Das Haus in Dänemark
I.
„Nun sag schon, was du in diesem riesigen, schmierigen und unglaublich verwarzten Koffer hast!“ Sabine lachte und freute sich. Zwei Wochen Urlaub in Dänemark, mit ihren Freunden, Weihnachten, Sylvester in einer klassisch einsamen Hütte, so, wie es sein sollte. Sie waren sich alle einig, das Ungetüm nicht mitzunehmen. Er würde niemals ins Auto passen neben all dem anderen Kram. Vier Kisten Bier könnte man statt dessen noch in den Kofferraum schieben, argumentierte Ronnie und hatte Recht damit. Aber dann hatte Felix, kurz vor der Abfahrt und in einem Moment, als aus dem Spaß in Bezug auf den Koffer langsam ein echter Streit zu werden drohte, sich zu ihnen umgedreht. Hatte sie mit seinen schwarzen Augen, so dunkel, als schaue man direkt in seine Seele, angesehen und hatte gesagt, der Koffer komme mit. In einem Ton, der keine Widerworte zuließ. Damit war die Sache entschieden.
„Nein“, antwortete Felix auf seine eigene lakonische Art, während er den Koffer, der eigentlich mehr einer Truhe ähnelte, mit weißen Knöcheln am Griff packte und von der Ladekante wuchtete. Ohne sie anzusehen stob er an ihr vorbei in die Hütte, sein Haar stand wild nach allen Seiten ab. Ein paar Schneeflocken verfingen sich darin, kämpften einen kurzen Kampf ums Überleben und schmolzen schließlich dahin. Schmelzen dahin, genau wie ich, verdammt. Sabine hatte sich über beide Ohren in Felix verknallt. Aber das konnte nicht sein. Niemand verliebte sich in Felix. Das war, sozusagen, verboten.
Ronnie kam aus dem Haus gestürmt, wand sich mit seinem massigen Körper an Felix vorbei, ohne ihn zu beachten. Die Hahnenkämpfe haben jetzt schon begonnen, dachte Sabine. Hinter ihm, wie immer in zwei Schritten Abstand, dackelte Sabri hinter ihm her. Sie vermittelte stets das Gefühl, kaum mit Ronnie Schritt halten zu können, war immer etwas aus der Puste. „Was stehst du rum!“, rief Ronnie ihr im Plauderton zu. Er war ein Hüne, fast zwei Meter groß, hatte weit über einhundert Kilo drauf. Mit seinem kahlgeschorenen Schädel ging er auf den ersten Blick glatt als rechter Hooligan durch. Erst beim genauen Hinsehen, konnte man den Schalk in seinen Augen blitzen sehen. Er gab den lauten, lustigen und direkten Raufbold, war aber eigentlich ziemlich sensibel, wie Sabine genau wusste, die zwölf Jahre lang seine derben Scherze in der Schule ertragen musste und ihn mehr als einmal aus einer Nummer herausgehauen hatte. Er war äußerlich genau das Gegenteil von Felix, der so schmal und zerbrechlich wirkte und so geheimnisvoll. Irgendwie ein Wunder, dass die Beiden befreundet waren. Oder auch nicht, bei Männerfreundschaften zogen sich wohl häufig die Gegensätze an. Und Sabri? Schwer zu sagen. Bis vor ein paar Monaten hätte Sabine ohne zu zögern bestätigt, dass es sich bei Sabri um ihre beste Freundin handelte, aber irgendetwas hatte sich geändert. Sabri ging ihr immer häufiger auf die Nerven. Sie war auf dem Stand einer sechszehnjährigen stehen geblieben. Interessierte sich immer noch für die alten Sachen, trug die gleichen Klamotten, hörte die gleiche Musik. Fragte sie nie ernsthaft, wie es ihr geht. Eine Party war für Sabri nur dann gut, wenn sie sich am Morgen danach übergeben musste.
Ronnie klaubte eine Menge Sachen aus dem Kofferraums des alten Passat zusammen. Stöhnte übertrieben etwas in der Art, dass er alles alleine machen müsse und verschwand in der Hütte. Zwei Wochen, dachte Sabine, können doch ganz schön lang werden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, niemanden ihrer drei Freunde wirklich zu kennen. Sie würde die vierzehn Tage mit Fremden verbringen. Sie spürte ein Ziehen in ihren Eingeweiden und musste zu ihrer eigenen Überraschung feststellen, dass es Heimweh nach Hamburg war. Völliger Quatsch, Hamburg ist gerade mal vier Autostunden entfernt, jetzt werd echt mal nicht albern. Und dennoch, es begleitete sie ein Gefühl der Beklemmung, als sie ihre Tasche schulterte und über den schmalen, vom Schnee rutschigen, Weg ins Haus stampfte, das dunkel und kalt vor ihr lag.
