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Das gewisse Etwas
Stille, unerträglich ... dann der Knall. Er erwachte, doch der Alptraum blieb. "Gestehe", schrie einer.
"Nein!", schrie er. Den Kopf hatte er immer noch zwischen seinen Armen vergraben. Es hätte alles so gut werden können! Alles. Das Wochenende und sein Leben. Den Kopf in den Armen vergraben. Schweiß rann ihm die gerunzelte Stirn herunter. Er schaute auf. Es blieb alles beim selben. Er saß im Zeugenstand, vor ihm das Richterpult, hinter ihm eine Reihe Sitzbänke ... die seit den letzten Tagen immer gut gefüllt waren. Der Saal war gut beleuchtet. Es war Sommer und die Sonne erhellte den Saal, mit all ihrer Pracht.
Die zwei Schöffen nickten dem Richter zu. Der Richter war ein typischer Beamter. Lichtes Haar, hagere Gestalt und gepflegtes Aussehen. Er trug heute wie gestern einen schwarzen Anzug, passende polierte Slipper und weiße Socken. Sein Gesicht war schmal und lang. Seine emotionslosen Augen waren hinter einer dünnen Brille mit dicken Gläsern versteckt, die auf der länglichen Nase saß.
"So sieht man sich wieder." Die Ironie aus den Worten des Richters war nicht zu überhören. Gebrochen nickte der am Angeklagtentisch Sitzende. Der Richter lächelte.
Mit einem dominanten Stimmfall sagte er laut, damit alle im Saal es auch hören konnten: " Wenn Sie gestehen, können wir uns die Befragung der letzten fünf Zeugen sparen."
Sein Verteidiger legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Doch diesmal blieb er ruhig. Fünf Tage U-Haft und die erste Verhandlung hatten ihn viel Kraft gekostet. Auch wenn der Richter so etwas gar nicht sagen durfte ... sollte er doch. Er zumindest wollte schlafen ... ja, er wollte den gerechten Schlaf. Er hoffte nur, dass die letzten fünf Zeugen etwas gesehen hatten, was ihn auf irgendeine Weise entlastete.
Der Hammer des Richters knallte auf den Tisch. Die Tür ging auf. Sicherheitsmänner versuchten die Reporter aus dem Saal zu halten. Er schaute auf. Der Blitz traf ihn. Na dann ... würden seine Eltern ein neues Photo von ihm haben.
Seine Geduld war am Ende ... Trostlosigkeit und Resignation folgten. Sollten sie doch machen. Er war unschuldig und auch wenn sie ihm nicht glaubten, war er's immer noch. Aber wenn er dann mal eine freie Minute zum Denken hatte, überwog doch nur ein Gefühl. DIE ANGST. Aber jetzt dachte er nicht nach. Er spielte verträumt mit seinen Kuli, während die erste Zeugin befragt wurde.
Es war die Bäckerin, bei der seine Frau täglich einzukaufen pflegte. Was wollte sie hier? Ihm war es egal und wenn es der Weihnachtsmann gewesen wäre, ihm hätte es nicht gewundert. Seit sie ihn mit einen Polizeibus aus der Ferienwohnung entführt hatten, schien jeder ihn zu kennen. War ja sonst nichts los in dem kleinem Dorf. Er musste schmunzeln, der Weihnachtsmann war ein guter Vergleich. War die Frau , die dort im Zeugenstand saß, nicht genauso dick?
"Sie müssen antworten." Die Stimme seines Anwalts riss ihn aus den Gedanken, über dieser lebenden Karikatur. Der Raum war heller als er dachte, musste er doch blinzeln, damit er die korpulente Figur richtig erkennen konnte. Er riss den Kopf nach oben. "Was?" Ein Raunen ging durch den Saal.
"Hatten Sie wirklich einen Streit in ihrer", der Richter zeigte auf die Zeugin, "Bäckerei und haben dabei die Brötchen zu Boden geworfen?"
"Mag sein", antwortete er müde.
Da war das Raunen wieder.
"Verdammt, jeder hat mal einen Streit und wenn ich einen in der verdammten Bäckerei hatte, wen interessiert es." Er war leicht erzürnt.
