Das Gezeitengestüm
Die Szene setzte sich fort bis hin in die tiefen Nachtstunden, die zerflossen wie Sägemehl im Wind, der zerkaut durch das Maul der Sonne und verdaut durch den Darm des Mondes hindurch springt, wegfliegt und nie wieder Muscheln, die laut singen, hinter sich herzieht. Es war, als ob die ganze Welt die Geräusche des buntachsigen, lauernden, sich quälenden Gezeitengestüms ignorieren würde. Oder was hatte sie davon ihren eigenen Tod zu verleugnen?
Unverfroren und unverhohlen kehrten sie zurück, Hand in Hand, dem anderen auf den Rücken spreizend. Nimmermehr oder gar immer noch war der Tanz getan, die Musik gelöscht und das Bild gemalt. Die Zeit war vorbei, in der man kuschelige Lieder sang, die röhrend aus der Harnröhre bis ins Herz aufstiegen und gleichzeitig die Lunge mit Teer beschmutzten. Denn, welchen Sinn hatte es denn bitteschön, wenn alle sich gegenseitig kniffen und dabei lachten, als wäre das Morgengrauen doch nicht so rot wie es scheint, weil sie manchmal glaubten, dass der Himmel bis zur Erde exakt 76 Sekunden bräuchte, wenn Bedarf bestünde, sich zu küssen, zu verschmelzen und sich letzten Endes die Seele aus dem Leib heraus saugen zu lassen, so wie es die armen kleinen Menschlein im Kern der Atmosphäre immer wieder zu tun pflegten. Doch das brauchten sie nicht, sie hatten ihre Einsamkeit und den Verlust, etwas zu schaffen, das dem Schaffen nicht wert war, aufgrund der ewig gefangen gehaltenen, destruktiven Energie, die alle zwölf Stunden ausbricht, erstirbt und wie ein Rabe aus der hellen Asche hervorkommt, um seinen Soll zu erfülllen; um sein Tun zu sättigen; um dem Ende kein Ende zu setzen. Und trotzdem kam es ab und an vor, dass ein Loch im Universum heranwuchs, dass alles aufsog, bis auf die Gesamtheit des Seins, denn dies war ihm dann doch eine Nummer zu groß. Aber was, wenn genau das sein nächster geheimer, rachsüchtigter Plan war? Was, wenn das Nichts aus dem Alles nichts und wieder alles machen würde? Oder noch schlimmer: Was, wenn es einfach nichts tun würde? Wir wären alle verloren.
Je mehr Ehrgeiz die Luft aufbrachte, desto weniger Benzin verschwand im Kessel der Gegenwärtigen. Und je mehr Feuer verbrannt wurde, desto weniger stark war das Resultat. Immerhin glich der Boden dem Horizont so sehr, dass die Flugroutensucher nicht mehr wussten, dass Norden und Süden dasselbe waren. Genauso wie die Erdbewohner vergessen hatten, dass rechts und links im Grunde identisch waren.
Zeitgleich tat sich in der Monosphäre eine gewaltige Kluft auf zwischen atomaren Grundbestandteilen und humanen Außenorganen. Keiner hätte nur zu träumen gewagt, dass der katalysierende Machtbestand der Tafel und des Inneraums den außerirdischen Fädenziehern die Ozonschicht schmackhaft machen würde, sodass sie die Träume der Jenseitigen ausufern lassen müssen, um zum reichhaltigen Ziel der Erhaltung des Quadratlaufes beitragen zu können und somit die Welt vor der Zerstörung der gewaltigen molekularen Mächten zu retten. Wer oder was war es, der das Licht und den Schatten gegeneinander ausspielen, Mensch und Roboter in ein Duell verflechten und halb und ganz zu wenig heran gedeihen lassen sollte? Jedes Wesen wusste im Grunde genommen, dass die Apokalypse bevorstand; der Untergang in unmittelbarer Ferne immer näher trat. Und trotzdem unternahm niemand etwas.