Als am Abend in dem kleinen Bollerofen das Feuer knisterte, die vierte Flasche billiger Rotwein geöffnet wurde und sie über die schmutzigen Witze von Ronnie lachten, waren die düsteren Gedanken weggewischt. Es war der zweite Weihnachtstag. Sie hatten Kerzen aufgestellt und sogar einen Tannenzweig aus dem Wald vor dem Haus besorgt und mit ein wenig Weihnachtsschmuck den Tisch dekoriert. Es war richtig gemütlich und Sabine atmete insgeheim auf. Es würden doch zwei schöne Wochen werden. Sie waren alle ziemlich betrunken und waren dazu übergegangen „Wer bin ich“ zu spielen, nachdem sich die Storys von Ronnie zu wiederholen begannen. Nachdem sie Gandhi, Papa Schlumpf und Boris Karloff im endlosen „Bin ich…“ „Ja, nein“ durch hatten, war Sabri dran, sich etwas auszudenken. „Das errätst du nie“, lallte sie im hohen Ton und klatschte Felix ziemlich unsanft einen Zettel an die Stirn, ließ sich in ihren alten Sessel fallen und nahm kichernd einen großen Schluck Wein. Als Sabine später gefragt wurde, wann sie zum ersten Mal gemerkt habe, dass etwas nicht stimmte, verwies sie auf genau diesen Augenblick. Felix war bis dahin bester Laune gewesen und hatte, ganz untypisch, schallend über die Münchhausengeschichten von Ronnie gelacht. Doch in diesem Moment entgleisten seine Gesichtszüge und seine ohnehin schon dunkeln Augen wurden rabenschwarz. Sabine dachte zunächst, dass Felix sich vom Alkohol übergeben musste, aber dann sagte er mit einer tonlosen Stimme, die nicht ihm zu gehören schien: „Bin ich ein Mensch mit zwei Gesichtern?“ „Wie bitte?“, fragte Sabri verunsichert. „Du hast gesehen, was auf dem Zettel steht. Gib´s zu!“ Ronnie war mit seinem Handy beschäftigt und war nicht bei der Sache. Felix starrte in die Ferne wie in Trance, ging nicht auf Sabris Einwand ein und sagte: „Bin ich jemand, der sich verwandelt und anderen Menschen Schmerzen zufügt?“ Es vergingen etliche Sekunden, ohne dass jemand etwas sagte. Schließlich flüsterte er: „Bin ich Dr. Jekyll und Mr. Hide?“ Sabri knallte das Weinglas auf den Tisch, sprang auf und riss Felix den Zettel von der Stirn. „Du bist ein Arsch, Felix!“, sie zerknüllte das Papier, öffnete umständlich die Ofentür und warf das Kügelchen hinein. Dieses Stück Papier wird nicht brennen, dachte Sabine, ohne zu wissen, warum. Und tatsächlich schien es zunächst nicht Feuer fangen zu wollen. Sabine wurde es mit einem Mal sehr kalt. Dann ging das Papier zum Glück in Flammen auf. „Ich geh ins Bett!“, Sabri schnaufte, schien richtiggehend sauer und verschwand im Badezimmer. Sabine wandte sich wieder Felix zu. Der drehte langsam seinen Kopf zu ihr und starrte sie an. Nein, er starrt nicht mich an, sondern durch mein Äußeres hindurch in mein inneres Ich, in mein Unbewusstes, in meine eigentliche Existenz. Sie fühlte sich nackt und war zeitgleich hingezogen und abgestoßen von ihrem seltsamen Gegenüber. Die Zeit schien still zu stehen. Das Feuer im Ofen knackte. Draußen pfiff der Wind, als wolle er den Bäumen des Waldes ein unmoralisches Angebot machen. Die herrenlose, zottelige Katze, die schon die ganzen Tage ums Haus schlich, heulte und quäkte. Reiß dich zusammen, dachte sie und gab Ronnie einen unsanften Fußtritt gegen das Schienbein. „Ey du Kackvogel, du bist dran!“ „Wie, was?“, machte Ronnie übertrieben und legte sein Mobiltelefon zur Seite. „Jekyll und Hyde? Voll bescheuert! Ich denk mir jetzt was aus, da kommt ihr nie drauf!“ Sabine tippte, dass Ronnie etwas in Richtung Adolf Hitler oder Barack Obama aufschreiben würde, und behielt Recht damit. Aber der Abend war eh gelaufen. Irgendwann murmelte Felix etwas wie „Ich bin müde“ und schlich sich davon. Und bevor Ronnie irgendwelche Zoten mit dem Hintergrund, dass sie ja nun alleine seien, machen konnte, ging auch sie ins Bett. Als sie sich zuvor im Badezimmer lange im Spiegel anschaute und sich bald fragte, ob sie diejenige da gegenüber wirklich selber sein könne, lag ihr plötzlich die Aussicht auf die zwei Wochen wieder schwer im Magen, als hätte sie etwas schlechtes gegessen. Ihr ging durch den Kopf, dass Felix unmöglich gesehen haben konnte, was Sabri aufgeschrieben hatte. Unsinn. Vermutlich hatte sie nur zuviel getrunken.
Die nächsten Tage verliefen ruhig. Sie machten lange Spaziergänge durch die einsame, weiße Landschaft. Hier und da lag ein Bauernhof, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Am drittletzten Tag des Jahres waren sie unbeabsichtigt lange unterwegs. Felix war im Haus geblieben. Er wollte lesen und schlafen, das Alleinsein genießen. Sabine hatte kurz überlegt, sich ihm anzuschließen. Bei dem Gedanken, mit Felix allein im Haus zu bleiben, war ihr heiß und kalt geworden. Sie hatte sich dann dagegen entschieden. Erstens war es zu offensichtlich, zweitens, der Gedanke war ihr merkwürdiger Weise auch etwas unheimlich. So stampften sie mit ihren Mänteln und gefütterten Stiefeln über die Felder und Pfade der Umgebung. Nur hier und da wurde die perfekte Ebenmäßigkeit der Schneedecke durch ein paar Fußspuren eines Bauern oder eines Tieres unterbrochen. Die Baumreihen in der Ferne, die die Felder von einander trennten, sahen aus wie verkrüppelte Krähenfüße. Dort, wo keine Bäume den Blick störten, verschmolz das Weiß der Erde mit dem Weiß des Himmels. Es war bitter kalt. Sie sprachen wenig. Die Stimmung hatte sich eingetrübt, als sie bemerkten, dass ihre Tour viel länger dauerte als geplant. Sie waren nun seit über drei Stunden unterwegs und ihnen schlotterten die Knochen. Sabine hatte bemerkt, dass zwischen Sabri und Ronnie etwas nicht stimmte. An einem guten Tag hätte Ronnie seine Freundin schon dreimal mit Schneebällen beworfen, sie spielerisch in den Schnee gedrückt und sie mit dem weißen Pulver eingeseift. Und Sabri hätte gequiekt vor Vergnügen. Statt dessen trotteten sie nebeneinander her, die Köpfe waren gesenkt.
