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Das Haus auf dem Hügel
Das Haus auf dem Hügel
Die Woche war lang und anstrengend gewesen. Zwei Versuchsreihen, die Günter am Institut für Molekularbiologie vorbereitet hatte, waren missglückt. Zuhause hatte es ein paar gereizte Dialoge mit seiner Frau Ursula gegeben, die ebenfalls keine besonders erfolgreiche Woche hinter sich hatte.
„Lass uns einfach mit dem Auto losfahren. Wir sind schon so lange nicht mehr an unserem Stausee gewesen“, sagte Günter beim Frühstück am Sonntagmorgen. „Leisten wir uns diesen Luxus.“
Ursula nickte. Sie fühlte sich ziemlich schlapp und ausgelaugt. Auch war ihr Günters unfreundlicher Ton der letzten Tage aufs Gemüt geschlagen. Mehltau, dachte sie, irgendwie fühlt sich alles wie mit Mehltau überlagert an. Ob das in allen Ehen so ist? Mein Gott, es sind jetzt achtzehn Jahre her, dass wir uns kennen! Sie wusste aber aus Erfahrung, dass sie oft unterwegs gut darüber reden konnten, was sich alles an Unmut und Unlust der letzten Wochen angesammelt hatte.
Ein herrlicher Spätsommertag wartete auf sie. Nach einer längeren Regenperiode war der Himmel nun strahlend blau und die Luft erfrischend klar. Der kleine Stausee lag auf etwa tausend Meter Höhe; man konnte ihn leicht in zwei Stunden umrunden. Obwohl noch Hochsaison war, begegneten sie nur wenigen Wanderern. Manchmal donnerte ein Düsenjäger über den See, aber sonst hörten sie nur Grillengezirpe und das Plätschern, wenn eine Forelle oder ein Felchen nach Fliegen schnappte.
Die Stille tat ihre Wirkung. Sie merkten, wie die Anspannung nachließ und einer gelassenen Trägheit wich. Über die Mittagszeit suchten sie sich ein schattiges Plätzchen am Ufer.
„Kaffee oder einen Schluck Rotwein?“ Ursula hatte vor der Abfahrt noch geschwind einen Picknickkorb gepackt.
„Rotwein und ein paar Scheiben Salami, wenn du hast.“
Ursula hatte. Sie zauberte auch noch eine Portion Camembert und und ein paar Oliven hervor.
„Wunderbar! Danke, Ursula! Ein herrliches Fleckchen hier.“
Gegen Abend kehrten sie am Talende, wo sie ihr Auto stehen hatten, in einem kleinen Landgasthof ein. Sie waren die einzigen Gäste. Auf der Speisekarte standen verschiedene Pilzgerichte.
„Gerade richtig für meine Stimmung, heute passt wirklich alles zusammen“, meine Günter aufgeräumt und verwickelte den Wirt in ein langes Gespräch über Pilzsorten, Fundorte und Rezepte. Ursula bestellte nur einen Salat. Obwohl sie den ganzen Tag an der frischen Luft gewesen war, verspürte sie keinen rechten Appetit. Sie griff nach dem Bündel Gräser und Blütenstängel in ihrem Korb und band sie zu einem spätsommerlichen Strauß zusammen. Als sie aus dem Gasthaus traten, funkelten die ersten Sterne am Abendhimmel.
„Wir könnten zur Abwechslung mal eine andere Strecke fahren, über den Berg, nicht über die Autobahn. Da gibt es wahrscheinlich weniger Verkehr um diese Zeit."
Günter griff nach der Straßenkarte, um sich zu orientieren.
„Wenn ich nicht ans Steuer muss, ist mir alles recht.“
Ursula gähnte, stellte ihren Autositz zurück und schloss die Augen. Sie genoss das Gefühl, für nichts verantwortlich zu sein. Sie schwiegen. Zweimal hielt Günter an, schaute in die Karte und schüttelte den Kopf. Sie fuhren und fuhren. Kurz vor Mitternacht stotterte der Motor plötzlich einige Male und erstarb. Günter lenkte das Auto an den Straßenrand und zog die Handbremse an. Das Armaturenbrett zeigte nichts Ungewöhnliches an; Benzin, Öl, alles schien in Ordnung zu sein. Auch ein Blick unter die Motorhaube offenbarte nicht, was die Panne ausgelöst hatte. Sie brauchten Hilfe, aber woher? Auf den letzten Kilometern hatten sie nur wenige Häuser gesehen, und die waren alle dunkel gewesen.
Doch sie schienen Glück zu haben. Kaum hundert Meter entfernt erkannten sie die Umrisse eines Hauses. Es stand, umgeben von einigen Fichten, auf einem Hügel.
