Mitglied
- Beitritt
- 02.10.2019
- Beiträge
- 12
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Das Glashaus
Als der zwölfjährige Steve aufwachte, lag er auf dem Rücksitz eines fremden Autos. Der Kopf des Kindes brummte fürchterlich. Er bemerkte, dass er ungünstig auf seinen Händen lag. Diese schmerzten, als hätte er in ein Hornissennest gegriffen. Steve blickte beunruhigt nach vorne und erkannte seinen Vater. Dieser saß verkrampft über das Lenkrad gebeugt, sein Gesicht wirkte im trüben Schein des Armaturenbretts erschöpft und ausgelaugt. Als sein Vater in den Rückspiegel sah, bemerkte er das Aufwachen seines Sohnes.
»Alles wird gut, Kleiner.«, sagte er.
Das Kind wusste nicht, was ihm mehr Angst bereiten sollte, die Tatsache, dass er nicht mehr in seinem warmen Bett lag, oder dieses beunruhigende Zittern in der Stimme seines Vaters.
»Wo sind wir, wo ist Mama?«
Der Junge blickte aus dem Fenster, betrachtete den Halbmond am Himmel und bemerkte einige Sternschnuppen, die daran vorbeizogen.
»Mein Sohn ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll.«
»Was beibringen?«
Der Vater gab sein Bestes, die richtigen Worte zu finden. Doch gab es in so einer Situation richtige Worte? Niemand war darauf vorbereitet so etwas seinem Kind erklären. Er versuchte es so schonend wie möglich.
»Mama ist tot, ich glaube alle Menschen, die wir kennen sind tot.«
»Aber das stimmt nicht. Mama hat mich beim Schlafengehen zugedeckt.«
»Es ist etwas passiert. Die Welt ist heute Nacht untergegangen.«
Das Kind brach in ein wildes Schluchzen aus. Da er vorher so still gewesen war, war er darauf vorbereitet. Doch diese Urgewalt, mit der die Verzweiflung aus seinem Sohn rauskam, erschreckte ihn. Zugleich überrolte ihn eine so umfassende Welle aus Fassungslosigkeit und Trauer, dass er laut aufstöhnte und sich an die Stirn schlug. Sein kleiner Junge fing so heftig zu zittern an, dass nicht einmal das Heißluftgebläse, das sein Vater voll aufdrehte, es beenden konnte.
Vier Monate später...
Steve goss einen Kanister mit Diesel in den Stromgenerator. Als er fertig war, legte er den Schalter um. Das neutrale grüne Licht erschien, aber es flackerte unregelmäßig. Er schaltete es aus und versuchte es erneut. Dieses Mal blieb das Licht gleichmäßig. Die Maschine sprang an und jenes Rattern, an das er sich schon gewohnt hatte, zerriss die Stille.
12.07.2035
Der Stromgenerator brummte endlich wieder auf Hochtouren. Ich hätte mir nie gedacht, dass mir dieses Geräusch so fehlen würde. Vater hatte Recht damit behalten, ohne den dafür benötigten Diesel ging uns nicht nur das Licht aus. Nein, in dieser Zeit nach dem Ende der Menschheit, bedeutete dies alles zu verlieren was einen am Leben hielt. Wir waren jetzt vorsichtiger mit dem Verbrauch. Selbst wenn dies bedeutete, keine Musik mehr zu hören. Zumindest, solange mein Vater hier war. Ab und zu benutzte ich den Generator, um meinen Laptop anzuschmeißen. Nicht für Soziale Netzwerke, die gab es nicht mehr, seit das Internet zusammengebrochen war. Nein, einfach nur für Musik. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, diese trostlose Stille ertragen zu müssen. Tag ein, Tag aus. Wäre mein Vater nicht hier, dann würden wir die nächsten Überlebenden, sicherlich erst in 800 Kilometer finden. Ich danke Gott, dass ich und mein Vater verschont blieben. Aber die meisten Menschen hatten dieses Glück leider nicht. Obwohl „Glück“ ein Leben hier bedeuten würde. Und das war mehr als trostlos. Es gab nichts außer dem menschlichen Verlangen, zu Überleben. Und dennoch haben mein Vater und ich hier uns etwas aufgebaut. Einige Tage nach dem „Sommerdonner“, so nannte mein Vater das Ereignis, das die gesamte Menschheit ausgerottet hatte, fanden wir tief im Wald ein Haus aus Glas. Es funkelte wie ein kleiner Diamant aus purem Licht. Es stand völlig leer, obwohl es den Eindruck erweckte, als wäre es erst kürzlich erbaut worden. Im Inneren standen viele hochwertige Möbel. Ich betrat den Flur, dessen Glaswände so hoch wie das gesamte Haus waren. Jeder der hier lebte musste sich entblößt vorkommen. Als würden wir uns auf einer riesigen Theaterbühne einleben und die Zuseher versteckten sich draußen in der Dunkelheit. Man konnte sie durch das Licht nicht sehen, aber man wusste, dass sie da waren. Es gab zwei Schlafzimmer mit je einem dafür vorgesehenen Badezimmer und das fließende Wasser funktionierte. Mal sehen wie lange noch die Wasserleitungen mitspielen. Das Beste an dem Haus war die gelbe Privileg 300 T Schreibmaschine, die im Wohnzimmer auf dem Couchtisch stand. Dieselbe Maschine hatte mein Vater Zuhause, bevor die Welt untergegangen war und uns alles nahm. Alles, außer uns beiden. Ich redete mir ein, diese Schreibmaschine zu benutzen, um zu dokumentieren was nach dem „Sommerdonner“ passierte. Doch in Wahrheit, machte ich es wohl aus reiner Langeweile heraus.
