Das Grauen des Waldes
Nebelverhangen lag das große, lange, sagenumwobene Waldstück in einiger Entfernung vor ihnen. Andrea, langsam immer tiefer in ihren Beifahrersitz sinkend, spürte dieses unheilverheißende Kribbeln im Bauch ... Ein Blick zu Thorsten, ihrem Mann, zeigte ihr, dass er keinerlei sorgende Gedanken hegte.
Andrea und Thorsten waren ein junges Ehepaar. Heute hatten sie schon ein langes Stück gefahren und kamen jetzt an einen Wald, in dem es, wie sie heute bei einem Stop in einer kleinen Gastwirtschaft erfahren hatten, spuken sollte!
Thorsten hatte das natürlich für Humbug und „Altweibergeschwätz“ abgetan ... Gut genug, um kleine Kinder zu ängstigen. Andrea hingegen war hellhörig geworden. Sie glaubte an Übersinnliches und ging nicht allzu leichtfertig damit um.
Es war schon dunkel geworden und die letzte Ortschaft lag wohl gut und gerne fünf km hinter ihnen ... Schon die Landstraße, die sie bis jetzt zurückgelegt hatten, war an Einsamkeit nicht mehr zu überbieten gewesen und nun dieses „berühmte“ Waldstück.
Thorsten bemerkte nun endlich seine ängstliche Ehefrau und streichelte ihr behutsam über ihr Bein.
„Andrea, mein Liebling, Du wirst dem Unsinn im Gasthaus doch nichts beimessen?“
Doch ein erneuter Blick auf ihre zitternde Gestalt belehrte ihn eines Besseren.
„Weißt Du, Thorsten, ich denke, wir sollten einen anderen Weg nehmen.“
Lachend schüttelte Thorsten den Kopf und gab zu bedenken:
“Hast Du vergessen, dass wir dann einen Umweg von über 50 km machen müssten? Andrea, was soll uns denn schon geschehen? Meinetwegen magst Du Recht haben, dass der Wald unheimlich aussieht, aber wir werden uns doch wohl nicht unterkriegen lassen?“
Mit einem tiefen Seufzer ergab sich Andrea dem Kommenden.
Die ersten Bäume hatten sie passiert. Andrea und Thorsten konnten sich nicht erinnern, jemals ein so undurchdringliches Schwarz gesehen zu haben. Der Lichtkegel des Autos kam ihnen beiden lächerlich schwach vor ...
Als sie sich, beinahe schon fasziniert, den Betrachtungen des dichten Waldes hingaben, geschah es plötzlich ...
Der Motor fing so stark an zu ruckeln, dass Andrea und Thorsten mächtig durch-geschüttelt wurden. Thorsten konnte das Auto gerade noch an den Seitenrand fahren, dann blieb es unvermittelt stehen.
Andrea war wie erstarrt, versuchte sich jedoch ruhig zu halten:
„Thorsten! Was, um Himmels willen, ist denn geschehen?“
Thorsten schüttelte ratlos den Kopf und sagte zögerlich:
„Stell` Dir nur vor: die Tankanzeige steht auf rot. Dabei weiß ich sicher, dass er noch zur Hälfte voll sein müsste. Ich werde wohl in das Dorf zurücklaufen müssen und mir an der Tankstelle, die ich vorhin gesehen habe, Benzin holen.“
Mit großen, vor Angst geweiteten Augen sagte sie flehend:
„Du willst mich doch nicht im Ernst in dieser Dunkelheit und in diesem Spukwald zurücklassen, oder? Das kannst Du nicht tun, Thorsten!“
Er sah seine Frau liebevoll an:
„Sei nicht töricht, mein Liebling. Du bist müde und du hast vorhin noch über deine Blasen am Fuß gejammert. Ich werde mich beeilen. Glaube nicht an den Unfug mit dem Spukwald.“
Andrea konnte ihr Entsetzen kaum mehr verbergen, sah aber ein, dass Thorsten Recht hatte. Sie konnte vor Schmerzen wirklich kaum mehr gehen.
Sie nickte zaghaft. Augenblicklich nahm sie einen kleinen Hammer in die Hand, der ihr eine gewisse Art Schutz verlieh.
Thorsten schnappte sich seinen Geldbeutel und eine der beiden Taschenlampen, die sie stets für den Notfall dabei hatten, beugte sich über seine Frau und küsste sie innig ...
„Ich werde bald zurück sein, mein Schatz. Nehme die andere Taschenlampe und verriegele gleich das Auto!“
Andrea lächelte ihm zu und nickte.
Im Rückspiegel sah sie Thorsten zügig davonlaufen.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie war kaum fähig zu atmen.
Sie bekam das Gefühl, als würde der Wald sie erdrücken! Doch sie schalt sich sofort und redete sich ein, dass sicherlich nur ihre Fantasie mit ihr durchginge.
Da plötzlich ein Knacken! Andrea erstarrte und versuchte, in der alles verhüllenden Dunkelheit des Waldes etwas zu entdecken. Sicher war es nur ein Tier.
Nach etwa fünf Minuten krachte etwas auf das Autodach. Andrea glaubte, vor Panik den Verstand zu verlieren und wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Wenn doch Thorsten da wäre.
Warum nur spürte sie, dass etwas Furchtbares geschehen war? Woher nahm sie diese Gewissheit?
Andrea verspürte eine lähmende, nie gekannte Angst ...
Da krachte es wieder! Es war ein stets wiederkehrendes, grauenvolles Geräusch.
Wie lange saß sie schon hier? Andrea hatte jegliches Zeitgefühl vergessen.
Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, öffnete das Auto und stieg, mit dem Hammer bewaffnet, aus dem Auto.
Alles war besser, als hier in diesem Auto verrückt zu werden.
Das namenlose Entsetzen, das Andrea empfand, als sie nach oben auf das Autodach sah, ließ sie nicht einmal mehr schreien.
Eine Gestalt, die sie nicht erkennen konnte, saß auf dem Autodach und ließ den Kopf ihres Mannes in schrecklich präzisem Rhythmus auf und ab schlagen.
Als sie einen stechenden Schmerz spürte, wusste sie, dass dies ihren nahenden Tod bedeutete.
...
Ein Auto fuhr in den unheimlichen und legendären Spukwald.
Silvia und Richard befanden sich in den Flitterwochen. Sie hatten im Gasthaus von dem unheimlichen Wald gehört, sich aber lustig darüber gemacht.
Als sie das Auto von Thorsten und Andrea am Straßenrand stehen sahen, alberten sie übermütig herum:
„Siehst Du“, flüsterte Richard mit tiefer, dunkler Stimme „das geschieht mit den Menschen, die durch diesen Wald fahren: sie verschwinden!“
Als einen kurzen Augenblick später der Motor ihres Autos erstarb, sollten sie bald auf grausame Weise erfahren, wie Recht er mit dieser Aussgae hatte!