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Das große Karnickel
Sie sagten mir die Tollwut nach und wo immer ich mich blicken ließ, hetzten sie ihre Hunde auf mich. Ich hatte die Jagden in diesem Jahr überstanden. Sie zählten mich nicht zu ihren Freunden. Sie hängten die Schwänze meiner Brüder und Schwestern an ihre rasenden Götter. Doch die Schläue sprachen sie mir nicht ab. Da bewiesen sie Instinkt. Ich hatte keinen Groll gegen sie. Es war vielmehr so, dass ich meine Pirschgänge ausdehnte.
Neugier war es. Aber auch Hunger.
Sie erschlossen das Land, das auch das meine war. Sie bauten Lagerhallen und Einkaufszentren. Sie errichteten Tankstellen dazwischen, Parkplätze, Zufahrtsstraßen. In den Nächten waren diese Bereiche taghell beleuchtet und das Licht ging auf den Feldern, die noch da waren, spazieren. Ich stellte mich darauf ein.
Es war noch alles machbar, aber gefährlicher als früher.
Jetzt habe ich keinen Namen für meine Schmerzen.
Es wird kälter. Es wird nicht bis zum Morgen reichen. Das sagt mir mein Instinkt.
Meine Gier, mein Hunger. Beide waren gewaltig. Ich hätte meine Schläue nicht vergessen dürfen.
Es war ein Pirschgang.
Einer von vielen, bei denen ich den Duft eines Karnickels schon in der Nase hatte. Es musste ein großes gewesen sein. Ich schlich umher in einem ihrer Bereiche, die in den Nächten taghell beleuchtet waren. Ich hatte Hunger. Der trieb mich vorwärts. Ich vergaß meine Schläue für den Bruchteil eines Augenblicks. Ich sah das Licht auf mich zudonnern. Ich war erstarrt. Die Schnellstraße. Ich hatte die Schnellstraße vergessen. Auf ihre Schnellstraße. Es reichte noch für eine Drehung. Dann begann der Schmerz und ich begriff, dass ich nicht in meinen Bau zurückkehren werden würde. Nicht in dieser Nacht. Niemals mehr.
Der Boden der Straße war hart. Einer ihrer rasenden Götter hatte meinen linken Hinterlauf gerammt. Es knackte hässlich. Ich bin ein Kreisel, dachte ich. Ich wurde gegen das Metall geschleudert, mit dem sie ihre Straßen abgrenzen. Die Knochen meiner Hinterhand brachen wie trockenes Holz, im Fell stockte das Blut. Es kam kein Blut. Das Becken war durch den Anprall zertrümmert. Mein Blick wurde trübe. Ich glaubte das große Karnickel im Feld hocken zu sehen, witternd, mit hochgestellten Ohren. Es musste aber auch nicht wahr sein. Die Grenze zwischen meiner Wahrnehmung und der Wirklichkeit am Feld verschwamm. Ich zog mich mit den Vorderpfoten von der Mitte der Straße, schrammte meine offene Bauchdecke über den Asphalt. Mein Atem ging pfeifend, hechelnd, schubweise. Noch atmete ich. Ich roch das Gras, das Getreide, das jetzt hoch stand.
Durch den trüben Schleier hörte ich den nächsten Gott heranrasen, umgeben von strahlenden, vorauseilenden Lichtbündeln. Ich hörte ihn mehr als ich ihn sah. Sah man mich denn nicht hier liegen? Ich habe keinen Groll gegen euch, auch wenn ihre mit euren Straßen meine Pirschwege zerschneidet.
Manche bremsen, weichen aus. Dieser tat nichts von alldem. Der Aufprall war fürchterlich.
Ich spürte das Gewicht der ganzen Welt auf meinem Körper.
Ich liege am Rande der Straße.
Die Einsamkeit ist schlimmer als der Schmerz, der mich in Schüben quält. Mein Rückrat ist zersplittert. Beim Aufprall habe ich mir die Zunge abgebissen. Ich habe Angst hier alleine zu bleiben bis zum Ende. Ich liege neben der Straße, zwischen leeren Dosen und Papier, das sie achtlos aus ihren rasenden Göttern werfen. Ich spüre noch das Gras. Lichtbündel jaulen vorbei, verschwinden mit roten Augen im Dunkel. Die Schmerzen. Bei ihren Hunden habe ich meine Schläue ins Spiel gebracht. Jahre habe ich ihnen abgetrotzt damit. Das Fleisch des Karnickels hätte im Bau für ein paar Tage gereicht. Hätte, wäre! Was denke ich nur. Es war immer unser Land hier. Es gab Karnickel, Fasane, Rebhühner. Es gab zu essen. Die Jagden hatten sie schon damals veranstaltet. Doch man wurde klüger mit jedem Jahr. Alles begann sich weiter in die Wälder, die Felder, zurückzuziehen. Man tauschte sich aus, sprach sich ab, wusste, wo es zu gefährlich war. Die Ausfälle waren gering und es ging weiter. Es gab immer wieder eine Zukunft und ihre Hunde hatten wir Älteren meistens im Griff.
Sie sind uns nachgerückt, haben die Wälder gerodet, die auch uns gehören. Sie haben das Land verändert, Häuser darauf gebaut, Straßen und Gleise dorthin gelegt. Es gibt nur noch wenige von uns und wir lieben uns immer seltener im Dämmer und dem Tau des Morgens. Das haben sie geschafft. Sie wollen uns weg haben, sehen unsere Schwänze lieber aufgepflanzt auf ihren rasenden Göttern.
Mir ist kalt. Ich möchte aufstehen, davonlaufen. Quer über die Äcker möchte ich laufen. Es ist so jämmerlich hier. Ja, das große Karnickel. Es ist größer als ich gedacht hatte. Ich sehe es jetzt. Es ist unheimlich groß, hockt mitten im grellen Licht über mir. Ich schlage meine Zähne in seinen Nacken. Es hat Augen wie sie. Ich wünschte, ich hätte die Tollwut.
Jetzt. Jetzt.