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Das größte Grauen
In ihm war nichts als Angst, und um ihn herum nur Dunkelheit. Das erste, was ihm dumpf zu Bewußtsein kam, war, daß er träumte. Aber das minderte seine Angst nicht. Im Gegenteil, es verstärkte nur das Gefühl, dem Lauf der Ereignisse hilflos ausgeliefert zu sein.
Dann kam die Erinnerung. Er hatte diesen Traum schon so oft geträumt. Es war jedesmal etwas anders, doch immer ähnlich. Bis jetzt war er in diesem Traum niemals gestorben.
Bis jetzt.
Aber es war jedesmal etwas anders.
Ihm graute vor der Vorstellung, was mit ihm in jener fernen, unerreichbaren Welt der Wirklichkeit geschehen würde, sollte er einmal im Traum getötet werden. Für einen Augenblick stieg das Entsetzen in ihm auf wie eine Woge, die alles andere überspülte. Instinktiv wich er vor der Dunkelheit zurück.
Er prallte mit dem Rücken gegen etwas Hartes. Eine Mauer. Langsam glitt er seitwärts daran entlang. Nach einer Ewigkeit gelangte er an eine Ecke. Die Mauer war vermutlich eine Hauswand. Er tastete sich um die Ecke herum. Etwas war falsch, das spürte er deutlich. Dennoch begab er sich immer tiefer in diese SEITENSTRASSE hinein, immer tiefer und tiefer in den Schutz dieser SACKGASSE. Nun wußte er wieder, was falsch war. Aber es war zu spät. Wie jedesmal, wenn ihm klar wurde, daß er in eine Sackgasse geraten war, hörte er sie kommen.
Er war gefangen.
Während Paul Lindenau mit pochendem Herzen darauf wartete, daß die grauenvollen Gestalten aus der Finsternis auf ihn zukriechen würden, begann irgend etwas, diese Finsternis zurückzudrängen. Immer häufiger wurde der Himmel über ihm von einem schwachen Leuchten erfüllt, das jeweils nur Sekunden andauerte. Was dieses Leuchten war, wurde ihm klar, als der Donner der gewaltigen, nicht abreißenden Explosionen allmählich heranrollte. Es war Krieg.
Natürlich.
In dieser unwirklichen Welt, die doch wirklich werden würde – wirklich werden, weil er selbst sie schaffen würde -, war ständig Krieg.
„Das habe ich nicht gewollt“, flüsterte er in die Nacht hinein. Der Himmel leuchtete inzwischen nahezu ununterbrochen, so daß Lindenau die an drei Seiten von hohen Hauswänden begrenzte, vor Dreck und Abfallhaufen starrende Sackgasse überblicken konnte. Jetzt nahm er auch den ekelerregenden Gestank wahr. Aber sicher. Auch der Dreck war eine unausbleibliche Folge von dem, was er zu tun im Begriff war.
Ein Plakat fiel ihm ein, das vor Jahren auf vielen Werbeflächen geprangt hatte. Ein Schwarzweißfoto zeigte die Erde aus dem Weltraum, und oben drüber stand die Frage: „Kann denn mal jemand den Müll runtertragen?“ Die Antwort wurde rechts unten gegeben: „Nein, der bleibt hier!“ Schon damals hatte Lindenau an dieser Sache gearbeitet, und das Plakat hatte ihn nicht davon abgehalten. Aber möglicherweise hatte es ihn doch irgendwie beeinflußt. Schließlich war es sein eigenes Gewissen, das ihn jetzt mit diesen Träumen – Visionen – quälte, oder etwa nicht? Aber nein, flüsterte eine lautlose Stimme in seinem Innern, diese Träume werden dir aus der Zukunft geschickt. Von den Menschen, die du zu diesem Dasein verbannt hast. Telepathie. Irgend so etwas.
In der Welt des Traumes, mit ihrer eigenen Logik, hatte dieser Gedanke eine gewisse Überzeugungskraft.
Dann kamen sie.
