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Das goldene Ei
Viktor lebte mit seinen Großeltern auf einem kleinen Bauernhof. Jeden Tag konnte er die Hühner, die Schweine und die Kühe füttern, mit den Schafen auf die Weide gehen oder mit den Kaninchen spielen. Am liebsten tollte er aber, mit seinem kleinen Hund Fido, im Wald herum.
Eines schönen Tages, spazierten die beiden zu ihrer Lieblingswiese und spielten dort Stöckchen werfen. Einmal warf Viktor den Stock so weit, dass er im dichten Nadelwald landete. Sofort sprang Fido hinterher und verschwand ebenfalls im Dunkel der Bäume. Eine ganze Weile blieb er weg. Viktor fing schon an sich Sorgen zu machen, und wollte nach ihm suchen. Da kam Fido wieder aus dem Dickicht geschossen. Er hatte etwas im Maul, jedoch war es nicht der Stock. Als Viktor seine Hand unter die Hundeschnauze hielt, plumpste etwas Schimmerndes darauf. Es war ein etwa walnussgroßes, goldenes Ei. Der erstaunte Junge steckte den außergewöhnlichen Fund in die Vordertasche seiner Latzhose, tätschelte Fido und ging mit ihm nach Hause.
Kaum angekommen, rannte er zunächst in den Stall und holte etwas Stroh. Dann stieg er die Treppe zum Dachboden hinauf. Er nahm dabei zwei Stufen auf ein mal. Mit heraushängender Zunge, lief Fido hinterher. Zum Glück sind die Großeltern in der Kirche, dachte Viktor, denn er hatte beschlossen seine Entdeckung für sich zu behalten. Er suchte einen geeigneten Platz zwischen dem Gerümpel und baute dort ein kleines Nest, in das er behutsam das goldene Ei legte.
Nach dem Abendessen, ging Viktor auf sein Zimmer, zündete die Laterne auf dem Nachtkasten an und legte sich ins Bett. Er schlief immer bei Licht, denn er hatte schreckliche Angst vor der Dunkelheit. Mitten in der Nacht erwachte Viktor aus einem unruhigen Schlaf. Kaum hatte er die Augen geöffnet, sprang er ruckartig auf. Am Fußende stieß Fido ein leises Quieken aus.
„Psst!“, ermahnte der Junge. Das Hündchen kringelte sich brav wieder zusammen und schlief weiter. Viktor nahm seine Laterne und schlich auf Zehenspitzen die Stufen hinauf. Vorsichtig öffnete er die Dachbodentür. Doch, oh Schreck, er erblickte ein vollkommen leeres Nest! Verzweifelt suchte er alles ab, aber von dem Ei war keine Spur. Traurig ging er zurück ins Zimmer. `Ich hätte besser aufpassen müssen` dachte Viktor, kurz bevor ihn der Schlaf übermannte.
Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn wach. Sein Gesicht fühlte sich wohlig warm an. Er öffnete die Augen, nur um sie gleich wieder zu schließen. Ein gleißender Lichtstrahl hatte ihn geblendet. Das war gar kein Sonnenstrahl.
„Viktor! Viktor! Bist du wach?“, hörte er eine aufgeregte Mädchenstimme sagen.
Viktor formte die Augen zu Schlitzen und erkannte eine Art leuchtende Kugel, etwa schneeballgroß, die durch den Raum wirbelte.
„Ich bin Lucia, eine Lichterfee!“
Viktor, der sich inzwischen etwas an das Licht gewöhnt hatte, konnte nun die Konturen eines klitzekleinen Mädchens in dem Leuchtball ausmachen.
„Wer bist du?“, fragte Viktor, verschlafen.
„Lucia! Das hab ich doch schon gesagt!“, entgegnete die Fee ungeduldig.
„Übrigens vielen Dank, dass du mich gerettet hast.“
„Ich hab dich gerettet?“
„Na klar, du Dummerchen. Das Ei! Weißt du nicht mehr?“
Lucia flog jetzt so schnell über Viktors Kopf umher, dass ihm ganz schwindlig wurde.
„Also gut, da du wohl gar nichts zu wissen scheinst. Die ganze Geschichte von Anfang an. Der böse Zauberer Phobos hat die Eier der Lichterfeen gestohlen. Mich muss er wohl unterwegs verloren haben und zum Glück hast du mich gefunden. Also eigentlich mein Ei, aus dem ich jetzt geschlüpft bin.“
„Verstehe“, murmelte Viktor, obwohl er gar nichts verstand.