"Vielleicht Ihre Frau, Gott sei ihr gnädig. Ich hätte sie sofort verlassen, so wie Sie sie angebrüllt haben."
"Ich hätte Sie auch gar nicht genommen!" Hätte er wirklich jemanden umbringen wollen, dann sie.
"Da sieht man, wie aggressiv er ist." Sie lächelte leicht gespielt.
Wieder das Raunen. Die Schreibmaschine der Gerichtshilfe klackerte.
Der nächste Zeuge kam. Er hatte ihn noch nie gesehen. Groß, dünn, hervorstehende Zähne ... und das Gesicht eines Dackels. Er musste um die sechzig sein, sein Haar war ausgefallen und seine Haut eingefallen. Nach den gerichtlichen Formalitäten durfte auch er seine Geschichte erzählen. Er erzählte über einen Schwimmbadbesuch, wo er ihn mit seiner Frau gesehen hatte. Er hatte angeblich versucht, sie zu ertränken. Eins musste man dem Zeugen lassen, erzählen konnte er.
"Ich habe einen Pool", sagte der Angeklagte nur kurz. Er konnte sich an keinen Schwimmbadbesuch erinnern. Überhaupt hatte er eine leichte Chlorallergie und war seit Jahren nicht mehr im Schwimmbad gewesen, weil der Chloranteil einfach zu hoch war. Dies teilte er auch dem Richter mit. Doch der Zeuge blieb hartnäckig und behauptete stock und steif, das Paar gesehen zu haben und er durfte den Zeugenstand verlassen.
Die Menge raunte, die Schöffen nickten sich zu. Zumindest dachte das der Angeklagte. Er war verloren, so dachte er. Wenigstens war er nicht in Handschellen gelegt, er hatte sich bei seiner Verhaftung nicht gewehrt. Warum auch? Sie war tot. Er war tot. Nein, er war noch nicht ganz tot, aber wie es schien, ließ man ihn langsam sterben. Die Nächte in Untersuchungshaft waren einsam und schleichende Gedanken kamen und gingen.
Der nächste Zeuge hatte schon längst den Zeugenstand betreten. Es war Natalie, ihre beste Freundin. Sie war wie immer top gestylt. Sie wollte nicht, dass man ihr ihr Alter ansah und das war ihr auch gelungen. Außer Schminke, den langen gestylten Haaren und ihren Designerklamotten sah man nichts. Bis auf ihren, mal wieder, viel zu tiefen Ausschnitt.
"Also Frau Steckmann, erzählen Sie uns, was Sie wissen", sagte der Richter mit freundlicher Stimme.
"Also, ich kannte das Opfer sehr gut. Ich war quasi ihre beste Freundin", der Stolz in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
Ihm war übel, er konnte nie verstehen, warum seine Frau ausgerechnet diese Person im Zeugenstand als beste Freundin angesehen hatte. Sie waren so verschieden. Natalie und seine Frau. Während Natalie sehr auf ihren Ruf achtete und es bevorzugte, den anderer Personen zu zerstören, war seine Frau eine von Natur aus hübsche und nette Person, die es liebte zu scherzen, aber auch jedem die Meinung frei ins Gesicht zu sagen, ohne ausfallend zu werden.
"Nun, ich hatte lange Gespräche am Telefon mit ihr. Sie sprach von Trauer und Verzweiflung und dass sie Angst hätte, mit ihm darüber zu sprechen. Sie wollte ihn nicht unglücklich machen, sagte sie. Ich hörte ihr natürlich zu, sie sprach von Problemen, die sie fast auffressen würde und dass sie etwas getan hätte, was sie ihm", sie zeigte bei jedem "ihm" in Richtung Angeklagtenbank, " nicht erzählen könne!"
"Das ist nicht wahr! Sie hätte mir alles sagen können! ALLES!" Er war aufgesprungen, sein Verteidiger hielt ihn zurück. Die Wachmänner waren aufgesprungen.
