eindringling näherte, um ihn in das Verließ zu führen, wo er gequält, durch fremdartige Getränke am Leben gehalten und weiter gequält wurde. Sie waren weg und das lag wahrscheinlich an dem Machtwechsel, an der Verwundbarkeit der Schattenwelt.
Sie konnte nun freilich wieder gehen, konnte den hiesigen Wissenschaftern bescheid sagen, die dann den Ort heimsuchen und zerstören würden. Arbeiten würden darüber geschrieben werden, die ihren Namen erwähnen. Zumindest zu Beginn. Dann würden sich Universitäten einmischen und den Ruhm kassieren und ihr Vater würde wieder einmal sehen, dass seine Tochter nicht fähig sei, etwas zu Ende zu bringen. Das konnte sie nicht zulassen! Sie musste den Ort gänzlich erforschen, dann ein Buch schreiben, Interviews geben und schließlich in die Geschichte eingehen.
Ein lang gestrecktes Stöhnen erfüllte den bisher stillen Ort. Die Wände wurden enger und noch bevor sie reagieren konnte, war sie plötzlich eingeschlossen, gefangen von riesigen Gedärmen. Links und rechts spürte sie weiches, pulsierendes Fleisch, dessen Herzschlag wie ihr eigener schneller und schneller ging. Sie ließ das Knicklicht fallen und es wurde dunkel. Der Gestank wurde intensiver und sie begann zu husten, doch mit jedem Atemzug kam mehr von der verseuchten Luft in ihren Körper. Sie wurde weiter zusammengequetscht. Die Oberfläche der lebenden Wand spannte sich und riss auf. Eine Flüssigkeit rann auf sie herab und durchnässte ihre Kleidung, ihre Schuhe und ihr Haar. Sie hatte einen faulen Geschmack im Mund und bemerkte erst jetzt, dass es die Ekel erregende Flüssigkeit war. Sie spuckte und hustete, aber weder den Gestank, noch den furchtbaren Geschmack konnte sie loswerden.
Sie drohte ohnmächtig zu werden.
War nun das Ende ihrer Mission gekommen, ihrer Aussicht auf Erfolg?
Erst später kam ihr der Gedanke, dass es auch das Ende ihres Daseins hätte sein können.
Die Wand ließ sie los und sie fiel.
In der Ohnmacht ihres Sturzes kam ihr die Welt plötzlich sehr unwirklich vor. Sie fühlte sich wie Alice, die in ein schreckliches Wunderland fiel, die zuvor nicht einem knuddeligen Kaninchen, sondern Schattenwesen gefolgt war.
Schrilles Lachen kam an ihr Ohr und verschwand wieder. Die Gerüche wechselten sich ab. Der saure Gestank wurde durch den Geruch der Kanalisation abgewechselt. Sie roch Abfall, Müll und Kuhmist, aber auch Zimt, Honig und Blumen. Es war seltsam und widersprüchlich.
Augen funkelten rot in der Ferne. An manchen fiel sie vorbei, doch einige flogen mit ihr in die Tiefe. Schreckliche Begleiter, an die sich ihr Gehirn nicht erinnern wollte, krallten sich an ihre Jeans und ihre Weste. Sie hörte unzählige Stimmen rufen: „Das ist sie, das ist sie!“
Und sie war es. Eine Bedrohung für ihr Reich, die sie vernichten mussten. Warum war sie nicht vorher schon geflohen, draußen in ihrer Welt, als sie die Schatten über sie sprechen hörte? Sie war erkannt worden und nun musste sie vernichtet werden.
Dann verlor sie das Bewusstsein.
Das erste das Anne nach ihrer Bewusstlosigkeit wahrnahm, war sie selbst und ihr Drang nach Ruhm und Anerkennung. Es war zu einem ihrer Grundbedürfnisse geworden, größer zu sein als die anderen und hatte sie schließlich in den Tod getrieben. So dachte sie zumindest zu Beginn.
