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Das Haus am See
Samstag, 15. September
Der ätherische Geruch von Nadelbäumen und Wildblumen lag in der Luft. Ron Heller saß mit nacktem Oberkörper auf der Veranda und ließ seinen Blick über die Lichtung schweifen, auf der sein Häuschen stand. Die Sonnenstrahlen bedeckten die Oberfläche des glasklaren Sees mit einem gleißenden Glitzern und er kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden. Obwohl es früh am Morgen war, kündigte sich die Hitze des bevorstehenden Tages an. Die umstehenden Fichten und Buchen würden jedoch noch einige Stunden für angenehme Kühle sorgen. Ron lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück, griff zur Bierflasche und nahm einen tiefen Schluck. Lächelnd ließ er die Szenerie auf sich wirken. Mit seiner eigenen Hände harter Arbeit hatte er für seine Familie dieses Paradies geschaffen. Vor knapp sieben Jahren hatte er das schmucke Holzhaus inmitten dieses Wäldchens, direkt am See, gebaut. Jackie-Oh war damals ein Baby gewesen. Auch heute noch waren Haus und Garten Rons ganzer Stolz. Zufrieden betrachtete er den frischen weißen Anstrich von Außenfassade und Veranda sowie den sorgfältig getrimmten Rasen.
Ein Knarren riss ihn aus seinen Gedanken. Nackte Füße trippelten über die Veranda, dann fiel die Fliegengittertür zurück ins Schloss. Jackie schlang ihre gebräunten Arme von hinten um seinen Hals und drückte ihm einen feuchten Schmatz auf die Wange. Als Ron sich zu seiner Tochter umdrehte, funkelten ihre Augen freudig.
„Darf ich mit dem Boot auf den See hinausfahren, Daddy?“
„Hast du denn deine Hausaufgaben für Montag schon gemacht und dein Zimmer aufgeräumt, Liebes?“
Seufzend schüttelte sie den Kopf und schob die Unterlippe vor. Enttäuscht reckte sie ihm ihren Schmollmund entgegen und bettelte um einen Kuss, den er ihr natürlich nicht verwehren konnte.
„Du weißt, was deine Mutter dazu sagen würde“, erwiderte er schließlich.
Sie verzog das Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und setzte einen gespielt strengen Blick auf.
„Jacqueline Olivia, wann wirst du begreifen, dass Ordnung das halbe Leben ist?“, ahmte sie ihre Mutter nach. Anschließend brach sie in schallendes Gelächter aus.
Auch Ron konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Liebevoll zog er sie auf seinen Schoß und strich mit seinen von Nikotin und Sonne verfärbten Fingern über ihr langes weizenblondes Haar.
„Also gut“, lächelte er, „aber wir sollten Mama besser nicht davon erzählen. Sie würde uns beide ausschimpfen.“
Jackie strahlte übers ganze Gesicht und drückte ihn fest an sich.
„Na los, zieh dir schon deinen Badeanzug an! Und bring mir noch eine Flasche Bier!“, sagte er.
Als sie von seinem Schoß hüpfte, um ins Haus zu laufen, gab er ihr einen Klaps auf den Po.
Auch beim Abendessen drehten sich Jackies Gedanken noch immer um ihre Abenteuer in und auf dem See und sie plapperte unentwegt vor sich hin, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Ron lehnte sich entspannt zurück und genoss den ungebremsten Wortschwall seiner Tochter. Ganz folgen konnte er ihr nicht mehr, was wohl dem schweren Rotwein geschuldet war, den er sich zum Rindfleisch eingeschenkt hatte. Hin und wieder schaufelte er Jackie einen weiteren Löffel Bohnen oder Kartoffelpüree auf den Teller. Das Spielen an der frischen Luft schien sie hungrig gemacht zu haben.
„Können wir noch eine Runde Karten spielen, Daddy?“, fragte sie schließlich und schob ihren leeren Teller beiseite.
