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Das hartherzige Kind
Das hartherzige Kind
Es lebte einmal eine Mutter, die hatte ein einziges Kind, das sie sehr liebte und für das sie alles tat. Doch sie hatte keine Freude an ihrem Kind, denn es war hartherzig und unfolgsam. Hatte die Mutter zum Beispiel eine Mahlzeit für ihr Kind zubereitet und es freundlich zu Tisch gerufen, so antwortete das Kind: „Ja, Mutter, ich komme gleich!“ Und dann warf es einen letzten Blick auf den Ameisenhaufen, den es gerade beobachtete. Da konnte es dann geschehen, daß es einige Steine und Zweige entdeckte, die den Ameisen den direkten Weg zu ihrem Eingang beschwerlich machen würden. Deshalb beschloß es, nur noch schnell den Ameisen den Weg frei zu räumen, bevor es zum Essen heim ging.
Wenn das Kind dann endlich zu Hause ankam und sich an den Tisch setzen wollte, waren die Speisen schon lange kalt geworden. Die Mutter saß traurig und verletzt am Tisch und sprach: „Ach, was bist du hartherzig. Immer denkst du nur an dich. Niemals machst du dir Gedanken um mich, wo ich dich doch so liebe und mit viel Mühe für dich koche und sorge!“
„Ach, Mutter“, antwortete dann wohl das Kind, „ich wollte doch nur schnell den Ameisen helfen. Ich ...“
„Ja. Da kannst du sehen, wie hartherzig du bist!“ unterbrach es die Mutter. „Kleine, unbedeutende Ameisen sind dir wichtiger, als deine eigene Mutter!“
Das Kind wurde jedesmal, wenn seine Mutter so mit ihm sprach, sehr traurig und es beschloß in seinem Inneren, sich zu bessern und alles, was in seiner Macht stand, zu unternehmen, um nicht mehr so hartherzig zu sein.
Eines Tages geschah es nun, daß die Mutter wieder allen Grund zum Klagen über ihr Kind hatte. Dieses Mal aber wurde sie nicht nur traurig, nein, es überkam sie eine böse Wut und in dieser Wut rief sie aus: „Du hartherziges Kind! Ich wollte, du wärest in einen finsteren Wald mit düsteren, stummen Bäumen, traurig schweigenden Pilzen und harten, kantigen Steinen verbannt! Dort würde dir endlich klar werden, wie oft du die Liebe deiner Mutter mit Hartherzigkeit grausam vergolten hast!“
Die Wut der Mutter war so heiß und lodernd, daß ihr Fluch auf der Stelle in Erfüllung ging. Ihr Kind, das gerade noch neben ihr in der Stube gesessen hatte, war plötzlich verschwunden. Voller Schrecken blickte die Mutter auf den leeren Kinderstuhl. Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen und sie bereute bitter, daß sie ihr einziges Kind unbedacht verwünscht hatte.
Das Kind aber fand sich in einem finsteren, unheimlichen Wald wieder, in welchem eine geradezu gespenstische Stille herrschte. Obwohl der Wind die Zweige der Bäume bewegte, war kein Laut zu hören. Der Waldboden war von Unmengen von Pilzen bedeckt, deren Köpfe schweigend unter den bräunlichen, weißen und rötlichen Mützen zu Boden stierten. Überall lagen Steine in allen Größen auf dem schattigen Waldboden und als das Kind über eine Wurzel stolperte und stürzte, schlug es sich an der harten Oberfläche eines Steines das Knie blutig.
Das Kind kauerte sich am Fuß einer Buche zwischen die Wurzeln und dachte nach. Es wußte, daß es hier in diesem Wald war, weil es durch seine Unfolgsamkeit und seine Hartherzigkeit die Mutter dazu getrieben hatte, den furchtbaren Fluch auszusprechen. Es wußte aber auch, daß die Mutter den Fluch schon bereuen und sich grämen und nach ihrem Kind sehnen würde. Deshalb beschloß es, sich sofort auf den Heimweg zu machen, um seiner Mutter die Zeit des Kummers zu verkürzen.
