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Das Hausschwein
Der große Krieg war gerade ein halbes Dutzend Jahre vorbei, in den Städten mühten sich die Menschen, ihr Leben in den immer noch vorhandenen Trümmern einzurichten.
Etwas besser war das Dasein auf dem Lande, noch fern des Überflusses späterer Tage, aber ausgerichtet auf Genügsamkeit und Lebenserfahrung. So wurde bäuerlicher Tradition folgend streng darauf geachtet, dass alles verwertet wurde. Das war auch hinter dem Deich nicht anders. Viehwirtschaft und Kohlanbau stellten den Schwerpunkt der Arbeit auf dem Hof, für die eigene Küche war der Garten hinter dem Haus eingerichtet. Hühner und Enten ergänzten das Angebot für den Eigenbedarf. Zu guter Letzt war das Hausschwein nicht zu vergessen. Es war nicht nur den Kindern ein guter Freund, sondern verwertete auch alle Reste aus Küche und Stall, die natürliche ökologische Recyclingeinrichtung des Hofes. Und am Ende dieses Prozesses stand mit dem Schlachtfest ein willkommener kulinarischer Höhepunkt.
DAS Hausschwein gehörte einfach dazu.
Das wusste natürlich auch die kleine Marie, obwohl nur gelegentlich auf Opas Hof zu Gast.
Sie fuhr gerne zu den Großeltern, sich ihrer Stellung als jüngstes Enkelkind voll bewusst und daraus ein besonders gütiges Entgegenkommen des sonst so strengen Alten fordernd.
Wenn niemand sonst es wagte, die familiären Traditionen in Zweifel zu ziehen, so nahm Marie in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein. Das bedeutete allerdings keine unbegrenzten Freiheiten, besonders nicht zu den hohen Feiertagen der Familie. Neben den herausragenden Festen des christlichen Abendlandes waren die Geburtsage der Großeltern Anlässe, zu denen das ungeschriebene Gesetz galt, dass ein jeder aus dem großen Kreis der Familie sich zum festlichen Beisammensein auf dem Hof einzufinden hatte.
Schon Tage vorher begannen die Vorbereitungen. Es wurde gebraten, gekocht, gebacken, Wein, Bier und Schnaps eingelagert und die Gute Stube hergerichtet, die sonst nur an Sonn- oder Feiertagen betreten oder gar benutzt werden durfte.
Doch wenn alle Kinder, deren Familien, Onkel, Tanten und Nachbarn eingeladen waren, reichte der Platz in dem gemütlichen und stets anheimelnde Wärme ausstrahlenden Raum mit der niedrigen Decke nicht aus. Dann wurde der lange Tisch in der Diele gedeckt. Auf den weißen Damastdecken standen silberne Kerzenleuchter, die Kristallgläser waren zum Strahlen gebracht, das schwere Besteck akkurat ausgerichtet und der bunte Blumenschmuck aus dem Hausgarten zierte das Werk fleißiger Frauenhände.
Endlich war es soweit. Alle nahmen Platz, die Suppenschüsseln wurden aufgetragen und die Augen richteten sich auf den Großvater, der am Kopfende der Tafel Platz genommen hatte und mit einem majestätischen Nicken das Mahl eröffnete.
Es war eine sinnvolle Einrichtung, dass die Tische aus stabilen Eichenholz gefertigt waren. So hielten sie der Last der aufgetragenen Speisen stand.
Das Kratzen von Messer und Gabel auf dem kostbaren Porzellan wurde im Verlaufe des Essens weniger, dafür vernahm man an der langen Tafel einen gelegentlichen leise unterdrückten Seufzer. Zuerst waren es die Frauen, die ihre Esswerkzeuge dezent auf den leeren Teller legten.
Mancher Mann musste einsehen, dass der Weg von den Augen bis zum Magen ein weiter ist. Verstohlen wurde der Kragenknopf ein wenig gelockert, vielleicht unter der Tischdecke auch manchem Hosenbund Erleichterung verschafft.
Es half nichts. Wer sich vorzeitig zurück ziehen wollte, musste Großvaters strafenden Blick stand halten. Das gelang niemandem. War jedoch der Teller erst einmal gefüllt, galt der eherne Grundsatz, dass das, was auf dem Porzellan liegt, auch aufgegessen wird.
Die kleine Marie, ihr war ein Ehrenplatz an Opas Seite zugeteilt, vermochte nicht zu verstehen, ob der zwischendurch getrunkene Schnaps wirklich zur besseren Verteilung der verspeisten Mengen im Mannesinneren dienlich war.
Es half alles nichts. Unter Großvaters strengem Blick mussten die Teller geleert werden. Niemand durfte sich diesem Kampf entziehen. Auch das zwischenzeitliche Einlagern in den Wangen war keine dauerhafte Lösung.
Doch Opa war nicht ungerecht. Irgendwer hatte dem kleinen Mädchen an seiner Seite den Teller gefüllt, so dass der Streit mit der Menge von Marie nicht gewonnen werden konnte.
Da der weise Alte aber seinem eigenen Grundsatz, jeder Teller müsse blank sein, nicht widersprechen konnte, half er seiner Enkelin beim Leeren dadurch, dass er die Reste von ihrem Teller selbst verspeiste.
Ein Strahlen zog auf das Gesicht des Mädchens. Sie sah ihren Großvater an, griff vorsichtig nach seiner Hand und dankte ihm lautstark auf ihre eigene Art, in dem sie allen an der Tafel verkündete:
„Wie gut, dass wir einen Opa haben. Da brauchen wir kein Schwein!“