Dann öffnete sie die Augen und merkte, dass sie lebte. Graue Steinwände bildeten eine unüberwindbare Mauer. Über ihr war eine graue Decke aus Stein. Sie konnte nach ihrem Sturz unmöglich hier gelandet sein, überlegte sie. Die einzige Möglichkeit war, dass sie gefangen genommen worden war.
„Verdammte Scheiße“, rief sie wütend und die Worte kamen tausendfach von den Wänden wieder zurück und schallten in ihrem Ohr wie ein abstruser Kinderchor. Sie fühlte sich nun sehr klein und hilflos, wie ein kleines Mädchen, das durch ihre eigene Dummheit ihre Lieblingspuppe verloren hat.
Aus ihrer Zelle gab es nur einen Ausgang und der war durch dicke Gitter verschlossen. Sie konnte nicht fliehen und würde gefangen bleiben, bis die Wesen kamen, scheußliche Kreaturen die ihre Haut schälen und ihre Knochen brechen würden und fiele sie in Ohnmacht, so würde sie trinken und weiterleben, vielleicht sogar ewig gequält werden in einer Hölle, in der sie durch ihre eigenes Verschulden gefangen war.
„Mein Gott, ich hab dir doch gesagt, dass eine Spinnerin wie du zu nichts fähig ist. Warum hast du nicht gleich auf mich gehört, du dumme, selbstherrliche Göre!“ Es war die Stimme ihres Vaters, die nun zu ihr gesprochen hatte. Es war unmöglich und sie wusste sofort, dass es ihr Verstand oder die Umgebung war, die ihr einen Streich spielte. Doch ganz egal was die Ursache war, sie wurde so wütend, als stünde er neben ihr, nach Tabak und Alkohol riechend, seine Hand in der Trainingshose.
Sie konnte nicht einfach nur so daliegen und nichts tun, diesen gefallen konnte sie ihren Vater nicht machen. Sie stand auf und ging zu dem Gitter, das ihr den Ausgang versperrte. Sie ergriff es, rüttelte und wollte gerade zu schreien anfangen, als sie das Gitter in der Hand hielt. Es war nicht verschlossen gewesen, sondern lehnte nur an der steinernen Öffnung. Sie lachte laut auf. War das etwa die Unterwelt? Eine unverschlossene Tür?
Kopfschüttelnd schlüpfte sie durch die Öffnung. Der Tag der Ablöse hatte wohl viele Schwächen zur Folge. Draußen waren Stimmen zu hören, Stimmen einer großen Versammlung. Es war kalt und ein pfeifender Wind zog durch die Steinmauern, aber die Umgebung war viel weniger bedrohlich als der Eingang in den Untergrund. Weder stank es, noch war der Anblick der Umgebung Furcht einflößend.
Sie überlegte, wohin sie gehen solle, und entschied den Stimmen zu folgen. Sie schlich durch den Gang, leise, so dass sie niemand hören könne. Sie gelangte zu einer Art Tür, die mit einem Notausgangzeichen beschriftet war. Das Zeichen sah irgendwie fehl am Platz aus. Der Untergrund, der für so viel Böses verantwortlich war, brauchte also tatsächlich einen Notausgang. In Annes Kopf wuchs die Verachtung für den Untergrund. Er hatte so viele Schwächen und Fehler, das es ihr ein leichtes Spiel seine würde, ihn heute zu vernichten. Weg waren Bedauern und Selbstvorwürfe über ihr Risiko. Sie ärgerte sich nur noch, dass sie keinen Stift in der Tasche hatte, um sich Notizen zu machen. Den Notausgang würde sie bestimmt vergessen.
In der Tür war ein Schlitz durch den sie in einen Saal blicken konnte.