16.07.2035
Heute kam mein Vater ziemlich spät von der Suche zurück. Normalerweise war er zwischen drei bis sechs Stunden unterwegs, heute waren es ganze zehn Stunden.
Als er endlich ankam, war er ziemlich aufgebracht und sagte mir, dass wir uns nicht mehr zu weit von diesem Haus wegbewegen dürften. Er fand zwar einige Reservedosen mit Fleisch und Gemüse, selbst einige Packungen Süßigkeiten waren dabei, aber irgendetwas dort draußen schien ihm höllische Angst gemacht zu haben. Als ich ihn danach fragte, was er dort draußen gesehen hatte, blockte er sofort ab. Meine Erklärung, die ich dafür hatte, war, dass die restliche Menschheit jetzt in einem Mad Max artigem Stadium angekommen sein musste und nur noch die brutale Anarchy herrschte. Irgendwie war dieser Gedanke, so merkwürdig es auch klingen mochte, sogar etwas tröstlich. Zum einen gab es dann noch andere Menschen und zum anderen hatte ja auch keiner Ahnen können, dass das Ende der Welt so unerträglich langweilig sein könnte.
Verdammt, mir wären gerade sogar Zombies recht.
21.07.2035
Wettertechnisch hätte ich mir den Untergang nie so herrlich ausgemalt. An jeden dieser postapokalyptischen Spätsommertagen, war es warm und wolkenlos. Die mexikanische Wüste hatte in dieser Stille, etwas tief Beruhigendes an sich.
Heute hatte ich einen Zahn verloren. Hat vielleicht in meinem Alter nichts zu bedeuten, trotzdem musste ich darüber nachdenken. Wir wussten ja nicht, wie die Welt Selbstmord begangen hatte. Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, dass ich einer Verstrahlung zum Opfer gefallen war.
02.08.2035
Mein Vater meinte, dass Gott im geheimen arbeitet und vor allem so wie es ihm gefiel. Es hatte ihm gefallen die Kinder Israels über Generationen unter ägyptischer Herrschaft leiden zu lassen. Es hatte ihm gefallen, den unglücklichen Hiob mit hundert Plagen zu bestrafen. Und es hatte ihm gefallen, zuzulassen, dass man seinen eigenen Sohn an einen Balken nagelte und über seinen Kopf einen schlechten Witz anbrachte. Gott war ein Spieler und jetzt nach langer Pause ging sein Spiel in die nächste Runde.
Heute fand ich übrigens eine Tüte voller Süßigkeiten. Meine Lehrerin Miss Schenner betonte immer wieder ich solle diesen „Mist“ nicht in mich reinstopfen. Es sei ungesund und man würde wesentlich kürzer Leben, wenn man zu viel davon esse. Aber was wusste sie schon? Die Chancen standen mehr als gut, meine Lehrerin, die sich ständig um ihre Ernährung sorgte, überlebt zu haben. Trotz ungesundem Essen, ein klarer Punktesieg für mich.
08.08.2035
Er antwortete mir, dass sie ihm auch fehlen würde und gestand mir, dass sie kurz davor waren, sich hätten scheiden zu lassen. Und, dass meine Mutter das alleinige Sorgerecht durchsetzen wollte. Es wäre für ihn sicherlich der Weltuntergang gewesen, wenn er mich nicht jeden Tag sehen könnte. Nun ja, dieser Witz ging wohl auf seine Kosten.
