Das Glas und seine Splitter
Genau zu dem Zeitpunkt, als das Glas mit einem Klirren, welches man etwas lauter erwartet hätte, auf den Boden aufprallte und in eine nur ungefähr schätzbare Anzahl von Glassplittern zersprang, wurde ihm auf ein Neues vor Augen geführt, dass eines Wesens Taten wohl vielleicht doch nicht immer auf einen zurückkommen, in welcher Form das auch geschehen mag.
Die Überlegung war, wieso, ja wieso zur Hölle war das jetzt passiert?
Er hatte das Glas nicht berührt, es stand seit einer knappen Stunde neben ihm auf seinem Schreibtisch, es war immer noch voll, keinen einzigen Schluck hatte er bis zum Moment in dem es, warum auch immer, vom Tisch fiel, genommen.
Die anderen Gegenstände, welche sich noch bis vor kurzem in unmittelbarer Umgebung des Glases befanden, hatten ihre Positionen nicht verändert, dessen war er sich ziemlich sicher.
Der Aschenbecher, die Schachtel Zigaretten, das Feuerzeug und das kleine Taschenmesser lagen einfach nur da, und, so kam es ihm vor, starrten ihn sowohl dämlich als auch schadenfroh an.
Und er starrte zurück. Ziemlich lange sogar.
Dann senkte er seinen Blick und betrachtete die auf dem Boden verstreuten Glassplitter, die aussahen als hätten sie versucht, mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht und innerhalb ihrer leider so begrenzten Möglichkeiten der Fortbewegung, sich so weit es nur ging vom Punkt, an dem sich Glas und Boden trafen, zu entfliehen und dass jeder Millimeter Abstand ein derartiger Erfolg war, dass es sich auf jeden Fall gelohnt hätte, auch wenn es bedeuten würde, dass sie dadurch von ihren Brüdern und Schwestern durch die Entfernung getrennt würden, ein Abstand, von dem sie wussten, dass sie ihn nie mehr aus eigener Kraft rückgängig machen oder verringern konnten.
Er wusste es war irgendwie seltsam, aber er hatte Mitleid mit den Glassplittern, und so verschwand das Gefühl der Seltsamkeit sehr schnell.
Folgende Überlegungen stelle er zu der Situation der Splitter an:
„Wenn sich die Splitter wirklich von dem Punkt des Aufschlags entfernen wollten, und dabei in Kauf nahmen von den anderen getrennt zu werden, dann kann das nur den Grund haben, dass sie ein kleineres Übel einem größeren vorziehen...
Niemand verlässt freiwillig jemanden der einem wichtig ist.
Vielleicht hatten die Splitter Angst davor, dass wenn sie alle auf einem Punkt zusammen liegen würden, dann müssten sie sich alle nah sein, und zwar in einer anderen Form als früher, früher waren sie EINS, durch das Zerspringen des Glases wurde das Individuum geschaffen.
Das bedeutet, sie haben nicht mehr nur eine Verantwortung, nur eine Meinung, nur ein „Ich“.
Jetzt gab es unzählige... verschiedenste Meinungen, und jeder trägt eine eigene Verantwortung.
Das „Du“ hat ihnen Angst gemacht. Weil „Du“ ist man nicht selber.
Vermutlich hatten sie Furcht davor, dass die anderen Splitter ihnen etwas antun könnten, weil es zu ihrem Nutzen war – enttäuschen, verraten, was auch immer... und nur um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.
Vermutlich war das schon das zweite Erlebnis dieser Art, dass sie durchmachen mussten, denn man neigt dazu, nachdem so etwas einmal passiert ist, recht schnell wieder zu vergessen bzw. anzunehmen, es war einmalig und würde doch hoffentlich nicht ein weiteres Mal vorkommen.
Dieses erste Erlebnis des Verrats muss mit dem Vertrauensbruch des Tisches zu tun haben – hat das Glas vom Tisch nicht erwartet, dass er es halten würde, komme was wolle? Bestimmt hat es das, und ihm wurde schmerzhaft gezeigt, dass dem nicht so war...
Dass Sekunden später noch ein weiteres Ereignis die Welt des Glases bzw. mittlerweile der Splitter erschüttern sollte, war also umso schlimmer und trieb sie dazu, eine derartige Fluchtaktion durchzuführen.“
Seit mehreren Minuten fixierte er die Splitter und dachte unaufhörlich daran, in was für einer fürchterlichen Situation sich diese befanden, und es machte ihn ungemein traurig und verbittert, denn das Glas traf keinerlei Schuld an diesem Unglück, vielmehr war es der Tisch, der zur Verantwortung zu ziehen war, hatte doch er das Glas getäuscht und schließlich betrogen.
Doch dem Tisch ging es im Gegensatz zu den Splittern blendend.
Er stand noch immer fest und selbstsicher an seinem ursprünglichen Platz, und keinerlei Zeichnen jedweder Art ließen darauf schließen, dass sich noch vor kurzem ein Glas auf ihm befand.
Es hatte keine Spuren hinterlassen, es schien als hätte das Glas niemals eine Beziehung zum Tisch gehabt, geschweige denn dem Tisch wäre das Glas jemals wichtig gewesen.
Der Tisch war glücklich, und hielt noch immer fest die anderen Gegenstände auf seiner Oberfläche.
Gerade als er diesen Gedanken in seinem Kopf durcharbeitete, öffnete sich die Tür und eine Person kam in den Raum, sah das zerbrochene Glas am Boden, und sah auch ihn wie er die Splitter betrachtete, dann seinen Blick zum Tisch führte, und schließlich mit finsterem Gesicht zu der Person aufschaute.
Die Person fragte ihn was hier geschehen war.
Und er erzählte ihr alles von den Splittern, die ihre Brüder und Schwestern verlassen mussten, die keine Wahl hatten, die aus ihrer Welt herausgerissen wurden, nur weil sie Vertrauen hatten, und vom Tisch, der ein scheinbar kaltes Wesen war, von seiner Gemeinheit und seinem ekelhaften Egoismus.
Die Person ließ ihn zu Ende sprechen, und als er ihr alle seine Beobachtungen geschildert hatte, nickte sie und sagte schließlich:
„Du interpretierst in die Sache zu viel hinein.“
Und er lächelte nur, weil er es besser wusste.