„Verbeuge dich vor deiner Tochter, Vater!“ flüsterte sie, als die ihren Kopf an die Tür lehnte und ein Lichtstreifen ihre Augen bedeckte, „Nie wieder wirst du mich demütigen.“
Sie hatte Recht.
Es gab ein Fest in der Unterwelt und alle waren anwesend. Ein besonderes Ereignis würde statt finden, eine Begebenheit, die nur alle siebenundneunzig Jahre stattfand. Heute war es soweit.
Der Saal war für die Begebenheit besonders gerichtet. Alles war sauber und das Gold aus dem die Wände, der Boden und die Decke bestanden, glänzte wunderbar. Die schönsten Götzenbilder waren aufgehängt, Bilder, die ihre Opfer zeigten, schmückten die Wände. Jedes einzelne Bild erzählte eine Geschichte und unter dem Bild war der Name des Helds eingetragen, dessen, der für die grausame Bluttat verantwortlich gemacht wurde. Links und rechts des Saales waren lange Holztische gestellt, Sessel mit weichen Kissen standen davor. Die Tafel war bereits gedeckt. Das, was es zu Essen gab, vermochte man nicht zu beschreiben, jedenfalls war es ein Brei, der den Kreaturen der Schatten sehr wohl schmeckte und nur zu den höchsten Festen gerichtet wurde. Ein riesiger Luster, der von handförmigen Ketten von der Decke hing, spendete kaltes Licht, das dem des Mondes glich. Denn so wie der Mond das Licht der Sonne auf die Erde reflektiert, so reflektierte dieses Licht, ja der ganze Saal, das Licht des Bösen auf die Erde.
Die Gäste waren seltsame Kreaturen, die ein Mensch nur schlecht zu beschreiben vermochte. Anne tat sich in ihrem Versteck sichtlich schwer, sich die richtigen Worte zur Beschreibung dieser Wesen einzuprägen. Es waren Geisterwesen, deren Umrisse nicht eindeutig bestimmbar waren, dennoch waren sie körperlich, also physisch manifestiert, keine rein spirituellen Geister. Sie konnten auch nicht schweben, sondern mussten sich hinsetzen und mussten Türen benutzen, anstatt durch Wände zu gehen. Und auf eine bestimmte Weise beruhigte sie das. Sie hatte sich Wesen erwartet, die so übernatürlich waren, dass sie ihr Geist nicht fassen konnte. Oder zähnefletschende Ungeheuer, mit überempfindlichen Sinnesorganen, die sie sofort auffinden und fressen würden. Aber so war es nicht, sie war unbemerkt geblieben und konnte ihren Artikel doch noch zu Ende bringen, Ruhm und Ehre erlangen. Weg war die Angst vor dem Tode.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein weiteres Geisterwesen kam herein. Der Herrscher der Schattenwelt wurde angekündigt. Anne wusste es einfach. Das Wesen schien auf eine mentale Weise mit allen anderen zu kommunizieren und sie war zufällig in der Reichweite. So wie man den Polizeifunk abhören konnte, stellte man bei einem Funkgerät die richtige Frequenz ein und kam ein Polizeiauto nah genug, so empfing auch Anne die Botschaft. Sie war gespannt, wie der Herrscher des Bösen aussehen würde. Krekara hatten sie ihn genannt. Ein schrecklicher Name, der Schreckliches vermuten ließ. Es war bestimmt eine teufelsähnliche Gestalt mit Hörnern und bluttriefendem Maul. Oder es war ein Geisterwesen, so wie die anderen, nur größer und mächtiger und ihr Verstand würde platzen, wenn sie ihn ansah.
Die Wesen warfen sich ehrfürchtig zu Boden. Es war ein Bild wie es in Geschichtenbüchern aus dem Orient zu finden war, der Sultan kam herein und die Untertanen warfen sich zu Boden.