Der kleine Junge träumte. Es war kein guter Traum. Eines dieser Wesen, die dort in der Dunkelheit lauerten, verfolgte ihn durch einen dunklen Wald. Sein Vater stand einige Meter vor ihm und rief seinen Namen. Bevor er ihn erreichen konnte wurde es schlagartig hell. Das Kind blickte nach oben und sah brennende Vögel am Himmel. Zu Hunderten stürzten sie wie kleine Kometen zur Erde hinab. Die Luft roch verbrannt. Das knistern der Haut der sterbenden Vögel und ihre entsetzlichen Rufe, ließen fast das Trommelfell des Jungen platzen. Das Wesen tauchte hinter ihm hervor. Dabei fletschte es seine gierigen, scharfen Zähne. Sein Vater rief nach ihm, doch er konnte ihn wegen des Lärms der sterbenden Tiere nicht hören. Die Klauen der Kreatur streckten sich dem Jungen entgegen. Plötzlich schlug etwas gegen die Glaswand und riss ihn aus dem Schlaf. Noch ganz benommen blickte er sich im Raum um. Doch es war nichts zu sehen. Dann ein erneuter Schlag gegen das Glas. Jetzt wurde es Gewissheit, dass etwas dort draußen war. Sein Vater stürmte in das Zimmer.
»Los schnell ins Wohnzimmer. Sie haben uns gefunden.«
»Sie?«
»Ja die da draußen. Die im Dunkeln lauern.«
»Tu bitte was dagegen.«
Sein Sohn stand von seinem Bett auf und eilte zur Tür. Er ergriff die Hand seines Vaters und bemerkte den kalten Schweiß auf seiner Handfläche. Als sie das Wohnzimmer erreichten, drang das unheilvolle Geräusch nun auch durch die gegenüberliegende Wand. Dieses wurde immer lauter. Irgendetwas scharte heftig am Glas.
»Dad, ich habe Angst.«
»Ich weiß, aber es kann uns nichts passieren. Diese Wände hier bestehen aus Saphirglas, das hält einigem Stand.« Er setzte sich mit ihm auf die Couch. Steven sah ihn mit einem beunruhigten Blick an. »Können wir das Licht ausmachen? Dann würden wir sie dort draußen zu Gesicht bekommen.« Sein Vater nahm ihn in den Arm. »Du bist sehr tapfer, ich bin stolz auf dich. Aber glaub mir bitte eines, du willst nicht sehen was dort draußen ist.«
Der Junge fing zu weinen an.
»Papa, was würdest du machen, wenn ich sterben würde?«
»Wenn du sterben würdest, würde ich auch sterben wollen.«
»Damit du bei mir sein könntest?«
»Ja, damit ich bei dir sein könnte.«
Sein Vater unterdrückte die Tränen, doch es gelang ihm nicht, sie in Zaum zu halten. Nun weinten beide.
»Wir sollten uns ablenken.«, sagte er und ging zu der Stereoanlage. »Ich habe hier einen Stick mit Musik drauf, du stehst doch noch auf Hip-Hop?«
Sein Sohn wischte sich die Tränen weg.
»Das tue ich, aber der Diesel wird doch dabei wieder leer?«
»Mach dir deswegen keine Gedanken, ok?«
Sein Sohn nickte. Und mit einem Mal verflog die unheilvolle Stimmung als Dr. Dre aus den Boxen zu ihnen sprach und der Beat einsetzte. Steven sprang auf die Couch und beide imitierten die Posen der Rapper. Dem Jungen fiel dabei immer wieder das verärgerte Gesicht seiner Mutter ein, die mit dieser „Art“ der Musik absolut nichts anzufangen wusste. Ein lautes Knirschen unterbrach die Tanzeinlage der Beiden abrupt. Mit Entsetzen mussten sie feststellen, dass die Glaswand, die sie vor dem Grauen aus der Finsternis trennte, einen Sprung bekam. Starr blickten sie den Riss in der Scheibe an. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die selbstgebaute Welt zerbrechen würde. »Daddy ich muss noch mal schnell zu der Schreibmaschine. Wäre das in Ordnung?«
»Das wäre mehr als in Ordnung, mein Schatz.«
Er hörte wie sein Junge hastig die Schreibmaschine benutzte, als würde sein Leben davon abhängen. Verzweifelt betrachtete sein Vater den Riss in der Glasscheibe. Der Sprung reichte nun bis an den Boden. Die Klingel der alten Privileg 300T Schreibmaschine beendete den Satz seines Sohnes.
Dann zerbrach das Glas.
Männer in FBI Uniformen stürmten das Haus und drückten seinen Vater auf den Boden. Die Beamten brüllten durcheinander, während zwei Beamten auf den verängstigten Jungen zu rannten. Und bevor dieser begreifen konnte was hier vor sich ging, sah er sie. Seine Mutter trat durch die zerbrochene Wand und als sie ihren Sohn erblickte, fing sie vor Freude zu weinen an.
Einige Zeit später...
Der Vater des Jungen ging in seiner Gefängniszelle auf und ab. Er setzte sich auf das harte Bett neben dem Waschbecken. An der Zellenwand vor ihm hing ein mit einer Schreibmaschine geschriebener Zettel:
„Ich bin froh, dass ich die letzten Momente mit meinem Vater verbringen durfte. Ich liebe ihn.“