Als es aufstehen und sich auf die Suche nach einem Pfad, der aus dem Wald hinausführte, machen wollte, sah es einen großen, schwarzen Käfer, der hilflos auf dem Rücken lag und mit seinen glänzenden Beinen strampelte, in dem verzweifelten Bemühen, wieder auf eben diese Beine zu gelangen. Dem Kind tat der Käfer leid und so ergriff es ein Stöckchen und half dem Tier vorsichtig wieder auf. Der Käfer blinzelte das Kind aus großen, schwarzen Knopfaugen an, bevor er flink im Wald verschwand. Das Kind meinte sogar, ein freundliches Käferlächeln gesehen zu haben. Auf seinem Weg ins Dickicht blieb der Käfer bei etlichen Pilzen stehen und jedesmal, wenn er weiter lief, hoben einige Pilze die Köpfe und betrachteten den fremden Gast neugierig.
Nachdem es den Käfer aus den Augen verloren hatte, stand das Kind auf, wischte sich das Blut vom Knie und begab sich auf die Suche nach einem Weg, der aus dem Wald hinaus führte.
Bald hatte es einen solchen Pfad gefunden und so schritt es tapfer fürbaß.
In der unheimlichen, kalten Stille des Waldes, unter dem Schweigen der Bäume und der reglosen Traurigkeit der Pilze, wurde es dem Kind schwer ums Herz und es hatte Mühe, sich nicht zwischen die Steine zu legen, um für immer einzuschlafen.
Um sich etwas Mut zu machen, begann es, leise vor sich hin zu singen. Es sang alte Wiegenlieder, die es von seiner Mutter gelernt, und Wanderlieder, die es von den herumziehenden Handwerksburschen gehört hatte. Der helle Kindergesang in dem stummen Wald war etwas so Ungewöhnliches, daß alle Pilze die Köpfe hoben und nachsahen, woher die seltsamen Töne kamen. Unter den Blättern des Waldweges kamen Schnecken und Käfer, Regenwürmer und Spinnen hervor. Alle waren sie irritiert und aufgeschreckt von dem nie gehörten Kindergesang, der die Stille des Waldes so plötzlich durchdrang. Hunderte neugieriger Tieraugen folgten dem singenden Kind.
Es war, als hätte der Gesang einen Zauber gebrochen, der über dem Wald gelegen hatte. Den Käfern und Würmern, den Schnecken und Spinnen wurde es warm ums Herz. Eine vorwitzige Spinne begann plötzlich ausgelassen zu tanzen. Zwei ganz junge Pilze fielen mit hellen Stimmen in den Gesang des Kindes ein und sogar der Wind, der bisher tonlos durch den Wald geweht hatte, begann leise zu säuseln.
Das ungewohnte Säuseln des Windes berührte die Bäume so, daß ihre Herzen zu tauen begannen. Als die Bäume die Wärme spürten, die von ihren schmelzenden Herzen ausging, stöhnten sie wohlig auf und reckten ihre Äste und Zweige mit leisem Knacken und Knistern. Kurz: der gesamte schweigende Wald wurde durch den Gesang des Kindes berührt und zum Leben der Töne und Geräusche erweckt.
Das Kind hörte die vielen Stimmen des Waldes und der Tiere. Überrascht beendete es sein Lied und blieb lauschend stehen. Ringsumher vernahm es ein Rascheln und Wispern, ein Flüstern und Rauschen, ein Krabbeln und Knistern. Der ganze Wald war auf wunderbare Weise lebendig geworden. Als ob die Sonne dies gemerkt hatte, brach sie durch das dichte Blätterdach und färbte den Waldboden golden. Einer der Sonnenstrahlen kitzelte einen Pilz an der Nase, so daß dieser kichern mußte. Sein Kichern war so fröhlich und ansteckend, daß nach kurzer Zeit alle Pilze ringsherum kicherten und sich vor Lachen die Pilzbäuche hielten.