„Sag, was liegst du denn eigentlich noch herum! Steh auf, du musst doch noch die anderen retten!“
„Ich? Wieso ich?“, fragte er alarmiert.
„Ja natürlich du! Wer denn sonst? Wir Lichterfeen können doch nicht ins dunkle Tal, weil wir dort sofort unsere Macht verlieren. Du bist der Einzige, der ins Verlies eindringen kann, um die anderen zu retten.“
Viktor wurde noch blasser als er ohnehin schon war.
„Du-dunkles Tal? Und du meinst, i- ich soll dort hin? Da bin ich ganz sicher nicht der Richtige dafür.“
Die junge Fee wirbelte nun noch schneller herum, vor allem um Fido abzuwimmeln, der unentwegt auf und ab hüpfte, um nach ihr zu schnappen.
„Aber freilich, bist du genau der Richtige. Sonst wäre ich doch nicht hier. Also, was ist jetzt? Komm! Wir müssen los!“
Mit diesen Worten, verschwand sie aus dem geöffneten Fenster, und Fido sprang hinterher.
„Fido!“, rief Viktor erschrocken, „Fido! Komm zurück!“
Er schnappte seine Laterne und kletterte ebenfalls ins Freie. Eine Ewigkeit so schien es ihm, lief er seinem Hund hinterher, der wiederum eine leuchtende Kugel verfolgte. Endlich stoppte Lucia in der Luft ab.
„Hier sind wir!“
Viktor, der mit dem plötzlichen Halt nicht gerechnet hatte, verlor das Gleichgewicht und trat Fido auf dem Schwanz. Dieser quietschte jämmerlich auf, doch Viktor sah ihn nur böse an. Schwer atmend, sah der Junge sich um.
Im Schein der Laterne, konnte er hinter sich noch den Weg erkennen, den sie gelaufen waren. Doch vor ihm, da war absolut nichts. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
„Also, es ist ganz einfach. Geh immer geradeaus durch das dunkle Tal, bis du zu einer Tür kommst. Öffne sie und befreie meine Schwestern! “, erklärte die junge Fee trocken.
„Aber wie soll ich das denn bloß tun? Ich bin nur ein kleiner Junge und hab doch nicht einmal Zauberkräfte oder so was.“ Seine Stimme war heiser vor Angst.
„Die brauchst du doch auch nicht. Phobos kann dir nichts anhaben, wenn du nur tust, was ich dir sage. Vertrau mir, wir Lichterfeen irren uns nie. Das können wir gar nicht“, sagte das kleine, leuchtende Mädchen und zwinkerte ihm zu.
’Da ist was wahres dran’, dachte Viktor. Er hatte auch noch nie gehört, dass Feen Fehler machen. Für einen Moment, erfüllte ihn der Gedanke mit Mut und er biss heldenhaft die Zähne zusammen.
„Also gut, ich möchte euch helfen!“, sagte er zu Lucia und zu Fido: „ Komm, her, mein Kleiner!“
„Ach, ja. Eine Kleinigkeit habe ich noch vergessen, zu erwähnen. Du musst natürlich alleine gehen und lass die Laterne hier. Solange Phobos noch Macht hat, nützt sie dir ohnehin nichts, weil jedes Licht im dunklen Tal sofort erlischt!“
Das war zu viel. Er verspürte plötzlich eine trotzige Wut gegen dieses Glühwürmchen und wünschte sich, er hätte dieses dumme Ei nie gefunden. Sein Herz raste und er spürte Stiche in seiner Magengrube. Am liebsten wäre er einfach nach Hause gerannt.
„Viktor, Viktor!“, sagte eine sanfte Stimme, ganz dicht an seinem Ohr. „Bitte! Hilf uns! Du bist unsere einzige Chance. Meine Schwestern sterben sonst.“
Lucia schwebte vor Viktors Gesicht und er sah glänzende Tränen auf ihr goldenes Kleidchen kullern. Er schämte sich für seine Wut und dafür, dass er flüchten wollte.
„Ich habe Angst!“, gab er nun endlich leise zu und fühlte sich merkwürdig erleichtert, diese Worte ausgesprochen zu haben.
„Ich weiß“, flüsterte die Fee, „aber du bist stärker, als du denkst, Viktor. Du kannst die Angst überwinden!“
Eine Weile sahen sie sich stumm an. Er spürte die Wärme ihrer Strahlen tief in sein Inneres strömen. Es war, als würde nun ein Licht in seinem Herzen brennen, das keine dunkle Macht der Welt je löschen könnte.