„Es ist schon spät, Liebes“, antwortete er, „für heute sollten wir Schluss machen und schlafen gehen.“
Wieder versuchte sie, ihn mit ihrem Schmollmund um den Finger zu wickeln. Doch dieses Mal ließ er sich nicht umstimmen. Sein Kopf schmerzte und er sehnte sich nach der einzigen Medizin, die das Pochen in seinen Schläfen mildern konnte. Schwerfällig stand er auf. Auch Jackie war aufgesprungen. Übermütig lief sie um den Tisch herum und warf sich in seine Arme.
„Du musst mich ins Bett tragen, Daddy!“, jauchzte sie und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
Lachend tat er so, als wäre sie schwer wie ein Sack Zement. In ihrer kleinen Kammer ließ er sie inmitten ihrer Stofftiere auf das Bett plumpsen. Dann zog er ihr die Bettdecke bis unters Kinn und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Gute Nacht, Liebes“, sagte er im Hinausgehen.
„Schlaf gut, Daddy!“, rief sie ihm hinterher. „Und träum was Schönes!“
Als er wieder in der Küche stand, war das Pochen in seinen Schläfen schlimmer als je zuvor. Seine Hände zitterten und sein Mund fühlte sich staubtrocken an. Gut, dass er für solche Fälle immer eine Reserve hatte. Er öffnete den Küchenschrank und zog hinter den Putzmitteln eine Flasche Whiskey hervor. Im Schlafzimmer machte er sich gar nicht erst die Mühe, seine an den Knien abgeschnittene Jeans oder die Socken auszuziehen. Mit letzter Kraft warf er sich aufs Bett, öffnete die Flasche und ließ die goldbraune Flüssigkeit seine Kehle hinunterrinnen. Kurze Zeit später fiel Ron in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Er erwachte von einem seltsam schlurfenden Geräusch. Es erinnerte ihn ein wenig an das Schmatzen, dass nackte Füße in nassen Gummistiefeln machten. Der Schlaf schien ihn noch immer im Griff zu haben, so dass er das Geräusch zunächst nicht zuordnen konnte. Weder aus welcher Richtung es kam, noch wovon es ausgelöst wurde. Doch es schien sich ihm zu nähern. Ein feuchtkalter Hauch strich über seinen bloßen Arm und ließ ihn erschauern. Mühsam zwang er sich, die Augen zu öffnen und schrak unwillkürlich zusammen. Seine Tochter stand dicht neben seinem Bett. Es war stockfinster in dem winzigen Schlafzimmer. Nur der Vollmond sandte sein spärliches Licht durchs Fenster und tauchte Jackies Umrisse in eine silbrige Aura. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit.
„Jackie-Oh, hast du mich aber erschreckt!“
Sie antwortete nicht. Als er sich streckte, um das letzte Stückchen Müdigkeit abzuschütteln, fiel sein Blick auf ihre zierlichen Füße. Sie war barfuß. Natürlich war sie das. Sie musste eben erst aufgestanden sein, um zu ihm herüber zu huschen.
Dann sah er, dass sie in einer kleinen Pfütze stand und weiterhin dünne Rinnsale an ihren nackten Beinen hinabliefen. Sein erster Gedanke war, dass sie sich in die Hose gemacht haben musste. Wut stieg in ihm auf. Mit acht Jahren nässte man doch nicht mehr ein! Mit Mühe unterdrückte er den Reflex, sie am Handgelenk zu packen und ihr die Meinung über ungezogene, kleine Gören zu geigen, die sich noch in die Hose pissten.
Vor Zorn bebend ließ er seinen Blick weiter nach oben über ihren zierlichen, fast schon abgemagerten Körper gleiten. Dabei stellte er fest, dass auch das weiße Nachthemd seiner Tochter tropfnass war.
Was hatte das dämliche Stück Scheiße nur mitten in der Nacht angestellt? Vielleicht sollte er ihr mal wieder eine gehörige Tracht Prügel verpassen, um derlei Eskapaden bereits im Keim zu ersticken? Früher hatte er sie öfter übers Knie gelegt und es hatte ihr mit Sicherheit nicht geschadet. Ganz im Gegenteil! Die verweichlichten Erziehungsmethoden seiner Frau waren ihm ohnehin schon lange ein Dorn im Auge.