Vom gegenüberliegenden Ende her kroch eine Menschenmenge in die Sackgasse hinein. Doch eigentlich war es eher ein Brei aus ineinander verkeilten, fast verhungerten, skelettartigen Gestalten. Einige waren nackt, andere mit schmutzigen Fetzen bekleidet. Die Männer, Frauen und Kinder in der vordersten Reihe bewegten sich nur zentimeterweise auf ihn zu, mit haßerfüllten, hoffnungslosen Gesichtern. Die hinteren Reihen schienen schneller nachzudrängen, denn bald wuchs die Menschenwand in die Höhe. Über den am Boden stehenden erschienen immer neue Köpfe, Arme, Beine, Leiber. Aus dem nicht abreißenden Schluchzen und Stöhnen lösten sich vereinzelte, anklagende Rufe: „Da ist er!“, oder „Sieh, was du uns angetan hast!“
Wenige Meter vor Lindenau kam die Menschenwand zum Stehen. Lediglich in die Höhe wuchs sie ständig weiter. Paul war sicher, daß sie die Häuserwände bereits überragte, aber er wagte nicht aufzusehen. Zwischen all den anderen Lauten hindurch hörte er schmatzende Geräusche, und für einen Moment empfand er so etwas wie Dankbarkeit. Wenigstens brauchte er nicht zu sehen, von was sich diese ausgezehrten Kreaturen noch ernährten. Dann verstummten alle Geräusche und Stimmen bis auf eine.
Ein Mann aus der ersten Reihe sprach leise zu ihm, aber es schien die Stimme aller zu sein, uralt, geschlechtslos, zornig: „Deinetwegen führen wir dieses Leben. Nun sei einer von uns.“
Er streckte seine Hand nach Paul aus, seine schmutzige, knöcherne Klaue, und sein Arm wurde immer länger; Paul wußte, er würde gepackt werden, hineingezogen in diese Masse, aber er wollte es nicht, er schrie, er weinte, er schlug um sich, und dann berührten ihn diese untoten Finger, und er war verrückt vor Angst.
Er erwachte schweißgebadet.
Einige Augenblicke lang lag er auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit, als beginne sein Traum von neuem. Dann schaltete er die Nachttischlampe an, setzte sich auf die Bettkante und sah sich in dem kleinen Raum um. Es war alles wie immer. (Hatte er denn etwas anderes erwartet? Diese Träume zerrten tatsächlich an seinem Verstand!) Außer dem Bett und dem Nachttisch gab es lediglich den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand, den er manchmal benutzte, um sich mitten in der Nacht einige Notizen zu machen oder seine Aufzeichnungen auf mögliche Fehler hin durchzugehen, wenn er überhaupt nicht schlafen konnte.
Und es gab selbstverständlich jenes mannshohe Etwas, das, von einem schwarzen Tuch verhängt, auf halbem Weg zwischen Bett und Schreibtisch nahe der Wand aufgestellt war. Dieses Ding brauchte er, wenn er (wie heute?) im Begriff war, aufzugeben. Wenn er die Träume nicht mehr aushielt.
Aber es waren ja nicht nur die Träume.
Paul Lindenau wußte, daß all die Schrecken seiner Träume – der Dreck, der Hunger, die Menschenmassen, die Kriege – Wirklichkeit werden konnten. Durch ihn. Wenn diese Vorstellungen ihn quälten, versuchte er, sich selbst zu beschwichtigen. Solche Probleme konnten schließlich gelöst werden. Nur daß sie eben nicht gelöst wurden. Der Grund dafür war einfach die menschliche Natur. Jene Mischung aus jahrmillionenalten Instinkten und jahrtausendealter Kulturgeschichte, die alle Jahre wieder sich erhob und den größten Philosophen, Religionsstiftern, Politikern und Wissenschaftlern ins Gesicht lachte. Er wußte das; warum also gab er seine Ideen nicht auf? Aber da war sie wieder: die menschliche Natur.
Der ewige Sieger.
Er schaute hinunter auf seine Hände; sie waren alt und faltig. Alt. Wie sehr haßte Lindenau dieses Wort.
Er hatte es schon immer gehaßt. Zu den unangenehmen Erinnerungen aus seiner Kindheit gehörten die Augenblicke, in denen er sich seiner Sterblichkeit bewußt geworden war, der Unausweichlichkeit des alles verschlingenden Nichts, das ihn erwartete. Doch sein Verhältnis zum Tod hatte sich ganz allmählich gewandelt. Auf der Beerdigung seines Großvaters, im Alter von vierzehn, hatte er bereits mehr Wut als Trauer empfunden. Ungefähr seit dieser Zeit hatte er gierig alles aufgesogen, was ihm an Veröffentlichungen über die Gerontologie, die Altersforschung, zugänglich gewesen war. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre waren ihm zwei Dinge klar geworden: Es würde möglich sein, das Altern aufzuhalten. Doch es würde nicht geschehen. Zu jener Zeit gaben die führenden Forscher auf diesem Gebiet ihre Arbeit auf, aus Angst vor den sozialen Folgen. Und es wurden Gesetze erlassen. Die Genforschung, inzwischen sein eigenes Arbeitsgebiet, wurde immer stärker eingeschränkt. Trotzdem war es ihm gelungen, ein international anerkannter Biochemiker zu werden. Aber schließlich hatte er sich aus der Forschung zurückgezogen.
