Das große Finale
Wenn man stirbt, so sagt man, zieht das Leben nochmals am inneren Auge vorbei. Ich bin unweigerlich am Klimax meines viel zu kurzen Auftritts auf der Bühne des Lebens angelangt, denn ich kann die verschiedenen Akte in halsbrecherischer Geschwindigkeit an mir vorüberziehen sehen. Jeden einzelnen, für sich gesehen harmlosen Schritt, der mich hierher geführt hat, zu diesem Zeitpunkt an diesen schicksalhaften Ort.
Jeder hat mal einen schlechten Tag, aber der heutige Tag ist mehr als das. Er ist der Höhepunkt – oder sollte ich ich eher Tiefpunkt sagen? - einer Pechsträhne, die sich bereits seit Wochen, sogar Monaten hinzieht. Früher war alles besser, rede ich mir ein. Vielleicht aber auch nicht und die Zeit hat alle Wunden geheilt, ich kann mich nicht mehr erinnern. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, aber der Gedanke gefällt mir.
Da stehe ich nun auf dem Dach des größten Casinos von »New Vegas« im »Orion Cluster« und blicke in den silbern funkelnden Lauf eines blitzblank polierten, altmodischen Revolvers. Er muss unglaublich wertvoll sein, eine unbezahlbare Antiquität aus längst vergessenen Tagen, doch in diesem Moment ist er das größte meiner Probleme. Er und der sardonisch lächelnde Auftragsmörder, der ihn in der Hand hält.
Dabei hat alles ganz harmlos angefangen, wie so viele tragische Geschichten. Aber ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist David Farraday und ich schreibe, besser gesagt schrieb, Bühnenstücke für das imperiale Hoftheater auf dem Planeten »Calliope«. Ich war noch ein junger und unerfahrener Schreiber, da lernte ich Ben kennen, einen erfolglosen Bühnenautor, der sich aufgrund seines mangelnden Talents nur mit Mühe und Not über Wasser hielt. Bens Kapital waren seine Bekanntschaften in allen Schichten der Gesellschaft, besonders aber seine Beziehungen zu den illustren Damen der Adelshäuser. Diese Beziehungen waren meine Chance, auf die große Bühne zu gelangen, daher engagierte ich ihn als meinen Agenten.
Dank einer Renaissance des Theaters feierten wir eine Zeit lang moderate Erfolge, der endgültige Durchbruch schien zum Greifen nahe. Dann fand ich heraus, dass er mich betrog, dass er den Großteil der Tantiemen in die eigene Tasche steckte. Ich stellte ihn zur Rede, doch er stritt wortreich alles ab. Da ich kein Wort von dem glaubte, was er sagte, feuerte ich ihn, setzte ihn sprichwörtlich wieder zurück auf die Strasse. Das war ein großer Fehler, wie ich nur kurze Zeit später herausfinden sollte.
Die Suche nach einem neuen Agenten oder Engagement blieben erfolglos, dafür sorgte Ben auf seinem ausgeklügelten Rachefeldzug. Beiläufig platzierte Bemerkungen und sorgfältig in Gespräche eingestreute Gerüchte darüber, wie ich ihn hintergangen und bestohlen hatte, sorgten dafür, dass mein mühsam aufgebauter Ruf in kürzester Zeit zerstört war. Meine Laufbahn als Bühnenautor war unwiderruflich ruiniert. Das bemerkte auch Sarah, meine Frau, die unverzüglich ihre Sachen packte und mich verließ. Ich konnte ihr ihren gewohnten luxuriösen Lebensstandard nicht mehr bieten, da hatte sie keine Verwendung mehr für mich.
Mir blieb nichts anderes übrig, als meine wenigen Habseligkeiten zu packen und »Calliope« zu verlassen. Da ich nicht wußte, wohin ich gehen sollte, nahm ich meine mageren Ersparnisse und flog nach »New Vegas«. Die Ablenkung durch das Glücksspiel, die zahlreichen Sehenswürdigkeiten und ein paar Tage Entspannung würden mir gut tun. Dann ein Neuanfang, vielleicht sogar auf der guten alten Erde - das war der Plan. Aber die Probleme blieben nicht hinter mir, sie verfolgten mich auf Schritt und Tritt.