„Was ist denn das hier für ein Lärm?“ fragte plötzlich eine knarrende Stimme. Das Kind sah sich um und erkannte, daß eine riesige Eiche mit ihm sprach.
„Verzeihung,“ antwortete es, „ich fing an zu singen, um mir Mut zu machen, weil es in diesem Wald so still und unheimlich war und nun habe ich wohl durch meinen Gesang hier alle aufgeweckt. – Es tut mir leid.“ fügte es vorsorglich hinzu, obwohl es ihm nicht ernsthaft leid tat. Im Gegenteil, der Wald erschien ihm auf einmal viel freundlicher und herzlicher.
„Das braucht dir nicht leid zu tun,“ versetzte die Eiche mit einem dröhnenden Lachen.
„Nein, wirklich nicht!“ fügte eine junge Fichte hinzu, die direkt neben der Eiche stand.
Es dauerte nicht lange, und das Kind war, umgeben von kichernden Pilzen, in eine Unterhaltung mit den sprechenden Bäumen vertieft.
„Nimm doch Platz!“ sagte eine Birke zu dem Kind und dieses merkte, wie müde es geworden war und sah sich nach einem Sitzplatz um. Außer Pilzen, Bäumen und Steinen konnte es nichts entdecken. Einer der Steine war an der Oberfläche abgeflacht und sah so aus, als könne man recht bequem darauf sitzen. Vorsichtig, um sich an dem harten Stein nicht ein zweites Mal zu verletzen, ließ sich das Kind nieder. Wie groß aber war seine Überraschung, als es feststellte, daß der Stein daunenweich war und sich wie ein wunderbarer Sessel um seine Glieder schmiegte. Gemütlich ließ es sich auf den weichen Stein sinken.
Die Mutter war unterdessen vor Kummer und Verzweiflung nicht zur Ruhe gekommen und hatte
voll Angst und Sorge beschlossen, ihr Kind in dem unheimlichen Wald zu suchen.
Weinend war sie aufgebrochen und viele Tage und Nächte über Stock und Stein gelaufen, bis sie schließlich den Rand des Waldes erreichte.
Wie eine schwarze Wand ragten die Baumstämme vor ihr auf. Eiseskälte umklammerte ihr Herz und sie mußte allen Mut zusammen nehmen, um ihren Weg fortzusetzen, mitten hinein in die Finsternis des Waldes.
Als sie eine Weile gelaufen war, war ihr, als wandle sich der Wald rings um sie her. Zuerst glaubte sie, ein Wispern und Knacken zu vernehmen. Dann hörte sie den Wind in den Zweigen rauschen und schließlich schien es ihr sogar, als kicherten die Pilze und als höre sie Stimmen in der Ferne. Je mehr Töne und Klänge sie vernahm, um so leichter wurde ihr Herz, und so schritt sie immer freier und zuversichtlicher voran.
Plötzlich öffnete sich das Dickicht vor ihr und sie trat auf eine Lichtung und was sie dort erblickte, ließ es ihr ganz warm ums Herz werden. Mitten auf der Lichtung saß ihr hartherziges Kind gemütlich auf einem offensichtlich daunenweichen Stein und plauderte und scherzte mit Pilzen, die kichern konnten, und mit Bäumen, die sprachen!
Still blieb die Mutter am Rande der Lichtung stehen. Dieser Wald war seit undenklichen Zeiten vollkommen stumm gewesen. Und ihrem Kind war es allein durch seine Anwesenheit gelungen, den Wald zu einem fröhlichen, klangvollen Leben zu erwecken!
Konnte es sein, so fragte sich die Mutter, daß sie sich geirrt hatte? War ihr hartherziges Kind vielleicht gar nicht hartherzig?