„Bleib du mal hier sitzen. Ich werde es da oben probieren. Vielleicht kann ich von dort eine Werkstatt anrufen.“
Günter steckte die Autoschlüssel in die Hosentasche und machte sich auf den Weg. Ursula schaute ihm nach. Zu spät fiel ihr die Taschenlampe im Handschuhfach ein. Erstaunlich deutlich konnte sie erkennen, wie in dem Haus auf dem Hügel das Licht anging und Günter eingelassen wurde. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, aber die war fünf Minuten vor zwölf stehen geblieben. Es kam ihr ungewöhnlich lange vor, bis sich die Tür wieder öffnete. Günter stürzte heraus. Sie hörte seine Schritte im Dunkeln knirschen, er knallte die Autotür zu und kurbelte das Fenster hoch. Im schwachen Mondlicht konnte Ursula erkennen, dass er totenblass war. Seine Hände zitterten.
„Um Gottes willen, was ist denn passiert? So rede doch!“
Günter kauerte sich in seinem Sitz zusammen. Er hielt sich am Lenkrad fest.
„Bitte, Günter, sag, was los ist!“
„Ich ... ich weiß nicht, wie ich es dir erzählen soll, du wirst mir kein Wort davon glauben.“
„Fang doch einfach von vorne an. Du hast geklopft oder geläutet, und jemand hat dir aufgemacht. Ich habe deinen Umriss im Lichtkegel ganz deutlich gesehen.“
Beruhigend streichelte sie seine rechte Hand. Seine Finger fühlten sich eiskalt an. Er erschauerte, zog die Hand zurück und verkroch sich noch tiefer in seinem Sitz.
„Es war eine junge Frau, so um die zwanzig, die mir geöffnet hat. Sie schien kein bisschen überrascht über mein Auftauchen. Sie war hübsch, mit einer Frisur, wie ich es bisher noch nie gesehen habe: die Haare in rot- und violettfarbenen Strähnen irgendwie um den Kopf gewickelt. Sie hat mich herein gebeten. Es war ein Wohnzimmer. Ein Junge, ungefähr fünfzehn Jahre alt, saß mit dem Rücken zu mir an einem Computer, vielleicht an Hausaufgaben. Ich konnte auf dem Bildschirm erkennen, dass er sich mit Biologiegrafiken befasste.“
„Bis jetzt kommt mir alles höchst normal vor. Es ist nur merkwürdig, dass in dem Haus vorher nirgends Licht gebrannt hat."
Ohne auf ihren Einwurf einzugehen, fuhr Günter mit monotoner Stimme und in ungewohnt gestelzten Formulierungen in seinem Bericht fort. Er klang zunehmend dumpfer und es schien so, als ob er, nachdem er einmal angefangen hatte zu erzählen, nicht mehr aufhören konnte.
„Etwas an dem Wohnzimmer kam mir vertraut vor. Der Grundriss, die gleiche Anordnung der Türen, und dann die geschwungene Holztreppe, die nach oben führte. Das Mädchen hatte sich entfernt, um, wie sie sagte, den Hausherrn zu holen. Es werde etwas dauern, ich solle mich inzwischen gut umsehen. Das tat ich auch. Zuerst studierte ich die Bücher im Regal, wie ich es ja immer tue, wenn ich Gelegenheit dazu bekomme. Die meisten Titel kannte ich. Einige, vor allem neu aussehende Bände, waren mir ganz unbekannt, obwohl sie von unseren Lieblingsautoren stammten. John Updike – du weißt, ich habe ihn dir geschenkt und etwas hineingeschrieben – stand auch da. Die gleiche Ausgabe. Ich griff danach und schlug die Titelseite auf. Und da..., und da....“ Ein Schüttelfrost hinderte Günter am Weitersprechen.
„Jetzt sag bloß, es stand dieselbe Widmung drin wie in meinem Exemplar: 'Hoffentlich werden wir nicht so wie diese Ehepaare! In Liebe, Günter'!“
Der Mann am Lenkrad nickte. Ursula schüttelte fassungslos den Kopf, aber nun wartete sie. Sie wollte den Rest hören – alles!
„Irgendwo im Haus weinte ein kleines Kind, und eine Frauenstimme – es war die Stimme der jungen Person, die mich herein gelassen hatte – sprach tröstende Worte. Ich verstand sie aber nicht genau. Der Junge am Computer stand plötzlich auf und ging auf mich zu. Es war ein hübscher Junge. Er ... er hatte deine Augen und deine geschwungene Oberlippe. Es traf mich wie ein Blitz. Im selben Augenblick kam der Hausherr die Treppe herunter. Ich drehte mich um und schaute in mein eigenes Gesicht. Das heißt, ich erblickte mich so, wie ich vermutlich in fünfzehn Jahren aussehen werde. Grauhaarig und mit tiefen Sorgenfalten."
