Das Haus des Wahnsinns
Waldemar Schleicher
DAS HAUS DES WAHNSINNS
Darringer stieg aus dem Bus. Es war ein langer, ziemlich eckiger Ikarus mit gelber Lackierung, geteilt in zwei Hälften, die mit einem Gummirohr verbunden waren, das so geknickt war, dass es entweder wie ein alter Heizkörper oder wie ein Akkordeon aussah.
Der Ikarus - ein Gefährt ungarischer Produktion - fuhr davon, seine Räder wirbelten Staub auf. Die zwei Damen im Bus schauten grimmig. Sie hatten die Geschichten über diesen Ort gehört, an dem der Bus nur dieses eine Mal, niemals zuvor, gehalten hatte.
Die Geschichten, die Darringer selbst nur allzu gut bekannt waren.
Die Landschaft war rundherum bewaldet, nur unweit vom Horizont konnte man ein Ende der Bäume erkennen. Dort begannen die Wiesen, die Strommasten, und damit auch die gute, asphaltierte Straße. Darringer war auf einem steinigen, schlammigen Feldweg abgesetzt worden. Er seufzte. Auf geht's, dachte er, und ging in den Wald.
Die Sonne stand hoch am Himmel - sie war kurz davor, den Zenit zu erreichen -, als Darringer müde wurde. Die moosig braunen Stämme um ihn herum, die gefallenen Blätter, Vogelgezwitschere. Hier war seit drei Jahren kein Mensch mehr gewesen.
Außer vielleicht...
IHM.
Und auch davor waren es seit Jahrzehnten nur er, Haxley, Rudkins und Jollieman gewesen.
Darringer ließ sich ins feuchte Laub fallen und zog dessen Geruch in die Nase ein. Es roch gut. Es roch ermutigend.
Ja, vor diesen so weit scheinenden drei Jahren waren sie vier gewesen, und sie waren dort. Sie alle gingen ins Maison de la Folie. Nur drei verließen es.
Und jetzt dieser Brief...
Darringer zwang sich, den Gedanken nicht fortzuführen. Er brauchte jetzt RUHE. Er hatte die ganze letzte Nacht nicht geschlafen, obwohl er genau wusste, dass er ihn brauchte, Kraft brauchte. Trotzdem konnte er kein Auge zudrücken.
Oder gerade DESWEGEN.
Sein weit genähtes weißes Hemd sackte an seiner mageren Brust herab, die schwarze, sackförmige Hose tat es ihr nach. Sie hatten beide abgeschaltet, sie relaxten auf seiner Haut. Aber Darringer selbst fand keine Ruhe. Immer musste er an diesen Brief denken... und warum er überhaupt hier war. Ob RUDKINS hier war. Ob Rudkins überhaupt noch lebte, und WIE er denn verdammt noch mal noch lebte.
Darringer öffnete seinen braunen Leinenrucksack und zog seine Uzi heraus. Sie glänzte in der Sonne, die sich durch die abwehrenden Blätter der Eichen und Buchen rang. Das Metall war blankpoliert. Der Abzug vergoldet.
Mit dieser Uzi hatte er den Anfang erlebt.
Nun war er hier, um mit ihr durch das Ende zu schreiten.
Haxley war ein Feigling. Oder vielleicht auch ein sehr cleveres Kerlchen. In Bezug auf seinen Selbstmord lag beides sehr nah beieinander, doch das kam ganz auf den Standpunkt an.
Er war clever, weil er sich den jahrelangen Selbstmitleid, die Selbstvorwürfe, die Albträume erspart hatte. Er rammte sich ein Messer in die Pulsadern und drehte es herum. Er hatte sich von den vielen Fragen, die zu beantworten er nicht in der Lage war und niemals sein würde, befreit, und das ohne sich sonderlich anzustrengen. Wirklich clever.
Aber er war ein Feigling, eben auch WEIL er sich den Fragen entzog, die Jollieman und Darringer Nacht für Nacht sich zu beantworten versuchten. Er war ein Feigling, weil er sich der Verantwortung entzog, die JETZT auf ihn zukam. Jetzt. Drei Jahre später.