„Ich kann es schaffen!“, sagte er laut zu sich selbst.
Er stellte die Laterne neben Fido, der ihn winselnd ansah.
„Schon gut, mein Kleiner. Keine Angst, ich bin bald wieder da. Lucia, passt du bitte auf ihn auf, während ich fort bin?“
„Na klar, was denkst du denn?“, sagte Lucia, die ihre vorlaute Art wiedergefunden hatte.
Viktor musste schmunzeln, dann wandte er sich von seinen Freunden ab.
Er holte noch einmal tief Luft und betrat mit einem Schritt das dunkle Tal. Kaum hatte er dies getan, war es mit einem Schlag nicht nur stockfinster, sondern auch bitterkalt. Ein Wind durchfuhr seinen dünnen Pyjama und er bekam Gänsehaut. Fröstelnd, blieb er stehen und schlang die Arme um seine zitternden Schultern. Da hörte er ein Rascheln. Viktor erschrak. Doch als er genauer lauschte, erkannte er, dass das Geräusch nur die Blätter der Bäume waren, die sich im Wind bewegten. Beruhigt, streckte er langsam die Arme vor sich hin und setzte seinen Weg fort. Er spürte, wie der Wind immer mehr nachließ, je weiter er ging. Plötzlich blieb er wieder, wie erstarrt, stehen. Etwas hatte sein Ohr gestreift und war sogleich davon geflattert. ‚Ein Monster!’, dachte Viktor verzweifelt und er hörte das unheimliche Flügeltier jetzt auch noch heulen. „Huh- huh, huh- huh!“ Erleichtert, wischte der Junge sich über die Stirn. Nur eine Eule. Die sind nicht böse, das wusste er genau. Mit festem Schritt ging er weiter. Ein ganz schönes Stück musste er nun schon hinter sich haben und der Gedanke erfüllte ihn mit Zuversicht. Der Wind war nur noch eine sanfte Brise und die Luft verlor immer mehr von ihrer beißenden Kälte. Viktor spürte den erdigen Pfad unter seinen Füßen und hörte nur noch seine eigenen immer schneller werdenden Schritte.
„Na, komm nur, Phobos! Ich hab keine Angst mehr vor deinen billigen Tricks!“, rief er ins Nichts. Er merkte gar nicht, dass es nun vollkommen windstill war und viel wärmer. Da berührte sein rechter ausgestreckter Arm etwas Hartes. Seine Finger tasteten sich voran, bis sie einen Türgriff spürten. Er drückte die Klinke herunter.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, drückte er beide Handflächen ans Gesicht und fiel auf die Knie. Ein Licht, als würde man direkt in die Sonne sehen, hatte seine, an die Dunkelheit gewöhnten, Augen schmerzhaft geblendet. Zigtausende Lichterfeen schossen aus dem Raum. Viktor blinzelte und hielt sich eine Hand, wie ein Dach über die Augen. Im hellen Schein von Lucias Schwestern, die sich nun überall verteilt hatten, konnte er eine wunderschöne Landschaft erkennen aus bunten Blumenwiesen und prächtigen, hohen Bäumen. Viktor stieß einen freudigen Lacher aus und lief, begleitet von seinen leuchtenden Freunden, den Pfad entlang, der eben noch so furcheinflößend und finster war, und nun im Glanz der Feen erstrahlte.
Mit wedelndem Schwanz, sprang Fido auf ihn zu, warf ihn dabei um, und leckte ihm das Gesicht ab.
„Im Namen aller Lichterfeen den herzlichsten Dank, mein lieber Viktor“, flüsterte eine überglückliche Stimme in sein Ohr.
„Lucia!“, rief Viktor freudestrahlend, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte.
„Aber, sag mir, wie war das überhaupt möglich? Wieso konnte Phobos mich nicht aufhalten?“
„Ganz einfach!“, schmunzelte Lucia. „Die Quelle für Phobos’ Zauberkraft ist die Angst der Menschen. Indem du geschafft hast, deine Furcht vor der Dunkelheit zu besiegen, hast du ihn seiner Macht beraubt und konntest dadurch meine Schwestern aus ihrer Gefangenschaft befreien.“
Glücklich nahm Viktor seinen kleinen Hund auf den Arm und betrachtete das wundervolle Lichterspiel der Feen.