Ron war drauf und dran, auszuholen und Jackie eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Doch etwas, das er sah, ließ ihn innehalten. Erst war er sich nicht darüber im Klaren, was es war. Die Rinnsale an ihren Beinen und das vollkommen durchnässte Nachthemd machten ihn rasend. Aber etwas anderes löste Betroffenheit in ihm aus. Er versuchte es zu fokussieren, es zu fassen zu bekommen. Und plötzlich wusste er, was es war: Jackies unnatürlich weiße Haut, die im fahlen Mondlicht zu leuchten schien, hatte ihn aufmerken lassen. An ihrer kleinen, normalerweise sonnengebräunten Hand konnte er die Adern dunkelblau durchschimmern sehen, so bleich war sie. Es jagte ihm erneut einen kalten Schauer über den Rücken. Was war hier los?
Endlich hob er den Blick und sah seiner Tochter ins Gesicht. Ihr Anblick ließ ihn zusammenzucken. Er fühlte, wie sich die feinen Härchen an seinen Armen und Beinen aufrichteten. Erschrocken wich er vor seinem einzigen Kind zurück und unterdrückte den Schrei, der sich bereits in seiner Kehle formte.
Ihre blonden Haare hingen nass und strähnig über ihre knochigen Schultern. Jeglicher Glanz war aus ihnen verschwunden und es schien ihm, als hätten sich Schlamm und glibberige Pflanzenreste darin verhangen. Ihr Gesicht war ebenso wächsern bleich wie der Rest ihrer Haut und die glanzlosen Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Die Art wie sie ihn anstarrte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
„Jackie-Oh, Liebling, was ist passiert?“, stammelte Ron und hörte selbst, dass seine Stimme mehrmals brach.
Lange sah seine Tochter ihn weiterhin einfach nur aus ihren leblosen Augen an. Als sie endlich sprach, schienen sich ihre spröden, blutleeren Lippen kaum zu bewegen.
„Wir wissen doch beide, was geschehen ist, Daddy“, sagte sie und ihre Stimme war nicht mehr als ein leises monotones Krächzen.
„Nein!“ Er schüttelte den Kopf. „Woher sollte ich das wissen, Liebes? Ich habe tief und fest geschlafen.“
Sie setzte ein schiefes Grinsen auf. Es wirkte, als wäre ihre linke Gesichtshälfte gelähmt.
„Steh auf, Daddy!“, krächzte sie. „Wir müssen die Sache zu Ende bringen.“
Verwirrt schwang er die Beine über den Rand seines Bettes. Er stemmte sich hoch. Seine Knie zitterten und drohten, ihm den Dienst zu versagen. Nur mühsam gelang es ihm, sich auf den Beinen zu halten. Jackies Aussehen jagte ihm eine Heidenangst ein. Doch er wagte nicht, sie noch einmal danach zu fragen. Ihr Auftreten war plötzlich so seltsam bestimmt, als dulde sie keine Widerworte.
Sie stand mittlerweile an seinem selbstgezimmerten Sekretär und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Als er sich ihr näherte, streckte er vorsichtig die Finger seiner linken Hand nach ihr aus. Er wollte sie berühren, sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Doch wieder ließ ihn etwas innehalten.
„Jackie-Oh, es ist so dunkel hier. Können wir nicht das Licht anmachen?“
Langsam wandte sie ihm den Kopf zu und fixierte ihn mit ihren leblosen Augen. Kalter Schweiß brach ihm aus und rann ihm den Rücken hinunter. Sein Mund wurde trocken. Er schluckte schwer.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, hob sie die Hand wie in Zeitlupe. Ihre kleine Faust schwebte zwischen ihnen, als wolle sie ihm ihren Handrücken zeigen. Gerade als Ron danach greifen wollte, um sanft darüber zu streichen, schnippte Jackie mit den Fingern. Wie von Zauberhand entzündete sich die Flamme in der Petroleumlampe, die auf der obersten Ablage seines Sekretärs stand.
