Mitglied
- Beitritt
- 01.09.2003
- Beiträge
- 23
Das gläserne Rätsel
[Ein etwas anderer Krimi aus dem Emmental.. ]
DAS GLÄSERNE RÄTSEL
Gähnend öffnet er die quietschende Tür zum kleinen Turmzimmer. Den Eimer mit heissem Wasser und Putzmittel hat er neben sich auf die unebenen Bodenplatten abgestellt. In der linken Hand –fest umklammert- die Scheuerbürste, während seine rechte Hand die kalte Steinmauer berührt und sich bis zum Lichtschalter vortastet. Dann erhellt die nackte Glühbirne das kleine, leicht nach Moder riechende Zimmer und er tritt vollends ein. Ruckartig bleibt er stehen und starrt mit aufgerissenen Augen in eine Ecke des Raumes. Langsam gleitet ihm der Besen durch die feuchte Handfläche und fällt polternd zu Boden. Er zuckt zusammen. Der Aufprall des Holzes auf den steinernen Fussboden verklingt sofort. Stille breitet sich aus. Eine erschreckte Stille…
„Entschuldigen Sie die Störung an ihrem freien Tag, Herr Oberkommissar von Schwarzenburg, aber…“
„Schon gut, Studer.“
Der junge Uniformierte blickt den stämmigen Mann mittleren Alters fragend an. Dieser mustert ihn durch seine Hornbrille und schweigt eine Weile.
„Ähm, ist irgendwas nicht in Ordnung, Chef?“
„Doch doch, alles bestens.“
Der Oberkommissar reibt sich die Stirn. Hätte er gestern Abend doch nur zwei Gläschen weniger Pinot Noir getrunken! Diese Kopfschmerzen! Und ausgerechnet jetzt versagt das sonst so zuverlässige Aspirin…
„Also? Was gibt’s so dringendes, Polizist Studer?“
„Gestern Abend war auf der kleinen Terrasse unmittelbar neben dem Schloss eine Sommergrillparty mit anschliessendem Tanz und…“
„Ja- und?“, fragt von Schwarzenburg ungeduldig.
„Kommen Sie bitte mit.“
Der junge Polizist passiert das grosse Steintor, bückt sich unter dem rot-weiss gestreiften Abgrenzungsband durch und führt den Oberkommissar die Wendetreppe zum Turmzimmer hoch. Vor der Tür bleibt er stehen. Von Schwarzenburg tritt ins Zimmer. Überall im Raum stehen grell leuchtende Ständerlampen. Einige Leute mit Gummihandschuhen, Notizblöcken und Fotoapparaten bewegen sich hin und her. Ab und zu erhellt das Blitzlicht eines Fotoapparates die Szenerie.
„Guten Morgen!“, poltert der Oberkommissar mit fester Stimme.
„Morgen!“, murmeln einige.
„Na, was haben wir denn da?“
„Die beiden Toten wurden vor etwa einer Stunde vom Abwart des Schlosses entdeckt.“
„Personalien?“
„Sonja und Heinrich von Gunten. Ein Ehepaar aus Bern.“, antwortet Studer, von seinem Notizblock aufblickend.
„Also ich würde auf Romeo und Julia tippen.“, bemerkt ein grauhaariger Polizist ironisch und zeigt mit einer Kopfbewegung auf die zwei Gestalten, die dicht nebeneinander in einer Ecke auf einer abgeschabten Militärdecke liegen.
„Ach, halt doch die Klappe, Werner! Deine Bemerkungen sind einfach absolut daneben!“, zischt eine Frau mit weissem Kittel und Handschuhen wütend.
„Schon gut, schon gut.“, erwidert der Grauhaarige beleidigt, dreht sich um und schlurft aus dem Zimmer.
Der Oberkommissar nähert sich den regungslosen Körpern und kniet vor ihnen nieder. Heinrich von Gunten, schätzungsweise fünfzig Jahre alt, hatte seinen Arm um die mindestens zwanzig Jahre jüngere Frau gelegt. Auf einem gläsernen Tablett neben den beiden Leichen entdeckt der Oberkommissar einige Rechaudkerzen und zwei Gläser. Er blickt auf.
„Was ist mit den Gläsern?“, fragt er.
„Wissen wir noch nicht, Chef. Könnte sein, dass der Inhalt der Gläser irgendetwas mit dem Tod der beiden zu tun hat, da keine äusseren Verletzungen festgestellt werden konnten. Aber genaueres können wir frühestens in einigen Stunden sagen, wenn die Ergebnisse der Laboruntersuchungen vorliegen.“
Nachdenklich betrachtet von Schwarzenburg die Weingläser. Was spielen sie bei diesem Fall für eine Rolle? Das Brummen in seinem Schädel mahnt ihm, dass Alkohol einen sehr grossen Einfluss auf Menschen haben kann… Doch was könnte dem Ehepaar konkret zugestossen sein? Die Bemerkung des alten Polizisten war gar nicht mal so daneben: Vielleicht hatten die beiden ja tatsächlich Selbstmord begangen!? Aber aus welchem Grund? Oder waren die beiden von einem eifersüchtigen Liebhaber vergiftet worden? Möglich- solche Beziehungsdramen sind ja heutzutage sogar im Emmental schon fast an der Tagesordnung… Sein Blick kehrt zu den Leichen zurück. Er betrachtet aufmerksam die blassen Gesichter. Sonja von Gunten hat sorgfältig geschminkte Lippen, grünen Lidschatten und ein wenig Rouge auf den Wangenknochen. Ihre hochgesteckten Haare sehen leicht zersaust, aber dennoch durchaus elegant aus. Ganz anders ihr Mann: Seine grau melierten Haarbüschel stehen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Vom Aussehen her hätte er locker der Vater der Toten sein können… Natürlich! Der Oberkommissar erinnert sich an den gestrigen Abend. Dieses seltsame Paar war dem geschulten Auge des Beobachters trotz seiner Trinkfreude nicht entgangen.
