Das große Unbehagen
"In der siebten Klasse erst, ja, es ist wirklich tragisch, dass sie jetzt schon gestorben ist. Es fällt mir schwer, aber wir müssen weitermachen mit dem Unterricht. Hat denn jemand von Euch Sina gekannt?"
Anne bringt eine Meldung zustande und ein "Ich", das -so weiß sie schon bevor sie es ausspricht- die Blicke auf sie lenken wird.
Diese Stille im Kurs, dieses erdrückende Abwarten auf den nächsten Satz; fast macht es ihr krankhaften Spaß, diese höfliche unsichere Stille zu zerschneiden mit ihrer Meldung. Die Köpfe fliegen wie erwartet herum zu ihr, interessehalber, und wahrscheinlich damit alle einen Punkt haben, auf den sie ihre dummen leeren Augen richten können...
Woher kommt ihr plötzlicher Hass auf sie alle? Weil der Lehrer gesagt hat, die kleine Sina, dessen Klassenlehrer er ist, etliche Klassen unter Annes Jahrgangsstufe, sei an Krebs gestorben? Ist es der Hass auf den Krebs? Ist es das Wiederaufflammen der alten Emotionen von damals, als ihr Papa gestorben ist? Ist es dieselbe Unsicherheit wie die der anderen? Oder vielleicht ist es weil sie sich zurückgedrängt fühlt in das unbequeme Verarbeiten des Todes von ihrem eigenen Papa? Sie bemerkt, dass es am wenigsten aufrichtiges Anteilnehmen an Sarahs Tod ist. Sie hat sie ja auch nie wirklich gesehen.
Und sie hat verdrängt, viel verdrängt von damals... sie denkt "damals", dabei war es vor nicht einmal zwei Jahren...
Was ist Anteilnahme schon? Und was Verdrängung?
Wie kann man Anteil nehmen an etwas, das man spürt und aufnimmt wie im Rausch? Sina ist tot- und schon ist da ein imaginärer Tunnel, durch den Anne weit entfernt am anderen Ende das Gesicht des Lehrers wahrnimmt. Sie sieht im Augenwinkel, wie ihr eigener Brustkorb sich beim Atmen schneller hebt und senkt... Wer hat ihrem Brustkorb gesagt er solle sich schneller heben? Wer hat ihr eingegeben fast zu hyperventilieren? Kein Wunder, dass sie die seltsame Tunnelvision hat! Spielt sie denn nur Theater, als sie den Blick für den Rest der Stunde nicht mehr hebt? Ihre Gedanken sind ja gar nicht wirklich bei Sina, sie denkt einfach- nichts. Nimmt die roten Schnürsenkel ihres Platznachbarn wahr, nicht aber das Unterrichtsgeschehen.
Es ist tatsächlich ein déjà-vu. Fast muss Anne wieder heulen, als wäre es ihr Papa, der noch einmal an dem verdammten Hirntumor gestorben ist. Was passiert nur mit ihr? Sie kennt Sina doch nicht! Aber die Gesichter der übrigen!! Zuerst sehen sie sie an, unverwandt, wie dumm, weil man eben nicht weggucken kann... dann, als sie ja wie bereitwillig selbst die Stille durchbricht, ist der Kurs wie erleichtert, lenkt sich wieder ein bisschen ab- wie hilfreich, dass das Unterrichtsgeschehen ach-so-leider weitergeht.
Die Blicke treffen sie nicht mehr -fast ist es schade, bemerkt sie- im Gegenteil, wer gerade noch einen Preis im Glotzen verdient hätte, will ihn jetzt mit Ignorieren gewinnen. Das Gemurmel erhebt sich wieder, eine fast normal unaufmerksame Unterrichtsatmosphäre.
Bei Anne steigt der Groll, alles wirkt auf sie so künstlich, so aufgesetzt, irgendwie angestrengt fröhlich. Vielleicht ist auch alles nur normal. Aber genau das ist es was sie nur noch um so mehr ärgert: Wieso muss sie plötzlich so angespitzt sein, das Verhalten zu beobachten? Und wieso hasst sie sich dafür egal was sie tut, "normal weitermachen" oder in-sich-hinein-denken, wobei sie sich so oder so mitleidheischend vorkommt.
Wahrscheinlich ist alles, was sie empfindet zurückzuführen auf den Ärger auf den Toten, dass er sie in einer so beklemmenden Situation zurücklässt. Wie geächtet von anderen, die hilflos glotzen, glotzt auch sie oder "macht weiter wie gehabt". Ist das Verdrängung? Wie sähe eine Verarbeitung aus? Wenn sie über Papas Foto weint wie so oft in zwei Jahren, ist das Verarbeitung? Sobald sie weitermacht: in die Schule gehen, pfeift, singt und tanzt verdrängt sie? Und wieso, verdammt, ist sie so unsagbar getroffen, wenn eine ganz andere Person, die sie nicht kennt, stirbt?
Sie fühlt sich alleingelassen, unsouverän, sie, die sonst auf alles zu reagieren weiß. Das ist ihr Ärger. Und sie wird schwach vor lauter sie übermannender Tränenflut, die in den Augen drückt. Auch bei der Trauer gibt es kein Schwarz und Weiß, auch wenn das allgemein so angenommen wird. Trotz noch so großer Weinerlichkeit ist sie nicht von schwarzer Leere umgeben, sondern von ihrem Alltag.