Jollieman... er hatte eigentlich als Einziger das Recht, Darringer in dieser Sache die Hilfe zu verweigern. Er hatte es genutzt. Jollieman hatte seinen rechten Arm und seinen linken Daumen verloren, als er vor drei Jahren das Maison de la Folie aufgesucht hatte. Außerdem hatte ihn dieser kleine Kaffeekranz an den Rollstuhl genagelt. Darringer zerschoss ihm zwei Wirbel mit seiner glänzend strahlenden Uzi, und ab da an war er querschnittsgelähmt. Es war nicht Darringers Schuld, und Jollieman wusste das. ER hatte ihnen eine Falle gestellt. Er hatte... den Raum verzerrt. Darringer sah IHN. Er schoss auf IHN. Doch der, der schreiend zu Boden taumelte, war nicht ER gewesen. Es war Jollieman.
Jollieman hatte Darringer verziehen, er hatte ihm äußerlich verziehen, aber seine Seele würde trotzdem brennen, wenn er seine Stimme hörte. Denn es war doch DARRINGER, der seine Finger auf den vergoldeten Abzug seiner Uzi drückte, es war Darringer, der gezogen, gezielt und geschossen hatte.
Jollieman hatte alle Gründe, Darringer nicht zu helfen.
Und Rudkins. Rudkins ging verloren. In den Wirrgängen des Maison de la Folie, die ER in dieser Halle, in dieser EINEN Halle aufgestellt hatte, ging er verloren.
Er war da.
Darringer konnte seine Stimme hören.
Er rief, er hätte es gefunden.
Er rief, sie sollten ihm zu ihm kommen.
Seine Stimme verstummte, und Darringer drehte sich um.
In einer Blutlache, die sich aus dem Nichts ausdehnte, stand ER. ER war ein hochgewachsener Mann mit Hunderten von Narben af seinem Gesicht, ein schwarzes Gewand hing über seine Schultern. Ein Messer in der rechten Hand.
Rudkins' Kopf, gepackt auf Haarschopf, in der linken.
Sie alle hatten es gesehen. Jollieman. Haxley. Darringer.
Und sie waren geflohen. Sie waren einfach davongelaufen, wie erschrockene Kinder aus des Nachbars Garten fliehen, wenn sie seine Stimme näherkommen hören.
Jetzt dieser Brief...
Darringer sprang auf. Er lag immer noch in feuchtem Waldlaub. Seine Kleider waren vollkommen durchnässt, ebenso sein Rucksack. Er machte in schnell auf, um nach seiner Uzi zu sehen. Sie war in Ordnung, ebenso das Dutzend Magazine, dass er für das Letzte Gefecht mitgenommen hatte. Es freute ihn, dass er es mit beidem durch den Zoll geschafft hatte.
Er war eingeschlafen. Was die Nacht in einem bequemen Hotelbett ihm nicht geben konnte, wurde ihm von einem Laubhaufen in einem nassen Wald geschenkt.
Er stand auf. Die Sonne trat den Rückzug nach Westen an, und in weniger als drei Stunden würde es stockdunkel sein.
Es war Zeit, weiterzumarschieren.
Er musste das Maison de la Folie erreichen, noch heute.
Er musste Rudkins suchen.
Vor vier Jahren hörten sie vier die Geschichte des Maison de la Folie. Ein verwunschenes Haus in einem französischen Wald, erzählten die Einheimischen davon. Man dachte sich, dort seien Schätze zu holen.
Vielleicht waren sie das, vielleicht waren sie das. Doch etwas konnte man sich dort viel, viel leichter holen.
Den Tod.
Darringer wanderte. Der Rucksack drückte wie Blei auf seine Schulterblätter, die Sonne verzog sich, vom Feind, dem diabolischen, heuchlerischen Mond vertrieben, als sich zwischen den Bäumen am Horizont eine Kontur abzeichnete.
Es war ein Dach.
Das Dach des Maison de la Folie.
Darringer rannte jetzt.
Der Brief... er war von Rudkins, an sie drei.
"Holt mich hier raus", stand da. Es war mit Blut geschrieben.
Das Haus des Wahnsinns. Es war flach und breit, die Spitze neigte sich leicht dem Norden hin. Es gab keine Fenster. Die Mauern verliefen in krümmlich regelmäßigen Reihen, als wären sie nie da gewesen.
Aber sie waren da gewesen.
Vor drei Jahren waren sie da gewesen.
