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Das Hügelgrab
„Wir haben uns verirrt“, klagte Daniel mit belegter Stimme. Er war ziemlich sicher, daß sein großer Bruder auch keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Seit über einer Stunde streiften sie nun schon durch den Wald, mal auf holprigen Trampelpfaden, mal schnurstracks durch Büsche und Unterholz, aber ihr Weg führte stets nach Norden.
„Wir haben uns nicht verlaufen. Ich habe mir den Weg genau beschreiben lassen“, antwortete der 14jährige Walter, drehte sich um und sah seinen jüngeren Bruder an.
Dieser trottete hinter ihm her und verließ sich voll und ganz auf den Orientierungssinn seines Bruders. Das dürre Laub, welches schon zum Größten Teil von den Zweigen der Bäume abgefallen war, raschelte bei jedem Schritt. Der Himmel war wolkenverhangen, aber es regnete nicht. Die beiden Jungs hatten sich einen idealen Tag für ihr Abenteuer ausgesucht.
„Hast du Angst?“, erkundigte sich Walter etwas spöttisch und blieb stehen.
„Nein“, antwortete Daniel, konnte aber ein leises Zittern in seiner Stimme nicht verbergen.
„Dann komm weiter. Es ist nicht mehr weit bis zum Hügelgrab.“
Daniel lief ein kalter Schauer über den Rücken als er dieses Wort hörte, folgte aber seinem Bruder als dieser sich wieder in Bewegung setzte, obwohl er sich am liebsten auf den Rückweg gemacht hätte. Aber allein durch den Wald nach Hause zu laufen erschien ihm noch schlimmer als Walter tiefer in den Wald zu folgen. Also ging er hinter ihm her, wie er es seit sie den Wald betreten hatten gemacht hatte.
„Weißt du, daß die Steine vom Hügelgrab Zauberkräfte besitzen? Zumindest erzählt man das im Dorf“, sagte Walter.
„Ich habe schon davon gehört“, antwortete Daniel.
„Ich möchte einen solchen Stein mitnehmen. Dann werden wir ja sehen, welche Kräfte er hat. Aber bei Nacht würde ich es nicht wagen, den Wald zu betreten. Wir sollten uns beeilen, damit wir vor dem Abend wieder hier raus sind. Ich habe schreckliche Geschichten gehört.“
„Welche?“
„Paß auf, ich werde es dir erzählen.“
Walter begann zu reden und sein Bruder hielt sich nun an seiner Seite, um der Geschichte besser folgen zu können. Das Rascheln des toten Laubes verstummte, als sie in einen Abschnitt des Waldes gelangten, der mit Fichten bewachsen war. Ringsum ragten die mächtigen Stämme schier endlos in den Himmel und bildeten ein dichtes Dach über den beiden. Der Boden war mit abgefallenen Nadeln übersät. Dürre, abgestorbene Zweige versperrten den Weg, brachen aber so leicht wie Stroh als sich die Jungs gewaltsam einen Weg bahnten. Walters Stimme war klar und deutlich zu hören und wurde gelegentlich vom Zwitschern eines Vogels begleitet, sonst war es still. Von Süden her, aus der Richtung aus der sie gekommen waren, zogen trübe Nebelschwaden über Felder und Wiesen, kletterten langsam über den Waldrand und hüllten Baum um Baum, Busch um Busch, in milchige Düsternis. Der Nebel breitete sich weiter nach Norden aus und wurde immer dichter, als wollte er den beiden Jungs den Weg versperren.
„Es ereignete sich vor 400 oder 500 Jahren“, begann Walter seine Erzählung, „als im Dorf eine Hexe – oder ein Zauberer, ich weiß es nicht genau, niemand weiß das mehr mit Sicherheit – auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die verkohlte Leiche hat man in den Wald gekarrt, eine flache Grube ausgehoben und das Grab mit Steinen bedeckt.“
„Warum hat man sie oder ihn nicht am Friedhof begraben?“, wollte Daniel wissen.