Die Reise in den »Orion Cluster« verlief ereignislos. Im Orbit von »New Vegas« stieg ich vom Hyperraumkreuzer auf ein Shuttle um, das Besucher zu dem Planeten der Sünde brachte. Nein, Planet ist wahrlich übertrieben, »New Vegas« ist ein mittelgroßer Asteroid, der mit modernster Technologie bewohnbar gemacht worden war. Ein gigantisches Lebenserhaltungssystem erzeugt eine künstliche Atmosphäre, Schutzschilde sorgen dafür, dass sich der unverzichtbare Sauerstoff nicht spurlos ins Weltall davonstiehlt. Der gewaltige Energieverbrauch würde so manchen Staat in den Bankrott treiben, doch über die Kosten macht man sich hier keine Gedanken. Die ganze Wirtschaft dreht sich um Hotels, Casinos, Restaurants und Bars. Und es dreht sich natürlich alles um den Mammon, das Geld der Touristen, das diese nur allzu bereitwillig auf den Altären des Glücksspiels opfern.
Ich saß an einem der Fenster des Shuttles, betrachtete die unvergleichliche Schönheit des Orion Nebels in einem der beeindruckendsten Sternbilder unseres Universums. Der Anblick versetzte mich in einen lange nicht mehr erlebten Zustand der Euphorie und Vorfreude. Dann kam sie - jung, wunderschön, das Bildnis einer griechischen Göttin. Sie setzte sich neben mich und wir redeten, erzählten uns die gewöhnlichen Belanglosigkeiten unter Fremden. Ihr Lächeln war so bezaubernd, dass ich Mühe hatte, ihren Ausschweifungen zu folgen, ich war wie hypnotisiert von den graziösen Bewegungen ihrer aristokratischen Hände.
Später, bei der Zollabfertigung, folgte das böse Erwachen. Sie hatte meine ID-Card, das meiste Bargeld, sogar das fast vergessene Foto von Sarah mitgenommen. Das Bild überließ ich ihr gerne, aber der Verlust der anderen Sachen schmerzte. Nicht einmal ihren Namen hatte sie mir gelassen.
Die Zollbeamten zeigten sich wenig beeindruckt von meiner Geschichte, verfolgten meine wort- und gestenreich vorgetragene Lebensgeschichte mit unverhohlenem Desinteresse. Sie gaben mir als Belohnung für meinen Auftritt ein Zimmer und etwas zu essen – in der Untersuchungshaft.
Am nächsten Tag unterzog mich ein mürrischer Beamter einem Retinascan und DNA-Test. Er nahm auch zahlreiche Fingerabdrücke, alles zur Überprüfung meiner Identität. Innerhalb weniger Stunden waren meine Daten per Subraumübertragung mit dem Zentralarchiv der Erde abgeglichen und ich durfte mit beglaubigter Geschichte und neuer ID-Card meine Vergnügungsreise antreten.
Eine schäbige Bleibe im Rücken, meine letzten Credits in der Tasche, machte ich mich auf, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Ich schlenderte durch die überfüllten Strassen, unzählige Bars buhlten mit aggressiven Reklamen um die Gunst der Touristen, Theater und Varietés warben mit unglaublichen Darbietungen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Sie versprachen dem geneigten Besucher den Himmel auf Erden - für einen geradezu lächerlichen Eintrittspreis.
Meine Schritte führten mich weiter, auf einen großen Platz im Zentrum des Planetoiden, und da war es - das »Grand Orion Casino«, das größte Casino, das jemals von Menschenhand erbaut worden war. Ein monströser Palast aus Stahl, Glas und Licht, ein neuer Turm zu Babel, dessen Spitze bis zum Rand des Schutzschildes reicht. Ich überquerte ehrfürchtig den Platz und trat ein in die Welt des Glamours und Glücksspiels.
Da saß ich nun am Black Jack Tisch, gewann sogar einige Credits und wähnte mich in einer Glückssträhne, sie war jedoch nur von kurzer Dauer. Der Croupier verteilte gerade die Karten für eine neue Runde, da setzte sich die unbekannte Schöne mir gegenüber an den Tisch, doch dieses Mal war ich nicht bezaubert.