Im Saal war es laut geworden, ein jeder tuschelte mit seinen Nachbarn. Der Richter hatte alles im Griff, in wenigen Minuten war es wieder still im Saal. Ihm standen Tränen in den Augen, sein Verteidiger reichte ihm still ein Taschentuch, vielleicht das einzig Richtige, was er im Laufe des Prozesses getan hat.
"Anscheinend nicht", sagte Natalie hämisch, "sonst wäre sie jetzt noch am Leben."
Er überlegte, er hätte sie am liebsten umgebracht. Er war voller Zorn, der Stift in seiner Hand zerbrach. Es raunte und er tat es nicht. Natalie wurde aus dem Zeugenstand entlassen und durfte sich somit zu den anderen Zeugen setzen.
Als nächste wurde seine Haushälterin in den Zeugenstand geholt. Sie war eine dieser Frauen, die mehr wussten als sie wirklich je gesehen hatten. Sie hatte angeblich mehrmals gehört, dass sie gestritten hatten. Sie war nicht gerade groß, ihre Haare schwarz getönt und gekämmt und der Schmuck, mit dem sie heute nicht gespart hatte, sollte wohl vom Alter ablenken. Aber das machte sich schon mittels Falten überall bemerkbar. Er war mit den Nerven am Ende.
"Sie kriegen ihr Gehalt, was wollen Sie eigentlich von mir?"
Ein Redefluss der Empörung und der Anschuldigung ergoss sich aus ihren Mund. Plötzlich drehte sie ihren Kopf zum Angeklagtentisch und schaute ihn mit zornigen Augen an.
Im Saal war Stille eingekehrt. Ruhig sagte sie, mit dem Blick in seine Richtung: "Wissen se, ich hab ja schon viele Menschen gesehen, in den Jahren kriegt man da so'n Menschenkenntniss und ich weiß genau", ihre Stimme zitterte leicht, "der da", sie zeigte auf ihn", der hat das gewisse Etwas. Der war's!" Sie durfte sich setzen.
Als letzter betrat ein großgewachsener, muskulöser Mann den Saal. Seine Haut war braun und er setzte sich. Er hatte ihn niemals gesehen. Er begann zu reden, er stellte sich vor.
Er muss wohl an die dreißig sein ... jünger als ich, dachte er.
"Ich war ihr Geliebter." Diese Worte rissen ihn aus seinen Schätzungen. "Ich kannte sie seit einem Jahr." Der Mann stand auf und zeigte Bilder.
Er saß da und schaute seiner Frau ins Gesicht. Er weinte. Sein Herz schrie. Sein Gehirn setzte aus. Sie lächelte. Raunen. Der Richter verzog keine Miene. Der Staatsanwalt wiederholte die Anklage und plädierte auf schuldig. Er war am Ende.
"Ich war es nicht", murmelte er. Niemand hörte es. Er hatte keine Lust, wütend zu sein. Er hatte genug Leid .
"Sie haben das letzte Wort."
Er schaute hinauf und sprach: "Sie hätte mir alles sagen können. Ich hätte es akzeptiert. Ich wollte nur ihr Bestes." Er sackte zusammen.
Alle warteten auf das Urteil, nur er nicht. Er sah nur sie. Er musste sich erheben. Das Urteil lautete vierzehn Jahre. Positives Geflüster erfüllte den Raum. Er war woanders.
Erst im kleinem Raum hinter dem Saal erwachte er wieder.
"Tja, wir könnten Revision einlegen", sagte der Anwalt ruhig. Etwas erwachte in ihm.
Er sagte: "Ich werde es tun. Ich habe sie nicht getötet."
Der Anwalt schaute ihn verdutzt an. "Hören Sie nicht? Ich habe sie nicht umgebracht, ich habe sie geliebt!" Der Anwalt stand auf und griff nach seinem Hut.
Er wurde lauter: "Ich habe sie nicht getötet! Niemals!"
"Wer weiß?!", sagte der Anwalt, "ich werde mich melden.
Er war verzweifelt. Tränen liefen ihm das Gesicht herunter: "Nein, ich war es nicht, hören Sie, ich war es nicht. Ich habe sie geliebt. Ich..."
Der Anwalt schloss hinter sich die Tür. Seine Schritte hallten den Gang hinunter.