Doch es kam kein Sultan herein, sondern eine Frau. Sie war in schwarzes Leder gekleidet, das sie wie eine zweite Haut umzog. Sie war nicht älter als achtundzwanzig, hatte langes, schwarzes Haar und war auf eine gefährliche Weise wunderschön. Elegant schritt sie zu ihrem Thron. Krekara genoss ihre Macht mit einem erhabenen Lächeln.
Anne dachte nach. Krekara, wenn sie das wirklich war, war sie eine Frau, die höchstens Ende zwanzig war. Der Machtwechsel fand allerdings nur alle siebenundneunzig Jahre statt. Wie konnte das sein?
Doch sie hatte nicht viel Zeit zu überlegen. Ein Kinderwagen wurde in den Saal geschoben und ein klagendes Weinen war zu hören. Ein Geisterwesen schob ihn bis zu dem Thron Krekaras und Anne konnte in dem Kinderwagen ein kleines Baby erkennen.
„Blut ist der Lebensinhalt alles Lebens und fremdes Blut ist der Lebensinhalt der Unterwelt und Blut begründete auch die Dynastie des neuen Herrschers“, sprach Krekara andächtig, „Zur Feier dieses Tages mache ich euch, meine Untertanen, ein besonderes Geschenk. Ich Krekara höchstpersönlich opfere das höchste Leben zu eurem Wohlergehen und trete hiermit zurück.“ Ein Seufzen ging durch die Menge der Geisterwesen. „Doch ihr werdet nicht ohne Herrscher verweilen. Der neue wird jünger sein als ich, mehr Elan haben und euch zu größeren Taten führen, als ich es je gekonnt hätte. Wir blicken einer glorreichen Zukunft entgegen, in der unser Vater mehr als nur stolz auf uns sein wird. Es lebe das Heer der Nacht!“
Sie zog einen goldenen Dolch aus ihrem Gürtel und hob ihn in die Höhe, so dass jeder ihn sehen konnte. Es wurde still und Anne konnte die Lust und die furchtbare Leidenschaft der Wesen spüren, die Vorfreude auf das Opfer. Es wurde still und nur das jammernde Weinen des Säuglings war zu hören.
Anne schritt ein. Jetzt oder nie. Würde sie je eine Arbeit über die folgenden Vorgänge schreiben, so würde es sich bestens machen, wenn darin stünde, dass sie einem kleinen Menschen das Leben gerettet hatte. Die Macht der Wesen war nun geschwächt, zumindest stand es so in den Büchern und sie errechnete sich eine reelle Chance, die Königin zu töten.
Alles ging nun sehr schnell. Sie trat in die Tür, die sofort aufsprang. Die Wesen lenkten ihre Gedanken zu dem Eindringling.
„Ist sie das?“ fragten sie sich. „Das könnte sie doch sein.“
Anne hatte nicht lange Zeit, sich umzusehen. Sie rannte auf den Thron zu. Es waren bestimmt dreißig Meter, die sie zu rennen hatte, dreißig Meter, die den Wesen blieb, um sie aufzuhalten. Doch sie hielten sie nicht auf. „Ich denke, das ist sie wirklich!“
Krekara stand noch immer vor dem Kinderwagen, den Doch hoch erhoben in ihrer Hand. Anne konnte sehen, wie ihre Augen flackerten. Böses und Grässliches sah sie darin. Doch nur ihre Augen sahen fremdartig aus, der Rest wirkte dünn und verletzlich.
Anne sprang über den Kinderwagen, riss Krekara den Dolch aus der Hand und trieb ihn ihr in die Brust.
Irgendetwas huschte aus dem Gesicht Krekaras und Anne hielt auf einmal eine über hundert Jahre alte Frau in Händen. Sie war tot. Der Bann war gebrochen. Sie blickte in Richtung des Kinderwagen, doch er war weg, so als hätte es ihn nie gegeben.
Sie hatte sich keine Sekunde lang gefragt, warum das alles so leicht ging.