Sabine praktizierte etwas wie „über das Leben nachdenken“, wenn sie die Kälte für ein paar Minuten vergessen konnte. Das erste Semester ihres Lehramtsstudiums lag hinter ihr. Würde sie in ein paar Jahren zu dem hochmotiviert beginnenden, aber schnell ausgebrannten Kollegium gehören? Sie war erst kurze Zeit an der Uni, aber sie konnte jetzt schon sagen, das sie sich das alles bunter, lustiger, wilder vorgestellt hatte. Aber statt lange schlafen, verschworene Gemeinschaft und abgedrehte Partys sah sie nur gehetzte, müde Gesichter auf dem Campus. Auf der Stirn der meisten stand „Lass mich in Ruhe, ich muss büffeln“ geschrieben. Und was war mit Felix? Würde etwas werden oder würde er später nur eine Randnotiz ihrer frühen zwanziger Jahre sein? Sie mochte ihn, trotz seiner Merkwürdigkeiten, trotz seiner Probleme. Andererseits hatten sie sich eigentlich wenig zu sagen, wenn sie zufällig mal alleine waren. Komisch, sie hatte gedacht, sie würde mit Beginn des Studentenlebens einen Berg im Himalaya erklimmen und von oben auf das Leben blicken und rufen: „Alles meins!“. Statt dessen war sie in einem stickigen Dschungel gefangen, in dem sie keine zehn Meter nach vorne blicken konnte. Du läufst hier durch die bittere Kälte und denkst an einen tropischen Urwald. Irgendwie bist du ein Schussel, Sabinchen. Sie war froh, als sie endlich auf den ihnen bekannten, mit kahlen Bäumen flankierten Weg einschwenkten. Nun waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zum Ofen, heißem Tee und zur warmen Dusche. Plötzlich stieß Sabri einen erstickten Schrei aus. Sabine und Ronnie sahen zu ihr herüber. Sie hatte den behandschuhten Finger ausgestreckt und zeigte auf etwas, das abseits des Weges in den Ästen hing. Leise flüsterte sie: “Was, bitte, ist das.“ Sie folgten ihrem Blick. Sabine erkannte zunächst nur etwas sackartiges, das dort in den Zweigen hing. Der Sack dampfte und tropfte. Langsam ging sie näher. Ronnie und Sabri schlichen hinter ihr wie Marathonläufer im Windschatten des Führenden. Als Sabine schließlich sah, um was es sich handelte, wurde ihr kurz schwarz vor Augen. Es war die Katze. Ihr Bauch war aufgeschlitzt und die roten Gedärme hingen heraus. Das langsam versiegende Blut tropfte wie ein undichter Wasserhahn. Das noch flüssige Blut und die dampfenden Innereien machten klar, dass das arme Vieh noch nicht lange so hängen konnte. Das Genick des Tieres war gebrochen. Das Fell verklebt. Die Augen waren blass und schienen in zwei unterschiedliche Richtungen zu blicken. Der Schnee unter ihr war aufgewühlt und rosa eingefärbt. Für eine kurze Sekunde wollte sich Sabine weismachen, dass irgend ein anderes Tier das arme Ding gerissen hatte. Aber kein Tier würde eine Katze ein Stück Bindfaden an den Schwanz knoten und im Geäst eines Baumes hängen. Das tote Wesen drehte sich langsam im frostigen Wind. Sabine drehte sich zu den anderen herum. Ronnie schaute so, als würde er über eine komplizierte Matheaufgabe brüten. Ins Gesicht Sabris war das pure Entsetzen geschrieben. „Ich hau ab!“, flüsterte sie „Ich schwör euch, hier bleib ich nicht länger. Ich hau ab, heute Abend noch. Auf so etwas hab ich keinen Bock.“ Sabine blickte sich um. Die Wunde des Tieres war noch so frisch, dass sie eigentlich irgendetwas ursächliches sehen müsste. Doch da war nichts. Nur ihre Hütte lag in der beginnenden Dämmerung ein paar hundert Meter vor ihnen. Es sieht aus, befand Sabine, wie ein Hexenhaus.
Am Abend floss der Alkohol. Felix war sehr still. Stumm hatte er ihrer Geschichte zugehört. Er beteuerte, nichts von dem mitbekommen zu haben, was da draußen, quasi vor seiner Nase, stattgefunden haben musste. Er schien sehr betroffen. Er hatte erst vor kurzem seine eigene Katze namens Bela Lugosi begraben müssen, die von einem Auto überfahren worden war. Sie hatten abgestimmt und mit drei zu eins Stimmen beschlossen, hier zu bleiben. Zum Erstaunen der anderen fügte sich Sabri geräuschlos dem Votum. „Solange du bei mir bist, Ronnie“, sie hatte ihn am Arm gepackt und zu ihm hoch geschaut. Es schien Sabine, als sei das ihr Beitrag, damit sich Ronnie wieder mit ihr vertragen würde. Allerdings stellte Sabine später, als sie in ihr Etagenbett steigen wollte, mit Belustigung fest, dass sich Sabri, die unten schlief, zur weiteren Sicherheit den Schürhaken des Kamins ans Bett gestellt hatte. Je betrunkener sie an diesen Abend wurden, desto mehr setzte sich die Version Ronnies durch, der behauptete, dass das Vieh bestimmt Tollwut hatte, oder eine sonstige ansteckende Krankheit und das einer der umliegenden Bauern mit ihr kurzen Prozess gemacht habe. „In manchen Landstrichen ist das eben so“, als wären sie nicht mitten in Dänemark, sondern irgendwo in Transsylvanien.
II.
Nachdem Felix damals in ihre Klasse gekommen war, wusste niemand etwas mit ihm anzufangen. Er wurde nicht gemobbt, aber gemieden. Anfangs machte man ihm Angebote, sich in das soziale Gefüge verschiedener Freundeskreise einzufinden. Er lehnte alles ab. Keine Partys, kein Freibad, keine Bowlingkugel, in der die Finger Felixs steckten. Ihm schien das nichts auszumachen. Felixs Aufmerksamkeit schien nur einer Person zu gelten: Sabri. Für Sabine war es kein Wunder. Alle Jungs, na gut, fast alle Jungs verguckten sich zunächst in die hellen, frechen Augen, die stets so schauten, als wäre jeder Tag voller Wunder. Das wilde, rötliche Haar, welches sie manchmal durch das Flechten von Zöpfen bändigte. Ihr zierlicher, aber vor Energie sprühender Körper. Zu jedem nett, immer lustig, bei allen beliebt. Und tatsächlich näherte sich Felix an. Langsam, aber hartnäckig. Sabri ließ ihn gewähren und genoss die Aufmerksamkeit. Wie Sabine schon damals befriedigend feststellte, verlor Felix jedoch schnell das Interesse an der oberflächlichen Sabrina. Zumindest blieben sie Freunde und Felix war in ihren Kreis aufgenommen. Was seine Herkunft anging kannten sie seine Zurückhaltung, darüber zu sprechen und ließen ihn in Ruhe. Sie wussten von seiner Geschichte, wenn auch längst nicht alles. Von seinem Aufwachsen ohne Mutter, ohne Vater. Er gehörte zu den Blueprints, wie man die Menschen aus dem Programm gehässig nannte. Er hatte nie in einem Mutterleib gesteckt, hatte nie das Trauma einer Geburt erlitten, ihm wurde nie die Nabelschnur durchtrennt. Wuchs auf in speziellen Heimen mit wechselndem Personal, hatte nie eine enge Bindung, eine tiefe Beziehung aufbauen können, trotz aller Pädagogik, die sich an Montessouri und Steiner orientierte. Im Grunde war Felix ein Freak. Nachdem das Programm von allen offiziellen Seiten als großer Erfolg gewertet wurde, entstand mit den Jahren nach all den Problemen die Sprachregelung, dass das Programm in speziellen Einzelfällen durchaus Erfolge aufweise. Später wurde es sang- und klanglos eingestellt. Es bedürfe noch weiterer Forschung und Evaluation. Felix hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass er nicht danach gefragt werden wollte und nur dann darüber sprach, wenn er es für richtig hielt.