Plötzlich horchte von Schwarzenburg auf: Diese Live-Band spielte tatsächlich seinen absoluten Lieblingssong! Mit dem Kopf im Takt wippend blickte er in die tanzende Menge. Kriminaltango, schwarze Gestalten… Vergnügt genoss er ein paar Schlücke und schenkte sich von neuem ein. Was für ein Abend! Sein Blick blieb an einer Frau hängen, die einen ausserordentlich interessanten Gesichtsausdruck hatte und über einen sehr eleganten Tanzstil verfügte. Er schaute ihr eine Weile fasziniert zu, trank ein weiteres Gläschen. Kriminaltango… Wie geschickt sich diese Frau doch bewegte! Er lächelte vor sich hin und genoss den Anblick der tanzenden Menge. Sein Blick kehrte immer wieder zu der bezaubernden Frau im schwarzen Ballkleid zurück. Ihr Tanzpartner war weniger anziehend: Er hatte Schwierigkeiten mit dem Takt und… und ausserdem passte er überhaupt nicht zu einer solch ausdrucksstarken Frau!
„Der ist doch viel zu alt!“, dachte der stämmige Mann. Er schenkte sich nochmals Rotwein nach, versank in seinen Gedanken und bemerkte nicht, dass das Paar die Tanzfläche verliess und in Richtung Schlosseingang davonging…
„Ach, Sonja, du bist ja so ein Tanztalent! Hast du die vielen neidischen Blicke der anderen Paare gesehen?“
„Ja.“, antwortete seine junge Begleiterin, immer noch ausser Atem.
„Ich bin so froh, dass ich dich habe! Was würde ich bloss ohne dich machen, mein Schatz?“
„Keine Ahnung, Heinrich.“
„Was hast du eigentlich vor?“
„Das wirst du gleich sehen! Komm mit!“, flüsterte sie verführerisch und öffnete die Holztür zum Schlossturm.
„Aber…“
„Nichts aber. Komm! Ich will dich…“
Hand in Hand stiegen die beiden die steile Wendeltreppe hinauf, gingen eng umschlungen durch einen langen Gang und standen vor einer verschlossenen Türe. Die junge Frau zog einen altmodischen Schlüssel aus ihrer Tasche. Das Schloss ächzte, und die Tür ging auf. Gemeinsam traten sie in das kleine dunkle Zimmer. Sonja zündete einige Rechaudkerzen an, die sie in einem Halbkreis um eine auf dem Boden liegende Decke herum platzierte.
„Endlich sind wir allein! Komm, setzen wir uns auf die Decke - wie früher.“
Etwas verwirrt setzte er sich. Sie holte zwei mit Wein gefüllte Gläser auf einem gläsernen Tablett und stellte es vorsichtig mitten auf die Decke.
„Bin gleich wieder da, Heinrich!“, sagte sie verführerisch lächelnd und ging hastig aus dem Zimmer. Was hatte sie nur vor?, fragte er sich. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie ihn nicht richtig liebte und andere Gründe für eine Heirat mit ihm hatte… Weshalb hatte sie sich plötzlich so grosse Mühe gegeben? Plante sie wirklich, ihn, Heinrich von Gunten, aus der Welt zu schaffen - wie er es heimlich in ihrem Tagebuch gelesen hatte? Ja, so musste es sein! Er hatte es ja schon immer gefühlt, dass sie seine Liebe nicht erwiderte. Und jetzt war eine gute Gelegenheit, ihn sanft ruhen zu lassen- in einem Turmzimmer! Wie wird sie es wohl anstellen? Sein Blick schweifte im Raum umher. Natürlich! Weshalb war wohl der Wein schon in den Gläsern?! Sie wollte ihn vergiften, ja genau! Jeder würde dann glauben, dass er sich zu Tode gesoffen hatte- er, der Alkoholiker… Heinrich von Gunten seufzte und nahm ein Glas. Dabei bemerkte er, dass unter der Decke etwas Rechteckiges liegen musste. Er hob sie hoch und- da war es. Schlafmittel. Er öffnete die Packung und sah, dass bereits zahlreiche Kapseln fehlten. Hastig drückte er die restlichen aus der Verpackung, brach die ovalen Dinger auf und schüttete deren Inhalt in beide Gläser. Dann schob er die Packung mit den aufgebrochenen Kapseln darin zurück unter die Decke. Mit einem Finger rührte er in den beiden Weingläsern. Gut, vom weissen Pulver war nichts mehr zu sehen. Kaum hatte er den Finger aus dem zweiten Glas gezogen, hörte er die Stöckelschuhe seiner Frau auf den steinernen Bodenplatten. Gespannt wartete er, was geschehen würde.
„So“, wisperte sie mit einem Lächeln. „Jetzt bin ich bereit!“
Er nahm sie in die Arme und küsste sie sanft auf den Hals. Sie nahm die beiden Gläser und hielt ihm das eine hin.
„Auf unsere ewige Liebe!“, sagte er lächelnd.
Was ist mit ihnen nur geschehen?, fragt sich der Oberkommissar. Sein Kopf ist immer noch wie in Watte gebettet. Kriminaltango…