Ein grässliches Heulen brach los, nicht flehend wie das des Kindes, sondern lüstern und obszön. Es kam von den Geisterwesen, die sich windend mit rot leuchtenden Augen einer widerlichen Extase hingaben...
In dem Zimmer ließ die große Wanduhr ein stetiges Ticken von sich und selbst Henry, der schon jahrelang hier aß, schlief und unseriöse Filme ansah, konnte es nicht ganz aus seinem Ohr verbannen. Es war immer da, einmal lauter und einmal leiser, aber im starken Kontrast zu der Zeit, die es symbolisierte, verging es nie.
Henry saß mit seinem Freund Gregor an einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Es war düster und neblig von dem blauen Rauch der Zigaretten und von der Deckenbeleuchtung funktionierte nur eine der vier Lampen. Doch das war den Männern egal, sie wussten besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als sich über Zimmerarchitektur Gedanken zu machen.
„...und die Tochter geht zum Vater, schaut auf seinen Pimmel und fragt ihn: ,Du Papa, bekomm ich das auch einmal, wenn ich groß bin?´ Und der Papa sagt: ,Nein, schon in vier Wochen, wenn die Mama auf Kur ist!´“ Die beiden Männer lachten aus vollem Halse und klopften sich auf die Schenkel. Fortwährendes Stöhnen klang aus dem Fernsehapparat.
„Schalt´ doch den Scheiß ab!“ befahl Henry mürrisch, als er sich von seinem Witz erholt hatte. Gregor tat wie ihm gesagt wurde, nahm die Videokassette aus dem Recorder und steckte sie in die rote Hülle zurück.
„Verdamm, Henry! Ich muss pissen!“ bemerkte Gregor und ging in Richtung Toilette.
„Ach was, wichsen musst du, du alter Hurenbock! Besorgt’s dir deine Frau nicht richtig, was?“
„Wenigstens hab ich noch eine...“, murmelte er, stieß mit der Schulter hart gegen den Türstock und verschwand schließlich im Badezimmer.
Henry wollte noch etwas antworten, aber der Whisky hatte seine Lippen trocken und seine Zunge schwer gemacht. „Fick dich doch“, dachte er sich nur.
Als er alleine in dem Zimmer saß, blickte er sich um. Es war kalt geworden. Seine Uhr zeigte halb drei Uhr nachts und er konnte den Wind hören, der draußen durch die Nacht pfiff und das verstärkte das Gefühl von Kälte. So stand er von dem Tisch auf und wankte zu dem geöffneten Fenster.
„Scheiß Alkohol“, dachte er sich und machte ihn dafür verantwortlich, dass ihm der Wind plötzlich so laut vorkam.
Er lehnte sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett und blickte in die Finsternis. Langsam entschlüpfte das Gefühl von Betrunkenheit in eine sich langsam drehende Welt. Der Wind blies ihm kühl ins Gesicht und er schloss die Augen. Es roch nach dem sich ankündigenden Morgen, nach Tau und Gras, feucht und würzig. Er konnte das Rascheln des Windes in den Blättern der Bäume hören und fühlte plötzlich eine innere Ruhe. Er atmete tief ein und aus.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Er riss die Augen auf und sah draußen in der Nacht ein rot leuchtendes Augenpaar. Einbildung.
Abermals klopfte es.
„Wer zum Teufel...?“ dachte er sich und schloss das Fenster. Die Uhr zeigte drei Uhr fünfundzwanzig und ihr Ticken schwoll zu einem durchdringenden Pochen an.
Henry ging zu der Tür. Ihm fröstelte.
„Wer ist da?“ schrie er halblaut.
„Ein Freund“, kam die leise Antwort. Er war zu müde und zu betrunken um nachzudenken und öffnete die Tür.