Eine längere Pause entstand. Günter war auf seinem Sitz kaum mehr auszumachen. Ursula starrte durch das Seitenfenster in die Dunkelheit. Schließlich sagte sie mit brüchiger Stimme: „Und ich, kam ich auch irgendwie vor?“
„Sie sagten, ich könne erst wieder zurückkehren, wenn du mich holen würdest.“
„Günter! Hatte ich auch einen Platz – in deiner Zukunft?“
„Das rothaarige Mädchen war das Kindermädchen. Mehr darf ich dir nicht sagen.“
„Und die Kinder, wie hießen die?“
„Das musst du selbst herausfinden. Ursula, du musst in das Haus gehen und mich dort herausholen. Ich bitte dich, geh schnell!“
„Das ist doch alles Wahnsinn, Günter, du bist krank. Du hast Halluzinationen. Vielleicht war ein Fliegenpilz in deinem Essen. Los, gib mir den Schlüssel. Wir versuchen es noch einmal. Ich will hier weg.“
„Du musst zu dem Haus, Ursula, du musst. Unser Sohn hat den Schlüssel.“
Günter sackte zu einem Häuflein Schatten zusammen. In aufflammender Panik riss Ursula die Seitentür auf und rannte den Hügel hinauf, wo das Haus, nun wieder völlig dunkel, auf sie wartete.
Als sie endlich neben dem Auto auftauchte, hatte sie den Schlüssebund in der Hand. Sie warf ihn Günter auf den Schoß und torkelte auf den Straßengraben zu. Günter hörte mehrmals würgende Geräusche, dann sank sie neben ihn. Auch sie war totenblaß, und sie presste ihre Hände auf ihren Bauch.
Der Wagen sprang sofort an. Die Autouhr zeigte jetzt eine Stunde nach Mitternacht. Auf dem Heimweg fiel kein Wort. Entgegen seiner Gewohnheit fuhr Günter ohne Rücksicht auf Verkehrszeichen und Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Auch zu Hause wagten sie nicht, über ihr Erlebnis zu sprechen, sondern wandten sich im Bett sofort den Rücken zu. Beide fielen in einen unruhigen, von Angstträumen beherrschten Schlaf.
Beim Frühstück saßen sie sich noch immer schweigend gegenüber. Ursula trank nur zwei Tassen schwarzen Kaffee, dann verschwand sie im Badezimmer.
Als Günter am Abend vom Institut zurückkam, wartete seine Frau in der Küche auf ihn.
„Ich war heute beim Arzt", begann sie beinahe schroff, "es ist so, wie ich mir gedacht habe. Ich bin schwanger."
Freude und Furcht wallten in Günter gleichzeitig auf.
„Ist alles in Ordnung? Ich meine, geht es dir gut?“
Ursula zuckte die Schultern. „Organisch ist alles bestens. Aber … wir müssen jetzt miteinander reden. Ich bin völlig durcheinander. Ich kann überhaupt nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Einbildung. Ein fürchterlicherTag! Aber ich habe mir etwas überlegt.“
Sie holte zwei Blätter und Stifte. „Jeder wird jetzt für sich aufschreiben, wie die beiden Kinder hießen, die wir in dem Haus auf dem Hügel gesehen haben.“
Sie setzten sich am Küchentisch gegenüber, zwischen sich den Gräserstrauß, den Ursula am vorigen Nachmittag noch so fröhlich zusammengestellt hatte. Beide notierten zwei Namen auf und schoben ihr Blatt hastig über den Tisch. Auf beiden Bögen stand das gleiche: 'Jonas' für den Jungen, 'Klara' für das Mädchen.
Es war also wahr: Irgendeine unbekannte Macht hatte ihnen durch eine schmale Zeitspalte einen Blick in ihre Zukunft beschert. Entdeckt hatten sie dort einen nicht mehr jungen Vater, einen halbwüchsigen Sohn, ein wimmerndes Baby und ein rothaariges Kindermädchen. Sonst niemanden.
Ursula fasste sich zuerst wieder. Jetzt war sie die Entschlossenere von beiden, vielleicht aus Verzweiflung. „Nun will ich es aber genau wissen! Was wäre, wenn wir noch ein drittes Kind bekämen? Steht sein Name auch schon für alle Ewigkeit fest?“
Wieder schrieb jeder einen Namen auf. Aber nun ließen sie sich Zeit, bevor sie die Blätter austauschten. 'Ruth' hieß die Tochter, die Günter sich noch gewünscht hatte; seine Frau hatte ihr Wunschkind 'Georg' getauft. So blieb alles ungewiss. Es gab keine rationale Erklärung für das Haus auf dem Hügel.
„Lass uns unser Leben so leben, wie wir es für richtig halten“, sagte Günter, als er die leise weinende Ursula in die Arme nahm, „gar nichts ist vorherbestimmt, es ist doch bloß eine von vielen Möglichkeiten, die es in der Zukunft für uns gibt. Wer weiß, vielleicht war es nur eine Mahnung, dass wir sorgsamer miteinander umgehen sollen. Ursula, glaub' mir, alles liegt nur an uns selber. Ich verspreche dir, wir werden unserem Schicksal schon noch ein paar Überraschungen abtrotzen. Jetzt erst recht!“