- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 7
Das Glas der Erinnerung
Du kannst dich noch genau an den ersten Besuch des Professors erinnern. Er stand mit seinem weißen Schnurrbart, der grauen Tweedjacke und mit Keksen und Kaffee in seiner Hand vor der Tür deiner kleinen Studentenwohnung und bat um ein Gespräch. Etwas verwirrt bist du zur Seite getreten, während er sich an dir vorbeidrängte und auf deinem unaufgeräumten Tisch Platz schaffte, um seine Sachen abzustellen. Du hast dich zu ihm gesetzt und zugehört. Dein erster Fehler.
Er erzählte dir, dass er für ein Projekt, das ihm von der Regierung aufgetragen worden war, nach Assistenten suchte und Kollegen dich empfohlen hatten. Sofort sagtest du zu. Du hattest dich so geehrt gefühlt, dass er ausgerechnet dich um Hilfe bat. Noch bevor du wusstest, worum es sich genau bei dem Projekt handelte, hattest du allen deinen Freunden und deiner Familie von dieser riesigen Chance erzählt und konntest die wissenschaftliche Arbeit kaum erwarten. Seit Jahren hattest du von der Teilnahme an solchen Versuchsreihen geträumt. Du wolltest die Welt verändern, neue Entdeckungen machen, Leben retten. Du warst bereit, alles dafür zu geben. Dein zweiter Fehler.
Das Projekt begeisterte dich sofort. Ihr würdet die Wissenschaft revolutionieren und als Pioniere in die Geschichte eingehen. Fast jeden Tag verbrachtest du mit dem Professor und vier anderen Assistenten im Labor. Der Rest deines Lebens verschwimmt zu dieser Zeit in deiner Erinnerung. Da ist nur die Arbeit und die Faszination, mit der du dein Ziel verfolgt hast. Nichts im Leben schien dir mehr wichtig. Du wolltest schließlich Geschichte schreiben. Dein dritter Fehler.
Als der Professor euch Assistenten gefragt hat, ob einer von euch den Versuch beenden wollte, war die Luft im Raum von Bedeutsamkeit erfüllt. An diesen Moment würde sich die Menschheit noch in Jahrhunderten erinnern, hattest du damals gedacht. Jeder von euch bat darum, ausgewählt zu werden. Aber der Professor trug euch auf, die Entscheidung untereinander zu treffen. Also spieltet ihr Poker. Der Einsatz? Euer Leben. Nach einer langen Nacht im Labor warst du schließlich der Sieger. Dein vierter Fehler.
Deine Familie und deine Freunde flehten dich damals verzweifelt an, es nicht zu tun. „Genau so gut könntest du dich umbringen!“, hat deine Mutter dir eines Nachts verzweifelt entgegengeschrien. Bis heute verfolgt dich der Anblick deiner kleinen Schwester, die zusammengebrochen war, als sie das Ausmaß deiner Worte verstanden hatte, ihr fast noch kindliches Gesicht, verzerrt von Schmerz. Für Wochen durftest du sie danach nicht einmal in den Arm nehmen. Du weißt, sie hat dir verziehen. Bei jedem ihrer Besuche hat sie mit dir gesprochen und nach einigen Monaten war die Wut aus ihrer Stimme gewichen und ihre Gesichtszüge weicher geworden. Aber trotzdem hast du ihr den Menschen genommen, dessen Aufgabe es eigentlich war, auf sie aufzupassen.
Deine beste Freundin hat dich an jenem 9. November 2018 in deiner Wohnung eingeschlossen. Aber du bist einfach aus dem Fenster gestiegen. Auch sie hast du damals weinend zurückgelassen, als du sie endlich davon überzeugt hattest, von deiner Autohaube herunter zu steigen. Egal, wer sich dir in den Weg stellte und egal, wie sehr du diese Menschen mitnehmen wolltest in dein Abenteuer, nur um sie nicht verlassen zu müssen, du hattest deine Entscheidung getroffen. Sie alle wussten, dass du dabei warst, dein Leben zu beenden. Du dachtest, du würdest bloß auf die Pausetaste drücken. Überzeugt davon, das Richtige zu tun, bist du ins Labor gefahren. Du hast das mulmige Gefühl in deinem Magen ignoriert und dich in die gläserne Röhre gelegt, an der du so lange gearbeitet hattest. Dein letzter Fehler.
Und jetzt liegst du immer noch hier. Du weißt nicht mehr, wie lange schon. Aber du glaubst, dass es Jahrzehnte her ist, dass sich zuletzt ein bekanntes Gesicht über dich gebeugt hat. Vielleicht noch 150 Jahre, hoffst du.
Nachdem der Professor die von dir zurechtgelegten Spritzen in deine Haut gebohrt hatte, bekamst du immer noch alles um dich herum mit. Aber du hast dir keine Sorgen gemacht. Das wird schon noch kommen, hast du dir gesagt. Die Spritzen wirken sicher bloß langsamer als erwartet.
Als sie dich mit der glasklaren Flüssigkeit, die deinem Körper ewige Jugend schenken sollten, übergossen und du immer noch bei vollem Bewusstsein warst, hast du begonnen, dir Sorgen zu machen. Du hast gehofft, dass du vielleicht erst einschlafen musstest, aber tief in dir wusstest du schon damals, was sich in den folgenden Tagen bestätigte: Ihr hattet einen Fehler gemacht.
Ja, du wirst der erste Mensch sein, den die Wissenschaft für 250 Jahre konservieren konnte. Aber wenn du aus deinem gläsernen Gefängnis befreit werden wirst, wenn Wissenschaftler einer neuen Welt die Spritzen, die neben dir in deiner Röhre liegen, in deine Stirn stechen, wenn du endlich aus diesem Albtraum aufwachen darfst - dann wirst du kein Mensch mehr sein.
Sicher, deine menschliche Hülle mag bestehen - wenn auch als Überbleibsel einer anderen Zeit. Aber in dir herrscht Chaos. Du hast jegliche Maßstäbe verloren. Zeit scheint dir ein abstraktes Konzept zu sein. Namen, Beziehungen und Moral hast du schon lange vergessen. Du weißt nicht mehr, was Gefühle sind. Du bist kein Teil der Gesellschaft mehr. Außer dir selbst hat seit Jahren niemand mehr das Wort an dich gerichtet. Die Besuche von Wissenschaftlern, Nachfahren und sonstigen Interessenten werden weniger. Da bist nur du, allein im ewigen Nichts. Und was wirst du sein, wenn du aufwachst?
Kein Pionier, kein Held, keiner, durch dessen Adern die Zukunft fließt.
Ein Verrückter, ein unzivilisiertes Überbleibsel längst überholter Wissenschaften.
Nichts anderes als ein gescheitertes Experiment.