Die kräftige Welle an Muskeln vertrieb für den ersten Moment jede zurückweisende Ahnung im Hinblick auf das anmutige Grauen, das die Zukunft vernichten sollte. Und dann, plötzlich, verstand die Welt, dass es an der Zeit war, alle Energie zu sammeln, beziehungsweise zu entladen, um dem jüngsten Tag mit Gebanntheit entgegen zu kommen. Denn irgendwas, aber vermutlich auch nichts gab einen Hinweis auf interpolare, kontraproduktive Aktivität. Somit wurde eine Böhe voller unnötigem, staubigem Engagement entzündet, die sich ausbreitete wie ein Lauffeuer. Immer und immer nebelbunter wurden die Wolken, die hinwegrissen, flohen vor dem Schrecken auf unsichtbar gleitenden Rollen. Alle Gesteine begaben sich in Richtung Mitte – und zwar die Mitte der Mitte der Mitte. Pflanzen falteten sich zusammen. Roboter zogen ihre Chips, Akkus oder Stecker heraus und schmissen sie in die Gewässer. Menschen begangen Selbstmord. Es kam zu einer dynamischen, gezackten Innen-Außen-Bewegung der energetischen Ströme, die sich gedrungen vor Neid und hoffender Glaubenslosigkeit gegenseitig abstießen und nur in einem begrenzten Rahmen von der Stelle kamen. Dies irritierte das Gestüm, sodass es zögerte, voran zu schreiten.
Währendessen näherte sich das inhaltslose Etwas der zu vollgestopften Gegenwart und…
… hielt inne.
Die unhelle Magie der Gezeiten hingegen fasste wieder angstgenährten Mut, drehte sich unendlich oft im Kreis, bevor es beschleunigt durch die Kraft der Drehung, jeglichen sternenklaren, engelsgleichen Polaradministrant verschlang und somit nur so von Strenge strotzte. Es beförderte die Drehung aus der Bewegung heraus und schwebte gen Erdmitte, wo das geladene Feld am stärksten war. Der Seelenmagnetismus verfestigte sich, je kürzer die Entfernung zwischen ihm und der Mitte war. Mit einem Mal befruchtete er den Erdkern, indem er intimerweise all sein Wissen und uralte Erfahrung, gepaart mit zügellosem Schöpferhass und einer kleinen Brise Eisenhaar aus dornähnlichen, frisch geschlüpften Tumorambitionen an den Ursprung weitergab.
Sodenn stopfte er alles, was an „Materie“ zu finden war im großen weiten Schein des Seins in seinen nicht vorhandenen langen Schnabel. Es war vorbei.
Mönche fliegen ins tiefe Tal.
Jagen einer den anderen in die Schlucht.
Skarabäen haben versagt.
Die nächste Episode ist die letzte.
Ungeziefer und Unkraut versinkend im Schwarz.
Wellig voll toter Masse.
Mit Potenzial.
Das alles war nun recht unterhaltsam für das nichtige, existenz-, aber nicht sinnlose Wesen. Es beobachtete die grandiose, ungewollte Vorführung des Gestüms mit Wohlwollen. Es wusste, dass es sich nicht anzupirschen brauchte, denn man konnte es weder sehen noch hören noch fühlen noch schmecken noch riechen. Es war nicht vorhanden. Es war nicht da.
Und dann stibitzte es sich die Welt mit allem drum und dran.
…
Nach einigem Abwägen, beschloss es, dass die Geschmacksrichtung nicht seinen Präferenzen entsprach und kotzte alles, alles – samt Gezeitengestüm – aus.
Ein ausgesprochen leises Bumm versetzte den Rahmen des Möglichen in einen Zustand der Ekstase. Unter diesem poetischen Laut würgte das Nichts sich selbst (also nichts) heraus und zurück blieb ein unförmiger Klumpen potenten Materials.
Daraus entstand nach einigen hellen Ären letztendlich durch Zwangsautomatik eine runde, dreiteilige Pyramide, deren Bestandteile Zeit, Raum und das Ergebnis davon, nämlich die wahre Wirklichkeit bezeichneten und an deren Spitze das Ja und Nein ineinander flossen. So entwickelte sich mit den Jahren eine Population verschiedenster Mikro- und Makroorganismen, die in stabiler Konkurrenz standen und sich gegenseitig liebten.
Und das Gezeitengestüm saß in einer Ecke des tiefen Universums und wartete.