Nur ein einziges Mal hatte er ausführlich von sich erzählt. Sie waren Zelten an der Ostsee während der Kieler Woche. Sie saßen nachts am Lagerfeuer und ein Joint machte die Runde. Irgendjemand aus ihrer Clique erzählte Horrorstorys. Irgendwann sagte Felix etwas wie wollt ihr mal ein echte Horrorgeschichte hören? Und dann hatte er mit tonloser Stimme berichtet, wie er und die anderen Klone behandelt worden waren. Zu Beginn hatte man sich noch mit Mühe und Eifer um sie gekümmert, mit ihnen Experimente gemacht, sie ansonsten nach allen Regeln der pädagogischen Kunst großziehen wollen. Das Gefühl besonderer Verantwortung gegenüber den Geschöpfen ließ viel Geld in die Einrichtungen fließen. Aber das versiegte schnell und im Gleichschritt das Interesse, als deutlich wurde, dass durch die Bank alle Blueprints psychische Probleme und -mal stark mal weniger stark- eine gewisse Empathielosigkeit an den Tag legten. Irgendwann, ganz schleichend, kamen Misshandlungen hinzu. Erst verbal, später körperlich. Felix schilderte flüsternd, wie einmal mitten in der Nacht sein Bezugsbetreuer zu ihm ins Zimmer kam, mit einer altmodischen Petroleum-Laterne in der Hand. Er hatte Felix geweckt und seinem verstörtem Mündel im schummrigen Licht der Lampe mit feixender Freude mitgeteilt, dass der Original-Felix soeben an Krebs verstorben sei. Und dass es nur recht und billig sei, dass die Wahrscheinlichkeit, dass dem Klon-Felix das gleiche Schicksal erleiden werde, bei über 80 Prozent liege. Und das er froh sein könne, dass man ihn nicht als Ersatzteillager für das Original herangezogen habe. Der Moment, in dem Felix am Lagerfeuer jedoch in Tränen ausbrach, die nicht mehr versiegen sollten, war jedoch ein anderer. Felix hatte in dem letzten Heim eine Freundin. Das mit Sarah und mir, es war echte Liebe, wie Felix mit versagender Stimme zugab. Sie verbrachten den Umständen entsprechend ein schönes Jahre miteinander. Aber sie wurde krank. Sie verlor den Verstand, langsam aber sicher. Immer häufiger holten die Ärzte sie zu sich. Ihre Schreie waren im ganzen Gebäude des Heims zu hören. Zum Schluss sei sie besessen gewesen, meinte Felix, wie Linda Blair in Der Exorzist. Irgendwann holten sie sie wieder ab aus ihrem Zimmer, während Felix ihr kalte Umschläge an die Stirn presste. Sarah habe wie von Sinnen geschrien und gezetert, hatte Schaum vor dem Mund. Sie habe gegeifert und alle beschimpft, auch Felix. Die Ärzte und Pfleger versuchten sie zu bändigen, fesselten sie schließlich und nahmen sie wortlos mit. Es war das letzte Mal, das Felix sieh sah. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, ihm zu sagen, was mit ihr geschehen war.
Als man dann den Problemen nicht mehr Herr wurde und die Bewohner auch übereinander selbst herfielen, wurde das Heim geschlossen. Reintegration wurde die Verzweiflungstat genannt. Felix gehörte noch zu den erfolgsversprechensten Subjekten seiner Art. Er konnte in die Gesellschaft eingebunden werden. Konnte die Regelschule besuchen, einen guten Abschluss machen und stand nun sogar vor seinem Studium. Er konnte Freunde finden, die ihn in seiner Andersartigkeit akzeptierten. Aber niemand konnte verhehlen, dass auch ihn ihm das steckte, wie in allen seiner Leidensgenossen: diese tiefe, abgründige Traurigkeit. Das hieß nicht, dass man mit Felix nicht mittlerweile feiern und lachen konnte. Er hatte einen feinen, schwarzen Humor. Er konnte sich für Dinge begeistern, löste die kompliziertesten Matheaufgaben. Spielte abstrakte Brettspiele, war ein guter Leichtathlet. Er konnte sich, wenn er wollte, gut ausdrücken, ohne dabei spießig oder aufgesetzt zu wirken. Aber die Basis seiner Existenz war Trauer. Und alles aus seinem Umfeld musste diese dunkle Wand zunächst überwinden, damit er sich dafür interessieren konnte. Das Schicksal der Natur wollte es, dass Felix mit seinen blonden Struwelhaaren, diesen kohlefarbenen Augen und den feinen Gesichtszügen verdammt gut aussah. Uns Sabine war beileibe nicht die erste, die ihn sehr spannend fand. Irgendwann im Laufe dieses Urlaubs, dachte Sabine, muss ich es ihm sagen. Egal wie er reagiert. Ich muss es ihm sagen. Sonst dreh ich durch.
Am Abend vor Sylvester standen die Jungs in der Küche. Sie waren dran mit Kochen und legten sich nicht gerade ins Zeug. Aus den Lautsprechern dröhnten die Queens of the stone age. „Sag mal, Felix, alter Zausel“, rief Ronnie so laut, dass sie alle über die Musik hinweg es hören konnten. „Wo ist eigentlich dieser bekloppte Koffer geblieben?“. Bei der Frage musst Sabine von ihrem Buch von Nicolas Sparks aufschauen und blickte zu ihnen herüber. „Steht im Kriechkeller unterm Haus, ist eine Überraschung drin“, sagte Felix so schnell, als hätte er sich die Antwort zurecht gelegt. Sabine meinte, kurz einen Schatten über Felixs Gesicht huschen zu sehen, aber sie konnte sich auch irren. „Ahhhh“, macht Ronnie, „Nachtigall ick hör dir kotzen! Du hast die ganze Wanne voll Feuerwerk! Das ist es! Chinaböller, Goldregen, V2-Raketen!“, Ronnie warf theatralisch die Nudelkelle in den Topf, nahm Felixs Gesicht in beide Pranken und drückte ihm einen Schmatzer auf die Stirn. „Wie geil ist das denn, Alter! Wie geil ist das denn!“ Felix lächelte verlegen. „Abwarten“, sagte er nur. Von dem Essen rührte Sabine kaum etwas an. Die beiden Köche hatten die Soße total versalzen.