Mit offenem Mund starrte Ron in das Licht. Dann sah er wieder zu Jackie. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Noch immer fixierte sie ihn mit ihren leblosen Augen. Der einzige Unterschied war, dass sich nun die Flamme der Petroleumlampe darin spiegelte und ihnen etwas Glanz verlieh.
„Lass uns die Sache zu Ende bringen, Daddy!“
Das sagte sie nun schon zum zweiten Mal, doch er verstand es noch immer nicht.
„Was meinst du damit, Jackie-Oh?“
Sie wandte sich von ihm ab und zog eine der unzähligen Schubläden des Sekretärs auf. Einige Zeit sah sie unschlüssig hinein, als würde sie in dem dort herrschenden Durcheinander nach etwas Bestimmtem suchen. Dann nahm sie zielsicher den einzigen angespitzten Bleistift heraus.
Erst jetzt sah er, dass ihre linke Hand die ganze Zeit auf einem dünnen Stapel Briefpapier geruht hatte, das sie nun zu ihm hinüberschob. Den Stift legte sie sorgfältig darauf ab, ehe sie ihren unangenehm leeren Blick wieder auf ihn heftete.
Ron fröstelte. Fragend sah er seine Tochter an. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie von ihm erwartete. Doch er spürte, dass er ihren Forderungen würde Folge leisten müssen, egal was es war.
„Du wirst einen Brief schreiben, Daddy!“, sagte Jackie mit ihrer rauen Stimme, die ihn an grobes Schmirgelpapier erinnerte.
„An wen, Liebes?“
„Das spielt keine Rolle. Aber hab keine Angst, Daddy, ich werde dir ganz genau sagen, was du schreiben sollst!“
„Und danach ist die Sache zu Ende gebracht?“, fragte er, obwohl er noch immer nicht wusste, was sie darunter verstand.
Sie lächelte erneut ihr schiefes Lächeln. Dann schüttelte sie langsam den Kopf: „Du musst erst wieder gut machen, was du Mommy Schlimmes angetan hast!“
Jackie deutete auf den Stuhl, der normalerweise vor dem Sekretär stand, den sie vorhin aber zur Seite gerückt haben musste.
Ihr schiefes Grinsen wurde breiter. Zum ersten Mal in dieser Nacht schienen ihre Augen zu leuchten, zu lodern. Fast teuflisch, dachte Ron. Etwas schien ihm die Luft abzuschnüren. Er räusperte sich mehrmals erfolglos. Schließlich folgte sein Blick Jackies ausgestrecktem Zeigefinger. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Nackenhaare richteten sich auf, dass es beinahe schmerzte. Auf dem Stuhl lag, zusammengerollt wie eine Anakonda, ein dickes Seil.
Sonntag, 16. September
Weiland stapfte missmutig den schmalen, unbefestigten Weg hinunter. Links und rechts wucherten verschiedene Büsche und Sträucher und streckten ihre dicht verzweigten Finger begierig nach ihm aus. Seine neuen Schuhe steckten zentimeterdick im Matsch. Innerlich verfluchte er die ganze Scheiße. Was sollte er überhaupt hier? Hatte man an einem Sonntagmorgen keinen anderen Idioten gefunden, den man in diese Einöde schicken konnte? Noch dazu, wo der Fall doch ohnehin klar auf der Hand zu liegen schien.
Seine Laune besserte sich auch nicht, als sich das Dickicht endlich vor ihm auftat, und er auf eine sonnenbeschienene Lichtung trat. Messerscharf umriss Weiland die Situation. Dieser Ort mochte irgendwann einmal sehr idyllisch gewesen sein, doch das musste Jahre zurückliegen. Inmitten des Waldstücks lag ein kleiner See, dessen brackiges Wasser grün in der Morgensonne leuchtete. Früher mochte er seine Besitzer zu einem kühlen Bad eingeladen haben, jetzt war er nicht mehr als ein stinkender Tümpel.