Vor ihr stand ein in Laken gehüllter Obdachloser, in dessen braungrauen Bart eingetrockneter Speichel klebte. Eine traurige Gestalt, ein Wesen der Nacht, dessen Lebensziel es war, genug Geld zusammenzubetteln um sich den nächsten Tag erträglicher zu trinken. Doch dieser Obdachlose schien anders zu sein.
„Ich bin ein Freund ihrer Tochter“, erzählte er und schritt unaufgefordert ins Zimmer, „Ihrer Tochter Anne, sie erinnern sich, nicht wahr?“
„Verschwinden Sie!“, stieß Henry auf, „Ich werd’ dir nichts geben, geh doch arbeiten wie...“
„Oh nein, ich werde nichts verlangen, ich werde geben“, sagte der Fremde väterlich und berührte mit seiner schmutzigen Hand Henrys Wange. Seine Augen glänzten seltsam. „Wer ist denn im Badezimmer?“
Henry entriss sich nur langsam dem Blick des Obdachlosen. Er hatte ein seltsames Gefühl, ein Gefühl, als spräche da kein Mensch zu ihm, sondern etwas stärkeres, mächtigeres. Gierigeres.
„Verschwinden Sie!“ befahl er kraftlos und der Obdachlose ging wieder in Richtung Tür.
„Ihre Tochter macht sich sehr gut in ihrem neuen Beruf., Herr Hallauer. Ihr Ehrgeiz und ihr Hass sind ein großer Antrieb für uns alle.“ Henry ging rückwärts zu dem Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand und setzte sich auf den Stuhl. Das Ticken der Uhr durchdrang seinen Körper und zwang ihm einen neuen, eigenartigen Herzschlag auf. Er atmete schwer. „Gute Nacht, Herr Hallauer!“
Der Obdachlose zwinkerte ihm zu, schloss die Tür und schließlich fiel die Welt wieder auf Henry herab. Alles war wieder wie zuvor und er hatte große Zweifel, ob das, was da eben passiert ist, wirklich geschehen war.
Die Tür öffnete sich wieder, doch diesmal war es jene, die ins Badezimmer führte.
„Gregor, du wirst nicht glauben, was eben passiert ist“, japste Henry noch immer nach Luft ringend.
„Werde ich nicht?“ sagte Gregor monoton, den Blick ins Leere gerichtet, ergriff die Schere, die in der Vitrine lag und stellte sich hinter Henry.
Das Ticken der Uhr vermischte sich mit dem Rot der Augen und der Wärme des Blutes.
Ein Ruf schallte durch die Stadt.
Das Heer der Nacht strömte aus. Zu Millionen kamen sie aus dem Nest gekrochen und kamen wie eine schwarze Flut über die Stadt. Sie verteilten sich schnell wie ein Krankheitserreger in einem alten Körper. Unbemerkt waren sie überall dort, wo es Böses und Grauenvolles gab, und lachten mit dem Schreien und Wehklagen, das seit kurzem so zahlreich durch die Nächte klang.
Krekara stand mit erhobenen Armen am steinernem Tor Kardors und ließ die Geisterwesen an sich vorbei. Sie lachte laut und kreischend. Es war ein Genuss für sie, alles lief so unbeschreibbar gut unter der neuen Dynastie. Die alte Fürstin hatte wahrlich Recht gehabt, als sie gesagt hatte, dass sie alt und schwach war, nun blies ein neuer Wind neues Unheil über die Stadt und es würde groß und schrecklich werden. Das würde dem Vater gefallen.
Durch den Mord an der alten Herrscherin hatte sie eine neue geboren, sich selbst und ihre dunkle Seite. Auf ein Mal hatte sie die Wahrheit des Bösen und Schrecklichen verstanden, war in die Geheimnisse der Unterwelt eingedrungen und hatte sie lieben und leben gelernt.
Blut war der Lebensinhalt alles Lebens und fremdes Blut war der Lebensinhalt der Unterwelt und Blut begründete auch die Dynastie eines neuen Herrschers.
Wer sollte sie denn schon aufhalten können?