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Das Glücksschwein
Es war ein schöner, sonniger Tag. Tom stromerte über den Rummel, aber er konnte sich nicht recht an dem bunten Gewimmel und dem schönen Wetter freuen. Genau genommen, war er sogar ziemlich mies drauf.
Vier ältere Jungen aus dem Nachbarort hatten Tom aufgelauert und ihm seine Geldbörse abgenommen. Bei der Rangelei hatte er zudem noch seinen Hausschlüssel verloren. Außerdem war seine Hose dreckig und ein riesiger Riss zierte das linke Hosenbein, garniert mit Flecken, die von seinem blutigen Knie stammten. Nein, es war einfach nicht sein Tag.
Was sollte Tom bloß seiner Mutter sagen? Geld und Schlüssel weg, Hose kaputt und dann war da ja auch noch der Fünfer in Mathe, von dem er vorhin beim Mittagessen gar nichts erzählt hatte, denn dann hätte ihn die Mutter bestimmt nicht auf den Rummel gelassen.
Eigentlich hatte Tom von dem Geldgeschenk seiner Oma mindestens fünfmal auf der Raupe fahren wollen. Das war sein Lieblingskarusell und machte Spaß. Und dann wäre seine Laune später bestimmt besser gewesen, um seiner Mutter die schlechte Note zu gestehen. Aber das war ja jetzt sowieso alles egal.
Tom warf einen kurzen Blick auf die Raupe, wischte die Tränen, die Wut und Enttäuschung in seine Augen getrieben hatten, beiseite, bog zwischen Losbude und Schießstand ein und setzte sich auf die Stufen vor der Tür der Losbude.
Tom saß schon eine ganze Weile dort, als plötzlich hinter ihm die Tür aufgerissen wurde und der Losverkäufer fast über ihn gestolpert wäre. Der dicke Mann wollte schon losschimpfen, aber ein Blick in Toms Gesicht ließ ihn seinen Ärger herunterschlucken. Wortlos setzte er sich zu Tom auf die Stufen.
Eine Weile saßen beide da und sagten nichts. Aber als Tom von lautlosen Schluchzern geschüttelt wurde, legte der dicke Losverkäufer seinen Arm um Tom und drückte ihn freundschaftlich. Er kramte in seiner Tasche, reichte Tom ein Papiertaschentuch und als dieser die Tränen fortgewischt hatte, gab ihm der Dicke noch ein Los in die Hand.
"Hier, schenk ich dir!", sagte er und ging zurück in den Wagen, noch bevor Tom "Danke" sagen konnte.
Tom stand auf und trottete vor den Stand, wo ihm der kräftige Mann aufmunternd zuzwinkerte. Er öffnete das Los und reichte es herüber, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Es war wahrscheinlich sowieso eine Niete.
"Hauptpreis, dieser junge Mann hat den Hauptpreis gewonnen!"
Tom sah sich um und begriff zuerst nicht, dass er gemeint war. Schon brachte man ihm an einem langen Strick ein niedliches, kleines Ferkel. Er schluckte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie sollte er der Mutter denn erklären, dass er jetzt auch noch Ferkelbesitzer war?
Er nahm den Strick, bedankte sich beiläufig und lief ziellos mit dem Schwein durch die Gegend. Plötzlich blieb das Ferkel stehen und schnupperte auf dem Boden. Tom versuchte, es weiterzuziehen, aber er war nicht besonders erfolgreich. Teilnahmslos stand er neben dem kleinen Schwein, als etwas seine Aufmerksamkeit weckte.
Das Ferkel stupste mit seiner Schnauze gegen einen sehr vertrauten Gegenstand, Toms braunes Schlüsselmäppchen. Er steckte es in die Hosentasche und streichelte das süße Tier. Der dicke Losverkäufer hatte es ja nur gut gemeint und das Schweinchen konnte schließlich nichts für seine Pechsträhne. Er zog es weiter und entdeckte in einem Gebüsch seine Geldbörse. Es war zwar kein Geld mehr darin, aber wenigstens hatte er das letzte Geschenk seines verstorbenen Großvaters wieder.
Zu Hause angekommen, beschloss Tom, das Ferkel erstmal in den Schuppen zu sperren und der Mutter später davon zu erzählen. Er merkte nicht, wie die Mutter ihn vom Küchenfenster aus beobachtete und ihm in den Schuppen folgte. Tom erschrak, als er sie hereinkommen hörte und versuchte, das Tier hinter sich zu verstecken. Die Mutter sah ihn an, ging an ihm vorbei und bückte sich, um das Schweinchen zu streicheln.
"Oh, das ist aber niedlich!"
Tom schluckte. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus und fiel, von wildem Schluchzen geschüttelt, der Mutter um den Hals. Sie drückte ihn, band das Ferkel im Schuppen an, legte Tom den Arm um die Schulter und ging mit ihm ins Haus.
In der Küche kochte die Mutter erstmal Kakao und stellte eine Tasse mit der dampfenden Köstlichkeit vor Tom auf den Tisch. Frisch gestärkt, erzählte er alles, was ihm an diesem Tag widerfahren war. Als er geendet hatte, meinte die Mutter, dass die Oma das süße Schweinchen vielleicht im alten Ziegenstall unterbringen könnte. Dann gab sie Tom Geld, damit er am nächsten Tag nochmal auf den Rummel gehen konnte.
Als Tom am folgenden Tag seine Fahrten auf der Raupe beendet hatte, wollte er noch einmal zur Losbude, um sich beim Besitzer zu bedanken. Aber der Platz war leer. Tom überlegte, ob er das alles vielleicht nur geträumt hatte, doch als er die Schuppentür öffnete, begrüßte ihn wildes Quieken.