„Weil sich die Leute davor fürchteten, die Hexe oder der Zauberer – einigen wir uns auf den Zauberer, okay? – also der Zauberer könnte auch nach seinem Tod noch Unfug treiben. Du weißt schon, die Menschen befürchteten er könnte das Dorf verfluchen oder schreckliche Seuchen ausbrechen lassen. Deshalb hat man ihn im Wald, weit entfernt vom Dorf begraben. Und das war auch gut so, denn man erzählt sich noch etwas Seltsames.“
„Was?“, fragte Daniel ungeduldig.
„Das Hügelgrab des Zauberers soll noch genau so aussehen wie vor 500 Jahren. Natürlich fehlen ein paar Steine, denn auch andere glaubten an ihre Zauberkraft – genauso wie wir beide – aber sonst hat sich nichts verändert. Keine Pflanze hat auf dem Grab Wurzeln geschlagen, nicht einmal Moos. Es sieht so aus, als wären die Steine erst gestern aufgeschichtet worden. So habe ich es zumindest gehört.“
Walter verstummte und auch Daniel schwieg. Eine leichte Brise kam auf und ließ die Brüder frösteln. Die Äste und Zweige über ihnen knarrten bedrohlich. Es war dunkler geworden unter den Fichten, aber die beiden wußten nicht ob das an den dichter stehenden Bäumen lag oder ob ein Unwetter im Anzug war. Der Nebel hinter ihnen war näher gekrochen und breitete sich noch immer aus, schneller als die beiden Jungs vorankamen.
„Ich habe dir doch gesagt, daß es in der Nacht hier unheimlich ist, oder?“, unterbrach Walter das Schweigen, eine neue Geschichte beginnend, die ihm gerade eingefallen war.
„Ja, aber ich finde es auch jetzt schon gruselig genug.“
„Hör zu, du Angsthase! Man erzählt sich, daß es bisher nur zwei Leute gewagt haben, nach Einbruch der Nacht den Wald zu betreten. Der erste war ein Fremder, irgendein Verwandter eines Dorfbewohners, der die alten Geschichten über den Zauberer nicht kannte. Frag mich nicht wer er war, was er hier wollte oder warum er in den Wald ging und das ausgerechnet auch noch nachts, ich weiß es nicht. Jedenfalls tat er es. Er wollte den Wald durchqueren und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Ein paar Jahre später fand ein Bauer, als er sein Feld bestellen wollte, am Waldrand ein Häufchen menschlicher Knochen. Das ist alles. Die Leute tuscheln, daß das die Überreste jenes Fremden gewesen seinen, aber Gewißheit hat man nicht. Das sind alles nur Vermutungen.“
Walter machte eine Pause damit die Geschichte auf seinen Bruder einwirken konnte.
„Was ist mit dem Zweiten?“, erkundigte sich Daniel schließlich, obwohl er es eigentlich gar nicht wissen wollte.
„Der Zweite war Rudolf aus dem Dorf.“
„Der? Aber der ist ja völlig verrückt. Plappert den ganzen Tag nur sinnloses Zeug und traut sich kaum aus seinen vier Wänden!“
„Richtig! Aber er war nicht immer so. Bevor er in den Wald ging, war er im Kopf völlig normal. Er hat dort etwas erlebt oder gesehen, daß ihm den Verstand geraubt hat.“
Daniel schluckte hörbar, versuchte nicht daran zu denken was Rudolf womöglich gesehen haben könnte und folgte seinem Bruder. Die Sicht wurde immer schlechter, der Nebel hatte sie eingeholt. Die beiden beschleunigten ihre Schritte, die bedrohlich wirkenden Fichten wichen niedrigen Bäumen und Gestrüpp und nach fünf Minuten kamen sie an eine Wand aus so dichten Ranken, daß ein Durchkommen unmöglich war. Nur an einer Stelle befand sich ein natürlicher Durchgang, zwei Felsen, die aneinander lehnten und unter sich ein spitz zulaufendes Tor bildeten.
„Wir sind da“, flüsterte Walter ehrfurchtsvoll. „Dahinter befindet sich das Hügelgrab.“
„Laß uns umkehren“, bat Daniel.