Wütend sprang ich auf, mein Stuhl fiel krachend zu Boden. Ich rannte auf sie zu, rempelte dabei versehentlich einen Kellner an, der seine erlesenen Getränke mit einem Aufschrei über die Gäste schüttete. Sie verfolgte meinen Ausbruch mit stoischer Ruhe. Zwei uniformierte Bodyguards, die unbemerkt an mich heran getreten waren, packten mich unsanft, bevor ich mein Ziel erreichen konnte. Sie drehten mir schmerzhaft die Arme auf den Rücken und zerrten mich zum Aufzug. Ich wand mich, biss, schrie und trat, alles ohne Erfolg, sie hielten mich fest im Griff. Für die Casinobesucher war ich nur ein Schauspiel, das mit gebannten Augen verfolgt wurde. Aus dem Augenwinkel konnte ich meine Nemesis sehen, wie sie sich elegant von ihrem Stuhl erhob und wortlos zu uns in den Aufzug stieg.
Wir fuhren aufwärts, minutenlang, jahrhundertelang. Ich stellte ihr Fragen, verlangte Antworten, rang um Verständnis dafür, was sie tat, doch sie würdigte mich keines Blickes. Auf dem Dach angekommen schubsten die Gorillas mich unsanft aus dem Auszug. An den Türen blieben sie stehen, nur Statisten in meinem Drama, die Arme verschränkt, der Blick teilnahmslos. Die Schöne zog einen silbernen Revolver aus der Tasche und richtete ihn auf mich, drängte mich damit zum Rand des Daches.
"Wer bist du? Warum tust du das? Was willst du von mir?", verlangte ich von ihr zu wissen, den Blick fest auf sie gerichtet. Der Abgrund gähnte schwindelerregend hinter mir.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. "Ich bin nur eine unwichtige Nebenrolle, eine Botin, die ein Geschenk überbringen soll."
"Was für ein Geschenk?", schrie ich sie an, meine Stimme eine Symbiose aus Wut und Angst.
"Ein letztes Bühnenstück, dein ganz persönliches Drama. Ein tragisches Finale für ein Leben, das der Unterhaltung anderer gewidmet ist, inszeniert von deinem alten Freund Ben." Sie hob den Revolver direkt vor meine Stirn, ihre Augen kalt und unergründlich wie die Weiten des Weltraums.
"Du darfst eine letzte Entscheidung treffen, den Abschluss deines Meisterwerkes selbst wählen", sagte sie, deutete dabei mit einem Kopfnicken zum Abgrund.
Damit bin ich wieder am Anfang meiner Geschichte, oder besser gesagt, am Ende, dem unausweichlichen Höhepunkt des Dramas. Der Antagonist ist offenbart, das Leben mit seinen unzähligen Ereignissen und Entscheidungsmöglichkeiten hat sich reduziert auf eine einfache Wahl – eine Kugel in den Kopf oder den Sprung in den Tod. Ich muss mich entscheiden, Memme oder Mann, Feigling oder tragischer Held, Unterwerfung oder Freiheit.
Ich schaue mich um, die Schönheit des Weltalls, das mich umgibt, ist der Kontrapunkt zu der Hoffnungslosigkeit, die mich erfüllt. Ich überlege nur kurz, dann entscheide ich mich, lache meinem Schicksal ins Gesicht – und springe. Entscheide mich für einen Moment unbeschränkter Freiheit, der wie bei Ikarus nur von kurzer Dauer sein kann. Hier bin ich also, falle schneller an den Fenstern des Casinos vorbei, als meine Erinnerungen an mir vorüberziehen können, und wünschte, der letzte Vorhang würde noch nicht fallen. Da bahnt sich ein verdrängtes Detail den Weg in meine Überlegungen, ein unterdrückter Gedanke aus den Tiefen des Unterbewusstseins. Woher hatte sie den teuren Revolver und wie konnte sie diesen unbemerkt auf »New Vegas« schmuggeln? Ben hatte sein ganzes Leben am Theater verbracht, was, wenn der Revolver nur eine Requi...