Während die anderen überlegten, was man mit dem Abend anfangen sollte, nahm sie sich ihre Jacke, meldete eine kleine Runde ums Haus an und verschwand aus der Tür. Klirrende Kälte und ein heller, runder Mond am wolkenlosen Himmel empfing sie. Sie atmete tief ein und setze ihre Schritte in den Pulverschnee, ohne zu wissen, wohin. Normalerweise hätte sie ein wenig Schiss, in der Dunkelheit alleine zu sein. An diesem Abend war es anders. Je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto sicherer fühlte sie sich. Sie genoss jeden Atemzug, als wenn sie den ganzen Tag in einer Raucherkneipe gesessen hätte.
Sie wandte sich hierhin und dorthin. Doch irgendwann, vielleicht nach einer halben Stunde, wusste sie, wohin ihr Weg führte und schließlich stand sie vor dem Baum, an dem die Katze, vielmehr der Rest davon, hing. Später, nach den Ereignissen, konnte sie nicht mehr erklären, warum sie im Lichte des Mondes das Tau mit eisigen Fingern vom Schwanz löste. Warum sie ohne Ekel das Tier in beide Hände nahm und den erstarrten Körper für erstaunlich schwer befand, wo er doch ausgeblutet war. Sie wusste später nicht mehr, weshalb sie den Kadaver zurück zum Haus nahm und in dem kleinen Garten davor ein Loch in den Schnee buddelte, das Tier dort hineinlegte, Schnee darüber häufte, diesen plattdrückte. Ein kurzes Gebet sprach, weniger für die Katze, als mehr für sich selbst. Sie konnte es im Nachhinein nicht erklären. Nur, dass es getan werden musste.
Später, es ging gegen Zehn, waren sie alle des Saufens müde. Bier und Wein schmeckten nicht. Selbst den teuren Talisker-Whisky rührten die Jungs nicht an, den sie extra für die Zeit in Dänemark gekauft hatten. Es bahnte sich ein langweiliger Abend an. Abhängen, genervt sein, deutsches TV glotzen. Doch in dem Augenblick, als sie auseinander gehen wollten, damit jeder seinen eigenen Kram machen würde, bekam Ronnie ein schelmisches Blitzen in die Augen. „Wartet mal, ihr lustlosen Spacken. Papa Ron hat noch ein Ass im Schuh.“ Er verschwand in seinem Zimmer und tauchte mit einer Silberdose, in der vor Jahren mal Bonbons aneinander geklebt hatten, in der Hand wieder auf. Sabine wusste schon, was kommen würde. Ronnie öffnete die Dose langsam und pathetisch wie eine Schatztruhe. Sogleich erfüllte ein intensiver Tannenduft den Raum. „War ja eigentlich für Sylvesterabend gedacht. Aber scheiß drauf. Feinstes Hollandgras für müde Spackos wie euch. Gezüchtet bis zum Anschlag. Wer nicht mitquarzt muss das Haus verlassen.“ Triumphierend hielt er ihnen die Dose entgegen und sie sahen eine Menge grünes Zeugs darin. Sabri war längst aufgesprungen. Sie hüpfte umher, drehte „My Machine Girl“ von The Kooks auf volle Lautstärke und rief: „Wie geil, wie geil! Bau einen auf, bau einen auf!“ Auch Felix schien begeistert. Er streckte Ronnie den erhobenen Daumen entgegen. „Alter“, rief er „genau das Richtige für heute Abend. Perfekt!“ Und auch Sabine hatte große Lust, sich ordentlich wegzuschießen. Ronnies Brust wurde noch etwas breiter als sie ohnehin schon war. Er genoss es, genau die richtige Saite bei seinen Freunden angespielt zu haben.
III.
An den Rest der Nacht, die auf so grausame Weise enden sollte, konnte sich Sabine im Nachhinein kaum noch erinnern. Sie rauchten einen Joint nach dem anderen. Der Tabakanteil verringerte sich jedes Mal zu Gunsten des pelzigen Grases. Irgendwann lagen Ronnie und Sabri knutschend auf dem Sofa und die Hände Ronnies waren auf Erkundungstour. Dann Felixs Gesicht vor ihrem. Tiefe, dunkle Augen, zwei Brunnen ohne Boden, zwei endlose Schlünde, zwei Parallellinien, die sich im Unendlichen trafen. Seine Lippen auf ihren. Sie schloss die Augen. Bunte Splitter wie von einem geborstenen Kirchenfenster liefen zusammen und entfernten sich voneinander. Einem atmenden Mandala gleich pulsierten Fraktale vor ihrem inneren Auge. Felixs Zunge in ihrem Mund schien ihr riesig zu sein. Alle Proportionen verloren ihre Gültigkeit. Heiß und kalt waren eins. Feuer und Wasser gleich. Die Wirklichkeit nur dunkle Schattenwürfe von dem, was die Schatten verursachte. Dann verlor sie sich gänzlich in dem Kuss und alles wurde weiß.
Irgendwann hatten sie alle es in ihre Zimmer geschafft. Irgendwie hatte Sabine die Leiter zu ihrer Matratze des Etagenbettes erklommen. Irgendwohin konnten sich die wirren Gedanken an Felix verkriechen. Sie fiel in einen beunruhigenden Schlaf. Ihre Träume waren voll von altmodischen Monsterfratzen, Schreien, schmatzenden Geräusche von Wesen in der Kanalisation, die etwas zu fressen gefunden hatten. Ihr Traum war ein mieser Trip durch schwarze Schlünde, unmenschliche Wesen, die sie schnappen wollten, sie lief und lief um zu fliehen, kam aber nicht von der Stelle, sie weinte und rief nach ihrer Mutter. Doch sie war stumm und kein Wort kam über ihre Lippen. Sie kniete im Schnee, vor sich der rosa Fleck unter der aufgehängten Katze. Es gab keine Spuren, nur die zu ihrem Ferienhaus. Nur zu ihrem Haus, das wurde ihr jetzt klar. Sie sah, wie Sabri den Zettel auf dem Jekyll und Hyde stand, wie in Zeitlupe auf Felixs Stirn presste. Doch es war gar kein Zettel, sondern ein kalter Umschlag, der getränkt war mit Blut, schweren, fast kitschig rotem Blut. Plötzlich fiel sie und sie fiel und fiel und sie wusste, dass sie gleich sterben musste.