„Nein, wir sind doch fast da.“
Walter nahm seinen Bruder bei der Hand und gemeinsam traten sie durch das Tor hindurch. Daniel blickte noch einmal zurück. Der Nebel war so dicht geworden, daß er keine 20 Schritte weit sehen konnte. Die verkrüppelten Bäume sahen aus wie bleiche Skelette. Ihre Äste schimmerten knöchern im kalten Dunst und ihre Zweige bewegten sich wie Totenfinger im leichten Wind und schienen nach ihm zu greifen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er drückte Walters Hand fester, wandte sich von dem schauerlichen Anblick ab und beide betraten die Lichtung.
Sie befanden sich am Rand einer Wiese. Das Gras wuchs aber so kümmerlich, daß es kaum bis zu den Knöcheln reichte. Zu beiden Seiten erstreckte sich das dichte Gestrüpp, wuchs in einem langgestreckten Bogen und bildete so einen Kreis um die Lichtung. Alles um die Brüder herum war in das fahle, graue Licht des Nebels getaucht, selbst das Gras hatte sein Grün verloren.
„Komm weiter“, Walter schubste Daniel leicht. Er flüsterte nur noch.
Es war ruhig, zu ruhig. Die vertrauten Laute des Waldes waren verstummt, die Grashalme wiegten lautlos im Wind. Walter und Daniel setzten ihre Füße so sanft und vorsichtig auf die Erde, als wäre es falsch, die Lautlosigkeit durch einen zu ungestümen Schritt zu brechen. Zu seiner Rechten bemerkte Daniel einen Schatten, etwa zehn Schritt von ihm entfernt, an einer Stelle, wo kein Schatten sein konnte, sein durfte. Er öffnete den Mund um Walter darauf aufmerksam zu machen, klappte ihn aber wieder zu ohne ein Wort zu sagen. Der Schatten war verschwunden. Die Stelle war genau so nebelig grau wie alles um sie herum. Daniel tat es als Hirngespinst ab und ging weiter. Das Gras wurde immer spärlicher und verschwand dann an einer Linie völlig, die wie mit einem Messer gezogen war. Die Brüder standen vor einem Kreis dunkler, fast schwarzer Erde, in dessen Mitte ein niedriger Hügel aus kleinen Steinen aufgeschichtet war.
„Das Hügelgrab“, flüsterte Walter.
Der uralte Steinhaufen war oval und etwas länger als ein erwachsener Mensch. Genau in der Mitte, am höchsten Punkt, ruhte ein würfelförmiger Stein. Seine regelmäßigen Seiten schimmerten schwarz, als wären sie geschliffen und poliert, und waren mit roten, unbekannten Runen beschrieben. Runen, wie sie einst nur Magier und Hexen lesen und schreiben konnten, deren Bedeutung heute aber keiner mehr verstand. Walter legte die wenigen Schritte bis zum Grab schlurfend zurück, Daniel blieb stehen, denn er scheute sich davor, dem unheimlichen Ding zu nahe zu kommen. Walter betrachtete fasziniert die letzte Ruhestätte des Hexers und bückte sich dann. Er ließ seine Finger langsam über die einzelnen Steine gleiten und berührte schließlich den Würfelförmigen, den schönsten und schrecklichsten zugleich. Sanfte Vibrationen gingen von ihm aus und setzten sich als Kribbeln in Walters Fingern fort. Er nahm ihn in die Hand und die Runen begannen zu leuchten, matt und blutrot.
