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Das Gesicht

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25.01.2004
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Das Gesicht

„Heute, in den frühen Morgenstunden ist der Politiker Alfred Neumann an den Folgen einer kurzen, schweren Krankheit verstorben. Neumann war Mitglied des Bundestages und galt als heißer Favorit für die Nachfolge des noch amtierenden Bundeskanzlers...“
Gerd Sonder schaltete das Radio aus. Er war sowieso schon spät dran. Der Wetterbericht würde ihm keine Neuigkeiten vermitteln können. Niederschlag in Form von Schnee waren seit Tagen keine nennenswerte Nachricht mehr.
Hastig schob er das letzte Stück Brot in den Mund. Noch ein Schluck Kaffee und zwischendurch noch in den Mantel schlüpfen. Alles ohne auf den akkuraten, grauen Anzug zu kleckern. In einem Single-Haushalt war alles nur eine Frage der Routine.
Keine 5 Minuten später saß er bereits im Bus, der sich seinen Weg über schneebedeckte Straßen ebnete. Er saß in Fahrtrichtung und schaute aus dem Fenster auf das Treiben auf den Straßen. Weiße Flocken fielen aus geöffneten Himmelsschleusen und bildeten einen dichten weißen Vorhang. Sie überdeckten mit ihrem Weiß das sonst so triste Grau der betonierten Straßenschluchten und die Autofahrer, die an diesem Morgen ihre Probleme hatten.
Er gestattete sich ein breites Grinsen und lehnte sich entspannt zurück.
„Wie eine Märchenlandschaft“, hörte er eine ihm bekannte Stimme seine Gedanken offen aussprechen. Es war der sanfte Klang , den er so mochte und der sie verriet.
„Claudia! Das ist aber eine Überraschung. Seit wann bist du wieder da?“
Sie lächelte ihn breit an, bevor sie ihm antwortete: „Wir sind heute Nacht mit der letzten Maschine gelandet. Es war ein anstrengender Flug. Wir sind von einer Turbulenz in den nächste gekommen. Ich hatte Schwierigkeiten den Kaffee aus der Tasse in den Mund zu bekommen, ohne etwas zu verschütten. Ich war froh, daß ich mir kein Taxi rufen mußte. Herr Ewurts hat mich mit seinem Wagen nach Hause gebracht.“
„Der Alte?!“ Ungläubig schüttelte Gerd den Kopf. „Dann muß das Geschäft unter Dach und Fach sein – vielleicht der richtige Augenblick, um nach einer Gehaltserhöhung zu fragen.“
Sie schmunzelte nur und gab ihm einen Kuß auf die Stirn, bevor sie sich neben ihn setzte.
Nur 20 Minuten später erreichten sie das Bankhaus Ewurts, in dem sie beide arbeiteten.

Das Telefon klingelte. Bevor er den Hörer abnahm schaute er auf das Display. Der Chef, schoß es ihm durch den Kopf. Gut das es ISDN gab. Jetzt wußte er wenigstens, was auf ihn zukam.
„Ewurts. Herr Sonder, können sie mal eben kommen?!“ Eine Antwort wartete er erst gar nicht ab. Der bedauernde Blick seines Kollegen begleitete ihn, als er sein Büro mit mißmutigem Gesicht verließ.
Das Büro seines Chefs lag zwei Stockwerke höher. Er mußte den Aufzug nehmen. Der lange, schmucklose, weiße Korridor schien nicht enden zu wollen. Die Türen aus Buchenholz zogen an ihm vorbei, wie die Namen der Menschen, die dahinter arbeiteten. Jeder von ihnen hatte schon ausreichend an der beständig schlechten Laune seines Chefs teilhaben dürfen.
Er betrat das Vorzimmer.
„Hallo Claudia!“
Sie lächelte ihn an.
„Es sieht gut aus für familienfreundliche Gehaltswünsche.“ Sie machte ein bedeutungsvolles Gesicht. „So habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.“
Eine Antwort blieb ihm im Halse stecken. Mit großen Augen verfolgte er seinen Chef, Rainer Ewurts, der pfeifend aus seinem Büro auf ihn zukam.
„Guten Morgen Herr Sonder. Ich freue mich, daß sie so schnell kommen konnten. Wir haben etwas zu besprechen.“ Er schüttelte ihm die Hand und führte ihn in sein Büro.
„Es geht um das neue Geschäft mit Compu-Marketing....Frau Meyer: Stellen sie in der nächsten Stunde keine Gespräche für mich durch!“

