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Das Haus
Es ist ein lauer Sommermorgen. Die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Sie sitzt auf einer Bank. Im Hintergrund zwitschern Vögelchen vergnügt in den Baumwipfeln. Doch Maria sieht weder das satte Grün der Blätter noch hört sie die fröhlichen Lieder der Vögel. Zerfressen von Sehnsucht erscheint ihr das Grün wie brauner Modder, das Gezwitscher wie hupendes Getöse; denn ihre Gedanken kreisen alleinig um ihn; ihn, den sie seit etlichen Jahren hoffnungslos liebt. Und während Maria mehr und mehr in ihren Gedanken versinkt und vergeblich nach Luft schnappt, werde ich dir, Leser, eine kleine Geschichte erzählen:
Also, T. (weiblich) und M. (männlich) haben sich ein Haus in R*** gekauft.
Ich brauche wohl nicht mehr sagen, dass T. und M. ein Paar sind. Allerdings sollte man auch nichts für unmöglich halten, weswegen ich es dennoch erwähne. T. ist ein Mädchen (23), das ich gut kannte; wer sie jedoch ist und in welcher Beziehung ich zu ihr stand, ist keinesfalls von Bedeutung, weshalb ich sie lediglich T. nennen werde; M. (auch 23) habe ich bisher nur einmal gesehen. T. studiert; M. trägt einen Blaumann. T. ist attraktiv; M. eher weniger.
Das Haus, welches ihnen in Zukunft als Liebesnest dienen soll, ist baufällig. Man könnte es also guten Gewissens abreißen. Doch sie wollen es bis zum Kern der Substanz sanieren; es kernsanieren. Klingt nicht gerade außergewöhnlich und spannend, oder? Ist es auch nicht, denn T. und M. verstehen sich prächtig (meistens jedenfalls).
Dafür einige Beispiele:
1. Sie reden kaum miteinander
2. Wenn sie dann doch mal miteinander kommunizieren, streiten sie nur
3. Die Streitereien enden meist im lauthalsigem Gebrüll und dem Zuschlagen von Türen
4. Das Zuschlagen der Türen endet wiederum damit, dass sie heilfroh ist, wenn er zur Arbeit geht – und umgekehrt
Nun muss man sich doch fragen:
Wenn die Substanz so brüchig und rissig ist, wieso um Himmels Willen versuchen sie dann diese zu retten?
Komplett abreißen und Neues wagen, wäre das nicht sinnvoller?
Um den leuchtenden Farben der Natur zu entkommen, vergräbt Maria ihr Gesicht in den Händen. Sie will nichts mehr sehen und an nichts mehr denken. Und dennoch, je länger sie dort auf jener Bank sitzt, desto mehr der vielen Geräusche dringen in ihr Gehör; lachende Kinder, ein hupendes Auto, raschelnde Blätter. Sie hebt den Kopf und öffnet die Augen. Mit ihrer Fußspitze kickt sie ein Kieselsteinchen weg. Dann schlüpft sie in ihre Flip-Flops und steht auf. Mechanisch läuft sie in Richtung Haus; denn sie wird ihre Wände neu streichen, in einem lachsrot. Aber keineswegs, weil sie die Risse darunter verbergen will. Nein, weil sie etwas Neues wagen will.
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