An seinem Ufer stand ein weißes Häuschen. Mehr eine heruntergekommene Hütte, dachte Weiland grimmig und ließ seinen Blick über die morsche Veranda und den eingesunkenen Giebel gleiten. Die ehemals weiße Farbe hatte sich zusammen mit dem ausgewaschenen Holz zu einem unansehnlichen Grau vermischt, mehrere Fensterläden hingen windschief in den Angeln. Rundherum wuchs das Gras sicherlich einen halben Meter hoch. Hinter dem Haus türmten sich verrostete Metallteile und verwitterte Holzbalken auf. Sofort schossen Weiland Bilder eines Schrottplatzes durch den Kopf. Unter einem Garten verstand er etwas anderes.
Weiland war es immer wieder aufs Neue unbegreiflich, wie manche Menschen hausten. Angesichts der Verwahrlosung, die sich vor ihm erstreckte, bekam er eine Gänsehaut. Verstärkt wurde dieses ungute Gefühl durch die Damen und Herren der Spurensicherung, die in ihren weißen Anzügen über das gesamte Areal wuselten und die Szenerie wie den Schauplatz eines Horrorfilmes erscheinen ließen.
Auf der grünen Oberfläche des Sees trieb ein kleines orangefarbenes Schlauchboot. Anscheinend waren Taucher in der trüben Brühe unterwegs. Viel Vergnügen, dachte Weiland mit einem Anflug von Schadenfreude. Nicht sonderlich kollegial, darüber war er sich im Klaren. Aber war es etwa fair, dass er hier in aller Herrgottsfrühe herumstapfen musste, anstatt sich ein ausgiebiges Frühstück mit einer seiner Geliebten zu gönnen?
Vor dem Aufgang zur Veranda sah er Kollege Timmens stehen und sich Notizen machen. Als dieser aufblickte und Weiland entdeckte, hob er die Hand zu einem kurzen Gruß. Weiland beschloss, die ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und bahnte sich seinen Weg durchs kniehohe Gras zum Haus.
„Was haben wir hier für einen Mist?“, grunzte er Timmens an, der bereits wieder in seine Unterlagen vertieft war.
Der junge Kollege ignorierte seine schlechte Laune und ging ohne großes Aufhebens zur Faktenlage über: „Wie es aussieht, hat sich der Hauseigentümer, Ronald Heller, in seinem Schlafzimmer erhängt. Laut Gerichtsmedizin ist er nicht länger als vier Stunden tot. Der Briefträger hat ihn heute Morgen gefunden. Er wird gerade von den Uniformierten vernommen. Ein eindeutiger Selbstmord, wenn du mich fragst. Mit Abschiedsbrief und allem drum und dran.“
„Und was sollen wir dann hier? Sind wir die Mordkommission oder irgendein Haufen Idioten, der nichts Besseres zu tun hat, als sich hier unnütz die Beine in den Bauch zu stehen?“
Timmens lächelte verschmitzt: „Das Pikante an der Sache ist der Brief.“
Ungeduldig hob Weiland eine Augenbraue. Komm zur Sache!, sollte dies seinem Kollegen bedeuten.
Timmens führte ihn in das Innere der heruntergekommenen Hütte. Augenblicklich standen sie in einem großen Raum, der allem Anschein nach als Küche und Wohnzimmer zugleich gedient hatte. Weiland verzog angewidert das Gesicht. Es stank bestialisch, was mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Stapel schmutzigen Geschirrs zurückzuführen war, die sich in und neben der Spüle auftürmten. Den verkrusteten, zum Teil bereits verschimmelten Essensresten nach zu urteilen, hatte dieser Heller seit mindestens vier Wochen den Abwasch nicht mehr erledigt. Auf dem Couchtisch, der zwischen einem alten Röhrenfernseher und einem zerschlissenen Sofa stand, drängten sich unzählige Bier- und Weinflaschen sowie zwei randvoll mit Zigarettenstummeln gefüllte Aschenbecher. Weilands Abscheu wuchs mit jeder Minute, die er in diesem Saustall verbringen musste.
„Sieh dir das an!“, riss sein Kollege ihn aus seinen düsteren Gedanken.