Der Waldboden zitterte und einige Steine rollten vom Hügelgrab herab als sich der Schatten vom Rand der Lichtung näherte. Langsam kroch er am Boden entlang, tief im spärlichen Gras kauernd, lautlos und tödlich wie eine Schlange. Der Schatten bewegte sich auf das Hügelgrab zu, streckte seine schwarzen Finger nach Daniel aus und berührte mit eisiger Hand dessen Schulter. Daniel schrie auf, als er die Kälte an Schulter und Arm spürte, sprang erschrocken zur Seite und beobachtete, wie die düstere Gestalt an ihm vorbei huschte. Die lebendig gewordene Dunkelheit bewegte sich auf Walter zu, der neben dem Grab stand und den Stein mit den leuchtenden Runen in Händen hielt. Der Schatten breitete die Arme aus, wie ein Adler seine Schwingen und tiefe Schwärze verschluckte den Jungen, der keinen Laut von sich gab. Einen Augenblick schien die Welt still zu stehen. Nichts bewegte sich innerhalb der Lichtung. Kein Laut war zu hören. Als der Schatten die Arme wieder ausbreitete, wurde sie Stille gebrochen. Das Geräusch war schrecklich. Es klang wie mehrere Holzstäbe die aneinander geschlagen wurden. Daniel sah, wie blanke, fleischlose Knochen aus dem Schatten zu Boden fielen und einen wirren Haufen bildeten. Der Stein mit den Runen fiel als letzter, rollte wie von Geisterhand das Hügelgrab hinauf und nahm seinen angestammten Platz in der Mitte wieder ein. Als der Schatten sich auf Daniel zu bewegte, schüttelte dieser seine Erstarrung ab, stieß einen spitzen Schrei aus und sprintete gleichzeitig los.
Ohne sich umzudrehen flüchtete Daniel durch das Steintor und legte die Stecke durch die niedrigen Bäume, für die sie vorhin fünf Minuten gebraucht hatte, in einem Viertel der Zeit zurück. Als er die Fichten erreichte lief er etwas langsamer und als der Nebel so dicht wurde, daß er die Hand kaum vor Augen sehen konnte fiel er in einen schnellen Gang, um nicht mit dem Kopf gegen die Bäume zu stoßen. Eine Weile tappte er noch weiter zwischen den Stämmen hindurch, dann hielt er an, keuchend und schwitzend, und blickte sich zum ersten Mal um. Wie durch einen Schleier sah er ein paar Fichtenstämme, die, je weiter entfernt, vom Nebel verschluckt wurden. Keine Schatten. Daniel rang nach Atem und beugte den Oberkörper um den stechenden Schmerz in seiner Brust zu vertreiben. Als er sich etwas besser fühlte, ging er weiter. Hinter ihm, nur wenige Schritte entfernt, brach ein dürrer Ast mit lauten Knacken. Panik stieg in Daniel auf. Er begann wieder zu laufen, obwohl er kaum etwas sehen konnte. Abgestorbenes Geäst, das er mit den Händen nicht mehr beiseite schieben konnte, peitschte ihm ins Gesicht und an manch einem Baumstamm schrammte er nur haarscharf vorbei. Einmal stolperte er über eine Wurzel und fiel hin. Ein weiterer brechender Ast hinter ihm ließ ihn aber rasch wieder aufspringen und seine Flucht fortsetzen. Schließlich kam er aus dem Fichtenwald heraus und die Laubbäume breiteten ihr vom Nebel verborgenes Blätterdach über ihn aus. Beim Laufen durch das tote Laub entstand ein solcher Lärm, daß Daniel einen etwaigen Verfolger unmöglich hören konnte, selbst wenn er einen Schritt hinter ihm war. Fünf Minuten später konnte er nicht mehr weiter, er mußte erneut stehen bleiben. Er stützte die Arme auf die Knie und schöpfte Atem. Etwas Kaltes berührte ihn im Nacken und Daniel wußte, daß er eingeholt, daß dies sein Ende war. Instinktiv faßte er mit der Hand hinter seinen Kopf und holte den Gegenstand nach vor. Als er das dürre Blatt in seiner Hand liegen sah und es mit den Fingern in kleine Teile zerdrückte, lachte er, laut und hektisch. Er richtete sich auf und blickte nochmals zurück, um nach Schatten Ausschau zu halten und stand Auge in Auge mit der bedrohlichen Finsternis. Die schwarze Gestalt hatte die Schwingen ausgebreitet, rückte noch ein Stück näher an Daniel heran und hüllte ihn in völlige Dunkelheit.