Es war ein langer und harter Arbeitstag geworden, als Gerd Sonder am späten Abend seine Wohnung betrat. Das Gespräch mit Herrn Ewurts war in ruhigen Bahnen verlaufen. Dieser neuen Firma, Compu-Marketing, sollte ein Kredit in zweistelliger Millionenhöhe zur Verfügung gestellt werden. Die Unterlagen waren bereits von Herrn Ewurts geprüft und unterschrieben worden. Gut so, damit würde er wenigstens keine Arbeit haben.
Nachdem er seine Arbeitskleidung abgelegt und sich eine Tasse Kakao gemacht hatte, ging er ins Wohnzimmer und schaltete seinen PC an.
Um ein Haar hätte er Ewurts noch die Stimmung vermiest. Auf die Frage nach der Gehaltserhöhung hatte dieser zunächst einen hochroten Kopf bekommen. „Sonder, es zeichnet sie aus, daß sie das Gespür für die Situation haben,“ hatte er gesagt und sich entspannt. „Korrekt. Ab nächsten Monat rutschen sie eine Gehaltsstufe höher.“
Er nahm einen großen Schluck aus seiner Lieblingstasse.
Unterdessen hatte er sich bereits im Internet eingeloggt. Eine Nachricht von `Brain´ erreichte ihn.
Willkommen im Club der digitalen Dichter. Wieso bist du heute so spät?
Die Idee zu diesem Namen hatte `Sonic´. Sie trafen sich regelmäßig im Netz um Informationen auszutauschen. Jeder hatte einen eigenen Codenamen und nur den Mitgliedern des Clubs waren ihre richtigen Namen bekannt. Seitdem `Brain´ die Idee hatte, aus ihren Aktivitäten im Netz Kapital zu schlagen, trafen sie sich jeden Abend um Anregungen und Ideen auszutauschen.
Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Tut mir leid, Leute. Was gibt es Neues im Universum?
`Big Eye´ hat gerade etwas sensationelles in unsere Mailboxen eingeworfen. Guck es dir in Ruhe an und sag uns dann deine Meinung dazu...
Verdammt. `Brain´ schaffte es doch immer wieder ihn neugierig zu machen. Mit einem Mausklick verwandelte sich das Datenpaket mit dem merkwürdigen Namen PUSTEBACKE in ein digitales Bild. Es stellte einen an der Wand lehnenden Mann und eine davor kniende Frau dar.
„Ich werd´ verrückt!“ Sein Erstaunen verwandelte sich in ein breites Grinsen. Zeigte das Bild doch den amerikanischen Präsidenten und eine Monika, die es geschafft hatte durch Preisgabe ihres Intimlebens mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als ein Krieg im Balkan, der täglich unzähligen Menschen das Leben kostete.
`Big Eye´ ist der Größte,
tippte er in die Tastatur.
Danke – ich weiß,
erschien als Antwort auf dem Bildschirm.
Woher hast du das Bild?
Sagen wir mal ... gefunden!
Gerd grinste. Typisch Georg, alias `Big Eye´. Er war so oft im Internet. Würde man das Internet mit einer Straßenkarte vergleichen, kannte Georg selbst die Trampelpfade, die nicht eingezeichnet waren.
Was ist das für ein kreisförmiges Symbol unten rechts in der Ecke?
Das habe ich nicht herausgefunden. Noch nicht. Könnte vielleicht ein Firmenlogo sein... Das erinnert mich an etwas: Hast du dich schon um unser Projekt gekümmert?
Blinkend stand der Cursor im Raum und wartete auf Antwort.
Heute ging es leider nicht. Es war mächtig viel zu tun. Aber ich versuche Morgen den Termin für unseren Werbespot klarzumachen. Es hat sich eine neue Möglichkeit über die Bank ergeben. Vielleicht ergibt sich eine preisgünstige Lösung für unsere Ideen bei einem Neukunden von uns. Nebenbei ist das eine gute Möglichkeit, mir den Laden aus der Nähe anzuschauen.