Dann erwachte sie. Ihr Herz raste. Sie keuchte. Sie fuhr sich mit ihren Händen über das Gesicht und musste feststellen, dass sie tatsächlich geweint hatte. Ein Traum, ein Traum, ein beschissener Trip. Sie beruhigte sich, atmete tief. Ihr Mund schmeckte, als hätte ihr jemand einen Tannenzapfen in den Hals gesteckt. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass durch das kleine, durch einen Vorhang verdeckte Fenster bereits Tageslicht fiel. Auf dem Flur polterte etwas. Jemand zog etwas über den Boden. Sie seufzte und schüttelte die Reste ihres Traumes ab. Dann beugte sie sich hinunter zu Sabri um zu sehen, ob sie ebenfalls schon wach war. Was sie sah, veränderte ihr Leben für immer.
Sabris Torso lag ausgestreckt auf dem Bett. In dem schummrigen Licht war kaum etwas genauer zu erkennen, denn das Blut war überall. Der Körper, das Bettlaken, auf dem Boden, an der Wand gegenüber, alles war schwarz von Blut. In dem, was einst ihre beste Freundin war, klaffte in der Brust ein Loch. Sabine suchte verzweifelt nach dem Gesicht Sabris. Doch der Kopf fehlte. Er war unsauber abgetrennt worden und fehlte. Er fehlte. Sabines Herz hörte auf zu schlagen. Für fünf Sekunden. Für zehn Sekunden. Sie wünschte sich in diesem Moment, dass es nie wieder seinen Dienst aufnehmen würde. Doch es tat ihr nicht den Gefallen. Sie hätte gerne geschrien, aber sie konnte nicht, so wie eben in ihrem Traum gehorchten auch jetzt die Stimmbänder nicht. Sie starrte hinab in das Grauen und musste ganz irrational an die Katze denken. Arme Katze, dachte sie unentwegt, arme Katze. Ihr Körper krampfte sich zusammen zu einer Embryohaltung, ohne das sie aufhören konnte, ihre tote Freundin anzustarren. Das Pause ist Pause nicht Pause wirklich. Doch da war noch eine andere Stimme in ihr, die immer lauter wurde. Sabine, hör mir zu. Hör mir gut zu, bitte. Es ist wirklich. Es ist bestialisch und abartig. Aber es ist das, wofür du es hältst. Jemand hat Sabri umgebracht. Und dieser Jemand ist da draußen. Und wenn du hier weiter herumliegst, wird er auch dich holen. Von mir aus kannst du traumatisiert sein für den Rest deines Lebens. Aber nicht jetzt! Steh auf, hau ab! Erlaube dem Pisser nicht, dasselbe mit dir zu tun. Aber was ist mit den anderen? Erst du, dann sehen wir weiter. Jetzt los.
Sabine war nicht sie selbst, als sie aus dem Bett stieg, ihre Füße unsicher Halt auf den blutbeschmierten Sprossen der kleinen Leiter fanden. Als sie den Boden berührten gab es ein Geräusch, als wäre sie in eine Wasserpfütze gesprungen. Sie stand da in ihrem Nachthemd, vermied den Blick in Richtung Sabris Überreste und fühlte sich hilflos, machtlos. Was sollte sie nun tun? Diese Entscheidung wurde ihr abgenommen. Denn das Poltern war nun direkt vor ihrer Tür. Sabine wusste mit einem Mal, dass jemand den großen Koffer vor ihrer Tür abgestellt hatte. Dessen Deckel wurde geöffnet. Dann ging die Tür auf und es kam jemand herein, der entfernt an Felix erinnerte.
Es war Felix. Aber nicht der Felix, den sie bisher gekannt hatte. Sein eigentlich blondes und zerzaustes Haar war schwarz und plattgedrückt. Die beiden Schlünde seiner Augen schienen in die Ferne zu schauen. Sein Gesicht und seine Kleidung voller Flecke. Am schrecklichsten war sein Mund. Die Mundwinkel waren grotesk nach untern gezogen, er schien Ekel und Entsetzen auszudrücken. Seine Nasenlöcher aufgebläht zu Nüstern, als würde es furchtbar stinken. Merkwürdige Laute und Stöhnen kamen aus ihm heraus. In seiner Hand hielt er eine Säge. Das Sägeblatt rotschwarz eingefärbt. Ein großer Fuchsschwanz. Den hob er hoch und zeigte damit auf Sabine. „Warum“, flüstere sie „warum, Felix.“ Etwas gurgelte aus dem Rachen Felixs und mit Mühe erkannte Sabine, dass es Worte waren. „Sie, sie war meine Freundin, Freundin.“ „Wer, Sabrina?“, Sabine verstand es nicht. „Nnnein. Sabris Blueprint. Sarah. Meine Sarah. Es hat so lange gedauert, bis ich das Original gefunden habe habe. Aber Sabri wollte mich nicht. Das Dummerchen wollte mich nicht nicht.“ Bekümmert wanderte Felixs Blick zu Sabris Körper. „Und jetzt jetzt“, flüsterte er, „bist du dran. Du standst immer zwischen uns. Immer immer.“ Ohne den Blick von Sabri zu lösen hob er den Fuchsschwanz weiter in die Höhe und kam langsam auf sie zu. Sabine wich zurück. Aber das Zimmer war klein und schon bald drückte sich ihr Körper an der Fensterscheibe. Ihre Hände suchten nach etwas, womit sie sich wehren konnte. Ihre rechte Hand fand etwas. Es war der Griff des Schürhakens, den Sabri in ihrer Angst vor Fremden mit auf das Zimmer genommen hatte. Verzeih mir Sabri, dass ich dich belächelt habe, dachte Sabine, hob den Haken, zielte auf Felixs Kopf und schlug zu. Sie verfehlte ihn.