Timmens stand neben dem kleinen Küchentisch, der noch immer vom Vorabend gedeckt war. Der dreckige Teller, von dem der Tote höchstwahrscheinlich seine letzte Mahlzeit eingenommen hatte, und das halbvolle Rotweinglas passten perfekt ins Bild. Außergewöhnlich an der Sache war jedoch ein am anderen Ende des Tisches stehender unbenutzter Teller, neben dem Messer und Gabel fein säuberlich aufgereiht lagen.
„Für wen zum Teufel hat der Kerl denn bitteschön aufgedeckt? In dieses Dreckloch wird er wohl kaum jemanden zum Essen eingeladen haben!“, polterte Weiland los.
Timmens nickte: „Das ist eine verflucht gute Frage! Zumal das ganz und gar nicht zu dem passt, was Heller in seinem Abschiedsbrief schreibt.“
Weiland konnte förmlich fühlen, wie ihm langsam aber sicher der Geduldsfaden riss.
„Was steht denn nun in diesem gottverdammten Scheißbrief?“
Timmens hob halb abwehrend, halb entschuldigend die Hand.
„Wie Heller schreibt, hat er sich im letzten halben Jahr sehr gehen lassen und sich auch nicht mehr um Haus und Grundstück gekümmert“, begann er dann mit seinen Ausführungen.
„Ach was?“, bemerkte Weiland spitz.
Sein verächtlicher Blick fiel durch die offene Haustür auf einen alten Schaukelstuhl auf der Veranda, neben dem sich ebenfalls mehrere leere Bier- und Schnapsflaschen türmten. Dieser Heller schien ein Säufer gewesen zu sein, wie er im Buche stand.
Timmens sprach unbeirrt weiter: „Er hatte aber auch einmal eine Familie. Eine Frau und eine kleine Tochter.“
„Lass mich raten, die beiden haben ihn verlassen, weil sie den alten Suffkopf nicht mehr ertragen konnten.“
„Nicht direkt. Vor knapp vier Wochen...“, wandte Timmens eben zögerlich ein, als ein Beamter der Spurensicherung hereingestürmt kam.
„Kollegen, die Taucher haben was gefunden!“, verkündete er vollkommen außer Atem.
Die beiden folgten ihm nach draußen. Am Ufer des Sees lag ein großer schwarzer Müllsack. Als sie näher kamen, sahen sie, dass ein kleiner, zierlicher Körper darin eingewickelt war.
Weiland sog scharf die Luft ein. Er hatte in seiner Laufbahn schon einiges gesehen, doch zum ersten Mal spürte er Übelkeit in sich aufsteigen und fürchtete, sich übergeben zu müssen. Bei der Leiche handelte es sich um ein Mädchen, nicht älter als sieben oder acht Jahre. Sie trug ein weißes Nachthemd, das nass an ihrem dünnen, ausgezehrten Körper klebte. Ihre ehemals blonden Haare umrahmten das vom Wasser aufgedunsene Gesicht. Und dieses Gesicht würde Weiland bis in seine schlimmsten Albträume verfolgen, das wusste er.
Die blauen Knopfaugen des Kindes waren in blankem Entsetzen weit aufgerissen und schienen durch ihn hindurch bis in seine Seele blicken zu können. Weiland bekam eine Gänsehaut. Die linke Gesichtshälfte des Mädchens war seltsam deformiert und mit roten Striemen und blauen Flecken übersät. Der Mundwinkel war zu einem gespenstisch schiefen Grinsen nach oben gezogen.
Weiland warf dem neben ihm stehenden Gerichtsmediziner einen fragenden Blick zu.
„Ich vermute, dass das Mädchen mehrmals und über einen längeren Zeitraum hinweg ins Gesicht geschlagen worden ist“, antwortete dieser. „Die Verletzungen sind ihr größtenteils vor ihrem Tod zugefügt worden und zum Teil sogar beinahe verheilt.“
„Und dieses schreckliche Grinsen?“, hakte Weiland nach.
„Das dürfte von einer halbseitigen Lähmung herrühren. Vermutlich ausgelöst durch die heftigen Schläge.“
„In seinem Brief gibt Heller zu, seine Frau und seine Tochter in den letzten Monaten mehrmals verprügelt zu haben“, bestätigte Timmens.