Natürlich nur nach außen hin.
Die Tatsache, daß er aus einer recht vermögenden Familie stammte, hatte es ihm ermöglicht, seine eigenen Forschungen in seinem eigenen Labor im Keller seines eigenen Hauses zu betreiben. Zweifelsohne war dadurch die Gefährlichkeit seiner Arbeit enorm gestiegen, denn so umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen wie die großen Institute konnte er sich beim besten Willen nicht leisten. Doch die Verantwortung dafür sah er bei denen, die ihn durch immer neue, ängstlichere Gesetze zu dieser Heimlichkeit gezwungen hatten.
Und nun war er, Paul Lindenau, dem großen Ziel näher gekommen als je ein Mensch zuvor. (Jedenfalls soweit bekannt; wer wußte schon, wieviele begabte Forscher es ihm gleichtaten mit der heimlichen Arbeit?) Nachdem er es geschafft hatte, durch Manipulation des Erbgutes vor der Befruchtung die Lebenserwartung von Tieren ins Unermeßliche zu steigern, war er an das viel wichtigere Problem gegangen. Was nützte es ihm, wenn seine Nachkommen – sollte er jemals welche haben – nicht mehr alterten?
Endlich war er soweit. Er hatte eine Methode entwickelt, durch harmlose Viren das neue Erbgut in jede Zelle zu schleusen, selbst bei ausgewachsenen Tieren. Alles sprach dafür, daß es auch beim Menschen klappen würde.
Ausgerechnet in diesem entscheidenden Moment spielte sein soziales Gewissen verrückt. So lange hatte er diese Bürde, die ihm in seiner Kindheit anerzogen worden war oder vielleicht auch angeboren, was spielte das jetzt noch für eine Rolle, unterdrücken können. Doch mit einem Mal bedrohte sie sein Leben. Denn das war es, was er sich immer auf’s Neue klar machen mußte: Aufgeben hieß altern – und sterben. Zum ersten Mal hatte er Angst, daß auch das letzte Mittel, ihn zum Weitermachen anzutreiben, versagen könnte. Das Mittel, das bis heute immer stärker gewesen war als alle Zweifel oder Gewissensbisse.
Er erhob sich schwerfällig, zog sich ganz aus und ging hinüber zu dem großen, verhängten Spiegel. Es war der einzige Spiegel, den er noch in seinem Haus duldete. Zum einen konnte er seinen Anblick nicht mehr ertragen, zum anderen wollte er sich nicht daran gewöhnen. Jedes Grauen wurde erträglich, wenn man sich erst daran gewöhnte. Und dann erlahmte der Widerstand.
Er riß das Tuch herunter und zwang sich hinzusehen.
Ja, er war alt geworden. Ohne daß es ihm bewußt gewesen wäre, stand er leicht gebeugt. Sein fetter Bauch hing in Falten wie die Haut über seinen ausgezehrten Armen und Beinen. Die schlimmsten Falten aber zerfurchten sein Gesicht. Sein Haar war schütter. Kriege, Hunger, Übervölkerung mochten schlimm sein. Aber dieser Anblick war schlimmer. Das war er selbst. Er fragte sich zum wiederholten Mal, ob es überhaupt noch einen Sinn hätte. Aber natürlich hatte es Sinn. All das, was er dort sah, war nicht für ewig. All das konnte man ungeschehen machen. Man konnte alles tun, wenn man hundert, zweihundert, dreihundert Jahre Zeit hatte. Zuerst mußte man den weiteren Verfall aufhalten.
Du kannst es nicht für dich behalten, flüsterte die Stimme, die ihn schon im Traum belästigt hatte. Andere werden deine Erkenntnisse stehlen. Oder sie werden selbst darauf kommen, wenn du ihnen erst gezeigt hast, daß es geht. Und es ist erblich, vergiß das nicht! Millionen, Milliarden, Billionen Unsterbliche; willst du das wirklich?
Er warf noch einen Blick auf das grauenhafte Monster, das er selbst war, und warf das Tuch wieder über den Spiegel.
Er begann, sich anzuziehen. Dann würde er hinuntergehen ins Labor, zu den alten, jugendlichen Tieren. Das Frühstück würde er ausfallen lassen, dafür war er jetzt zu ungeduldig. Tiere, schön und gut, aber es war Zeit für den Menschen.
Es war Zeit für einen Selbstversuch.