Ungläubig schaute Ronnie an sich herab. In seinem Bauch steckte ein Messer. Das ist vielmehr eine Machete, dachte Ronnie, nicht ohne Stolz, dass es eines solchen Kawenzmannes bedurfte, um ihn außer Gefecht zu setzen. Er hatte nur einen Schatten in der Morgendämmerung über sich gesehen, erkannt, dass es Felix sein musste und dann einen unglaublichen Schmerz gespürt. Jetzt bemerkte, wie mit dem Blut auch das Leben aus ihn entwich. Er bedauerte seinen kommenden Tod, aber fast noch mehr, dass er im Bett sterben würde. Er fragte sich, warum es ihn gar nicht wunderte, dass Felix das getan hatte. Wenn ihm jemals derart Unfassbares geschehen würde, dann durch jemanden wie Felix. Er würde seine verschrobenen Gründe haben, was ihn, Ronnie, nicht interessierte. Mein letzter Atemzug am letzten Tag des Jahres. Passt doch. Er spürte eine bleiernde Müdigkeit, die ihn wohlig warm umschloss und ihm sogar die Schmerzen nehmen wollte. Nein, sagte er sich schließlich. Du kannst noch etwas tun. Für Sabine. Und vor allem für Sabri. Wenn sie noch lebten. Einmal ganz durch Haus zu dem Zimmer der Mädels würde er nicht mehr schaffen. Aber im Wohnzimmer nebenan stand das Telefon. Festnetz. Für Handys gab es in diesem gottverlassenen Ort nur hin und wieder Empfang. Er stieg mit einiger Mühe aus dem Bett. Ihm schwindelte, das Zimmer drehte sich im Kreis. Die Hände an die Wand gepresst schob er sich vorwärts. Ich muss aussehen wie in einem Splatterfilm. Wie hieß der denn noch von letztens. Er wunderte sich, dass seine Kopfschmerzen fast schlimmer waren, als die des Loches in seinem Bauch. Er kam voran. Langsam, aber es ging. Sein Schritt füllte sich mit Blut, dass aus seinem mächtigen Bauch sickerte. Hinter ihm eine rote Spur. Ich ziehe einen Schlussstrich. Ronnie kicherte. Im Wohnzimmer angekommen, merkte Ronnie, dass es nicht mehr lange gehen würde. Er suchte das Telefon, fand es, hob es mit letzter Kraft und mit einer Ahnung hoch. Das Kabel zur Telefondose in der Wand war durchtrennt. Ronnie bekam keine Luft mehr. Machete im Bauch und ich ersticke. Das ist doch bescheuert. Er ließ das Telefon fallen, torkelte zur Verandatür und riss sie auf. Er trat heraus und starrte in die Morgensonne, die durch den Nebelschleier weiß auf ihn herab schien. Er blickte hinein und fragte sich ernsthaft, ob dies das weiße Licht am Ende des Tunnels des Todes war. Dann brach er zusammen, rollte zwei Meter auf dem abschüssigen Stück Richtung Kriechkeller und blieb liegen.
Der Schlag sauste an Felixs Kopf vorbei und traf ihn in die Schulter. Der Haken am Ende der gusseisernen Stange krachte auf einen Knochen. Von der Wucht des Schlages wurden sie beide umgerissen. Sie fielen durch die geöffnete Tür. Felixs Kopf knallte gegen die Truhe. Er war benommen. Seine Schulter blutete. Sabine rappelte sich auf. Siehst du, raunte die innere Stimme, er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Nimm den Haken und mach ihn fertig. Sie stand mit der Stange über ihm. Sie hätte zugeschlagen, wenn sich sein Blick nicht in dem Moment etwas aufgeklart hätte und sie etwas von dem alten Felix, etwas von dem, in das sie sich verliebt hatte, sehen konnte. Statt ein weiteres Mal zuzuschlagen stieg sie über ihn hinweg und warf einen flüchtigen Blick in den aufgeklappten Koffer. Darin waren allerlei Werkzeuge und darauf der Kopf Sabris, der aussah wie ein unfertiges Stück aus einem Wachsfigurenkabinett. Sabri starrte sie mit vorwurfsvollen Blick an. Daneben lag noch etwas. Ein Klumpen Fleisch. Es musste das Herz sein. Sabine hatte sich das Organ viel größer vorgestellt. Sie hielt sich an ihre innere Stimme und verbannte die aufkommenden Gefühle in den Keller ihres Geistes. Sie rannte ins Wohnzimmer. Sie dachte kurz daran, zum Telefon zu greifen. Keine Zeit, du hast keine Zeit. Du hättest ihn kalt machen sollen. Statt dessen lief sie durch die Verandatür. Sie stand offen. Eiseskälte wehte herein. Ronnie! Er ist entkommen! Sie musste einmal halb um das Haus laufen, um zum Auto zu gelangen. Gerade, als sie sich aufmachen wollte, rief ihre innere Begleiterin: Hey du, ohne Autoschlüssel bringt das herzlich wenig. Sie machte kehrt. Als sie den Schlüsselbund endlich in Ronnies Jackentasche gefunden hatte (natürlich, er ist doch zuletzt gefahren) stand Felix im Zimmer. Das Menschliche in seinen Augen war verschwunden. Jetzt, im vollen Tageslicht konnte sie sehen, wie besudelt er war. Mit seinem kranken Blick und der gebrochenen Schulter, der Arm hing schlaff herab, sah er aus wie ein Zombie aus einem B-Movie. In seiner Linken hielt er eine Axt, die er aus seinem Koffer geklaubt haben musste. Er sagte etwas. Es klang wie „Holz Holz“. Dann kam er erstaunlich behände auf sie zu und hob das Beil. Lauf! schrie die Stimme. Sie drehte sich um, so schnell sie konnte, ließ den Schürhaken fallen, stürmte durch die Tür, rannte ein paar Schritte, Felix war knapp hinter ihr. Du schaffst es, lauf! Dann sah sie Ronnies massiven Körper ein paar Meter weiter, halb im Schnee, halb im Kriechkeller. Um ihn herum blutiger Matsch. Scheiße, Ronnie! Das Messer in seinem Bauch brachte sie aus der Fassung. Sie stolperte und verlor den Halt. Für einen kurzen Moment dachte sie ich kann nicht mehr. Sie rutschte, wie Ronnie vor ihr, den kleinen Hang hinab. Es rettete ihr Leben, denn Felix war direkt hinter ihr und die Axt streifte an ihrem Hals vorbei. Sie fiel neben Ronnie und schlug sich das nackte Knie auf. Aus einem kurzen Impuls heraus rüttelte sie an ihrem Freund. Doch ihr war