Weiland schluckte schwer. Eine unbändige Wut stieg in ihm auf. Wenn dieser Heller sich letzte Nacht nicht selbst erhängt hätte, würde er das jetzt mit Freuden übernehmen. Immerhin hatte dieses Tier seine eigene Tochter erschlagen. Ein unschuldiges, kleines Mädchen.
„Das wars dann wohl hier“, grummelte er. Er wollte nur noch nach Hause, eine heiße Dusche nehmen und den Schmutz dieses schrecklichen Falles von sich abwaschen.
„Nicht ganz“, warf Timmens ein, „wir suchen noch immer nach der Mutter der Kleinen.“
Weiland starrte seinen jungen Kollegen verständnislos an.
„Ich bin vorhin nicht mehr dazu gekommen, es dir zu sagen. Heller gesteht in seinem Brief außerdem, dass er nicht nur sein Kind, sondern auch seine Frau getötet und im See versenkt hat. Er behauptet, stark betrunken und nach einem Streit rasend vor Wut gewesen zu sein.“
„Immerhin ist der Fall somit gelöst. Wir haben schließlich ein umfassendes Geständnis“, murmelte Weiland kopfschüttelnd. „Ich hau jetzt ab. Und gebt mir ja nicht Bescheid, wenn ihr die Mutter gefunden habt! Ich will mit dieser ganzen Scheiße nichts mehr zu tun haben!“
Er wandte sich zum Gehen. Er hatte genug gehört und gesehen. Noch immer bekam er eine Gänsehaut, wenn er an die leer vor sich hinstarrenden Augen des toten Mädchens dachte.
„Es gibt allerdings eine Sache an diesem Fall, die mir seltsam erscheint“, hielt Timmens ihn zurück.
Unwillig machte Weiland noch einmal kehrt und verdrehte genervt die Augen angesichts der Verzögerung.
„Und die wäre?“, fragte er ungeduldig.
„Auf den Holzdielen im Haus haben wir eingetrocknete Wasserflecken entdeckt. Sehen aus wie Fußabdrücke, die direkt ins Schlafzimmer führen.“
„Vielleicht war dieser Heller noch einmal beim See – oder sollte ich besser sagen Kloake – ehe er sich den Strick genommen hat“, erwiderte Weiland süffisant grinsend. Was kümmerte es ihn, was dieser besoffene Widerling kurz vor seinem Selbstmord gemacht hatte?
„Das glaube ich nicht“, antwortete Timmens und starrte dabei nachdenklich vor sich hin, „dafür sind die Abdrücke zu klein. Wenn du mich fragst, stammen sie eindeutig von Kinderfüßen.“
Weiland seufzte und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Timmens mochte ein guter Polizist sein, aber bisweilen verstieg er sich doch in recht merkwürdige Theorien. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.
Jackie stand auf einer Anhöhe jenseits des Sees und beobachtete gebannt, was rund um das kleine weiße Haus vor sich ging, das einst ein liebevolles Zuhause gewesen war. Als ihre Eltern sich noch lieb gehabt hatten. Als Daddy nicht mehr Alkohol getrunken hatte als gut für ihn war. Und als er lieber gestorben wäre als ihr Leid zuzufügen.
Sie sah, wie ihr eigener aufgedunsener und geschundener Körper, diese leere Hülle, in einer Metallwanne in einen Leichenwagen geschoben wurde. Beinahe zeitgleich zogen einige Männer in den komischen weißen Anzügen einen weiteren schwarzen Müllsack ans Ufer. Jackies Augen füllten sich mit Tränen. Doch es waren keine Tränen der Trauer, sondern der Erleichterung. Sie hatten sie gefunden!
„Ich habe es wieder gut gemacht, Mommy!“, flüsterte sie, „Daddy wird uns nie wieder wehtun können.“
Sie nahm eine sachte Bewegung neben sich wahr und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
Langsam tastete sie nach der Hand ihrer Mutter, die ebenso wächsern blau schimmerte wie ihre eigene.
„Jetzt können wir endlich nach Hause gehen, Mommy!“