Darringer zog die Uzi aus dem Rucksack, die Magazine steckte er hinter seinen Bund. Er lud durch. Er stand da wie ein Cowboy beim Showdown. Sein Showdown war hier. Sein Feind war der Tod persönlich.
Er atmete durch. Die schwere Eisentür vor ihm war schwarz. Vor drei Jahren war sie grün. Vom Moos überwuchert.
Als er dies dachte, krochen grüne Flächen über das Metall.
Darringer hob die Uzi.
"Geh auf!", befahl er der Tür, und die Tür gehorchte. Sie schwang ihre Flügel auseinander wie ein Vogel, und offenbarte die Halle. Die EINE Halle. Aus ihr bestand das ganze Haus.
Darringer trat ein.
Die Wände waren schwarz, der Boden gekachelt wie ein Schachbrett.
Wir spielten weiß, und er spielte schwarz, dachte Darringer, und er spielte verdammt gut.
Nein... er schummelte.
Ein Krächzen ertönte hinter den Wänden, die Tür flog krachend - nein, KICHERND - zu. Er war gefangen, schon wieder.
Mit plötzlicher Grausamkeit wurde ihm bewusst, dass ER sie hatte GEHENLASSEN. Sie warne nicht entkommen, ER ließ es geschehen.
Das war die Antwort auf die Fragen. Die Fragen, die in ihren Köpfen nicht daran dachten, zu sterben. ER war für alles verantwortlich, für alles, jede Kleinigkeit. Er führte ihre Waffen und ihre Zungen, als sie das Maison de la Folie betraten, bis sie es wieder verließen. ER leitete ihre Füße. ER beschmierte ihre Ohren mit dem Honig, der ihnen schmeckte. Und mit dem Gift, das den Tod brachte.
Die Wände zerrissen mit einem reißenden Geräusch und Darringer schoss eine Salve in die Löcher darin. Etwas bewegte sich.
Diesmal würde es keine Wirrgänge geben. Keine Labyrinthe aus Löchern in Raum und Zeit, keine Spiegel und unsichtbare Wände mit IHM in einer Ecke, die man nicht sehen konnte.
Diesmal würde es kein Entkommen geben.
Die Türen würden geschlossen bleiben. Diesmal wollte ER Darringer sterben sehen. Also würde Darringer sterben MÜSSEN.
Wie dumm war er doch, hierher gekommen zu sein! Es war so offensichtlich, dass ein Kind darüber lachen könnte. Der Brief war gefälscht. Und ER hatte nie aufgehört, ihn zu beherrschen, nicht, als er das Maison de la Folie verließ, nicht, als er die Grenzen Frankreichs überschritt...
Mit einer zerfetzenden Klarheit wurde es ihm bewusst. GAB es denn einen Brief? Oder war dies nur einer von SEINEN Irrwegen, seinen Fallen..?
GAB es die letzten drei Jahre?
WAR Haxley tot, sich selbst gerichtet?
War RUDKINS tot?
Hat es je einen Haxley, einen Rudkins, einen Jollieman gegeben?
War er nicht allein gekommen?
ER besaß seine Seele bereits, ER kontrollierte sie, knetete sie, trat sie und zerquetschte sie. Er war in SEINE Fallen getappt, als er das Haus betrat...
VOR EINER EWIGKEIT
VOR EINEM MOMENT
NEIN, schrie Darringers Geist, NEIN! ES DARF NICHT SEIN!
Er hatte ein Leben gelebt in den Mauern dieses Hauses. Ein Leben, dass es nie gegeben hatte.
NEIN!
Wesen schossen aus den Wänden auf seinen Körper zu.
Hatte es je einen DARRINGER gegeben?
War er schon tot?
Gab es die Waffe? Die Uzi?
Er hob sie, und sein Verstand schrie nein. Die Figuren um ihn zischten, sie verdampften und kreischten unter den Salven der Uzi.
Sein Geist verirrte sich in einem Meer vor Schreien und Erinnerungen, die Explosionen seiner Projektile schwollen an in seinem Kopf.
NEIN!
Die Schüsse prallten dumpf auf die Biester vor ihm, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Sein Kopf dröhnte wie unter einem Presslufthammer.
Die Zeit verschwamm, der Ort verschwamm, und Darringer hatte es nie gegeben.
Er war sich jetzt sicher.
Es hatte ihn nie gegeben.
8. November 2002