klar, dass es zu spät war. Sie rappelte sich auf und kroch auf allen Vieren unter das Haus. Felix war direkt hinter ihr. Der Keller war nach allen Seiten hin offen. Sie musste es bis zur anderen Seite schaffen, dorthin, wo das Auto stand. Dann hatte sie vielleicht eine Chance. Sie mühte sich an dem alten Gerümpel vorbei, das in Jahren und Jahrzehnten unter das Haus geschoben wurde. Ihre Haare verfingen sich in alten Spinnennetzen. Ihr war unsagbar kalt. Vorwärts, einfach nur vorwärts. Doch sie war zu langsam. Die Hand ihres Widersachers schloss sich mit erstaunlicher Kraft um ihren Knöchel. Sie versuchte sich loszustrampeln, doch vergebens. Sie blickte zurück. Im Schatten der verrotteten Gartengeräte, verschimmelten Matzratzen und kaputten Autoreifen sah sie in diese kranke Fratze, die gestern noch ein so hübsches Gesicht gewesen war, das sie so leidenschaftlich geküsst hatte. Unwillkürlich musste sie bei dem jetzigen Anblick an Gollum aus dem Herr der Ringe denken. Plötzlich fiel alles von ihr ab. Die innere Spannung, der Überlebenswille. Ihre innere Stimme blieb stumm, hatte nichts mehr zu sagen. Sie ließ den Autoschlüssel fallen und wandte sich trotzig mit ihrem Kopf um. Sie war bereit zu sterben. Felix schien keine Eile zu haben. Nochmals gluckste aus ihm etwas heraus, das wie „Holz Holz“ klang. Dann hob er die Axt, nicht ganz über seinen Kopf, da hierfür die Decke zu niedrig war. Er würde ihr Bein treffen, was, wie Sabine wusste, nur der Anfang sein würde. Doch bevor Felix loshacken konnte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. In seinem dunklen Blick war etwas wie Überraschung auszumachen - und Schmerz. Ein Stöhnen rang sich durch seine Kehle. Im Schatten hinter ihm konnte Sabine Ronnies Gestalt erkennen, der sich mit letzter Kraft hochgestemmt hatte. Das Messer im Bauch fehlte. Statt dessen steckte es im Unterschenkel Felixs. Ronnies und Sabines Blick trafen sich im Zwielicht. Ronnies Züge zeigten ein letztes Mal ein schelmisches Grinsen. Dann brach etwas in seinen Augen und er sackte zusammen. Er war tot. Ein zweites Mal an diesem außergewöhnlichen Morgen zeigte sich, dass Felix trotz allem nur ein menschliches Wesen war. Die gebrochene Schulter und nun das Messer in seinem Bein zeigten Wirkung. Felix stöhnte und rang nach Luft. Er griff nach hinten, seine blutbefleckte Hand legte sich um den Griff des Messers. Mit einem kraftvollen Ruck zog er es aus seinem Bein. Felix schrie vor Schmerz. Aber es war noch etwas anderes in diesem Schrei. Ein Hauch von Lust. Sabine verlor keine Zeit. Ihre Gedanken ans Aufgeben waren verschwunden. Sie griff sich die Schlüssel, kämpfte sich vor. Sie erreichte das andere Ende des Kellers, kabbelte daraus hervor. Das Auto stand direkt vor ihr. Mit zwei großen Schritten ihrer nackten Füße im tiefen Schnee sprang sie darauf zu. Ihre Fingern zitterten unkontrolliert, ihre Hände waren rot. Reiß dich zusammen, Mädchen. Du hast es fast geschafft. Und tatsächlich konnte sie den Schlüssel stecken, die Tür aufreißen, hineinspringen. Sie setzte sich hinter das Lenkrad, Schlüssel in den Anlasser. Er wird das Auto manipuliert haben. Es wird nicht anspringen, dachte sie. Mit einer Schlüsselumdrehung erweckte sie den Motor zum Leben. Den Knopf der Zentralverriegelung drückte sie herunter, wie sie es in zahllosen Horrorfilmen gesehen hatte. Felix war mittlerweile ebenfalls durch den Keller durch. Er torkelte heran, rief etwas unverständliches und presste sein Gesicht an die Scheibe der Fahrerseite. Unbeholfen und ohne Zuversicht rüttelte seine Hand des gesunden Arms am Türgriff. Seine Axt hatte er offensichtlich fallengelassen. Von all den Bildern, die Sabine den Rest ihres Leben von nun an begleiten würden, war dies eines der schlimmsten. Felixs Gesicht wenige Zentimeter von ihrem entfernt, nur getrennt durch die Scheibe, die langsam zu beschlagen begann. Er war völlig entstellt, seine Augen zwei unendlich tiefe Seen mit unaussprechlichen Ungeheuern darin. Der Mund im Entsetzen über sich selbst verzerrt. Dann sagte er etwas in einem tieftraurigen Ton und es klang fast nach dem alten Felix. „Sabine, ich liebe Dich.“
Sie gab Gas. Die Reifen drehten durch, fanden schließlich Halt. Sie fuhr, kam ins Schlingen, fing sich, fuhr weiter. Wäre Ronnie gestern nicht mit dem Auto Einkaufen gefahren, um die letzten Utensilien für ein lustigen Sylvesterabend zu besorgen, sie hätte durch die frei gekratzte Rückscheibe nicht den Felix sehen können, den sie zurückließ. Der ohne Kraft stehengeblieben war und hinter sie her schaute. Er sah aus wie eine Vogelscheuche, die ein Bauer auf seinem Feld vergessen hatte. Sabine fuhr wie von Sinnen. Strapazierte mehr als einmal ihren Schutzengel, der Schwerstarbeit verrichtete. Sie hielt sich auf den Straßen, kam immer wieder ins Rutschen, steuerte gegen, driftete, hatte Glück. Die wenigen ihr entgegen kommenden Fahrer hupten und zeigten ihr den Vogel. Irgendwann, sie wusste später nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, wurde sie etwas langsamer und sie fuhr etwas kontrollierter. Schließlich traute sie sich rechts heranzufahren. Es war noch immer eine einsame Gegend. Zitternd bemerkte sie erst jetzt, wie kalt ihr war. Sie drehte den Heizungsregler auf Anschlag und schaute dann an sich herab. Sie starrte vor Dreck. Und dann, endlich, bahnte sich etwas durch ihre Eingeweide, kroch entlang ihrer Kehle, füllte ihren Mund und dann schrie sie, schrie wie von Sinnen - und wollte gar nicht mehr aufhören.
Ende