Es war gegen 17.00 Uhr, als er das Büro der Compu-Marketing betrat. Er schloß die Tür hinter sich und betrat einen steril wirkenden Raum. Sonnenlicht flutete durch große Dachprismen und erhellte gezielt Abschnitte an den Wänden, an denen einige erwähnenswerte Auszüge der täglichen Arbeit der Agentur ausgestellt waren. Sein Interesse galt einzig und allein einem Empfangstisch, hinter dem emsig eine Angestellte Notizen machte. Sie schaute von ihrer Arbeit auf, als er näher herantrat und sie ansprach. Ein bildhübsches Mädchen. Blond und blaue Augen. Genau sein Typ und höchstens 20 Jahre alt.
„Was kann ich für sie tun?“ Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht.
„Ich würde gerne einen Werbespot in Auftrag geben,“ antwortete er, nachdem er seine Fassung wiedergefunden hatte.
„Gerne.“ Sie beugte sich über die Tastatur ihres PCs. Und ihre weit geschnittene Bluse erlaubte ihm tiefe Einblicke. „Wie bitte ist ihr Name und ihre Adresse?“
Er antwortete ihr. Ein kurzes Telefongespräch meldete ihn an.
„Herr Grembil freut sich auf ihren Besuch. Ich werde sie zu seinem Büro bringen. Bitte folgen sie mir.“
Der Hüftschwung unter ihrem kurzen Minirock blieb ihm nicht verborgen.
„Ich bin direkt hinter ihnen.“

Tock, tock, tock.
Es folgte eine kurze Pause. Gerd schaute seine Begleiterin an. Sie standen vor der Bürotür von Bert Grembil. So stand es auf dem Namensschild, das ihn gleichzeitig als Geschäftsführer auswies
Gerd fuhr sich beiläufig über sein Haar. Es war eine dumme Angewohnheit, aber es half ihm immer seine innere Anspannung abzubauen. Und ein bißchen Eitelkeit war auch dabei.
„Kommen sie herein!“
Die junge Dame öffnete ihm die Tür und wies ihn an hineinzugehen. Er betrat ein großzügig gebautes Büro. Neben der kostbaren Inneneinrichtung aus Teakholz stach besonders der mindestens 10 Meter lange, edel geknüpfte Läufer ins Auge. Und der führte ihn direkt zum Schreibtisch, vor dem ein großgewachsener Mann stand. Sein breites Verkäuferlächeln entblößte die weißen Zähne in seinem dunkelgebräunten Gesicht. Mit ausgestreckter Hand kam der blonde Mann auf ihn zu.
„Guten Tag.“ Er schüttelte ihm die Hand und grinste fortwährend.
So wird das Darlehen also eingesetzt. Teure Möbel, schicke Frauen und wattstarke Sonnenbanken. Gerd lächelte und erschrak, als es zu einem Lachen anschwoll. Aber es war nicht sein Lachen, sondern das seines Gegenübers, das ihn aus seinen Gedanken riß. „Entschuldigung. Was haben sie eben gesagt?“
Es war ihm peinlich so erwischt worden zu sein. Herr Grembil schaute ihn durchdringend an. Dann lächelte er aufgesetzt und wiederholte artig: „Ich sagte, ich würde sie willkommen heißen bei Compu-Marketing, Herr Sonder. Und hoffen, daß Sie bislang einen guten Eindruck von unserer Firma hatten und es sich nicht anders mit dem Geld überlegen würden.“
Gerd ergriff die ausgestreckte Hand und schüttelte sie. „Woher wissen Sie, daß ich von der Bank komme?“
„In meinem Beruf ist Wissen Macht. Das Wissen um Gewohnheiten, Vorlieben, Ängste und Bedürfnisse. Nichtwissen kann ich mir nicht leisten.“ Um seinen Worten das notwendige Gewicht zu geben, zog er die Augenbrauen in die Höhe und blickte ihn an.
Gerd konnte sich seiner Gefühle nicht erwehren. Er mochte ihn nicht. Die Arroganz, mit der Herr Grembil auftrat, stand im krassen Gegensatz zur aufgesetzten Freundlichkeit die er zur Schau trug.
Gerd verfolgte seinen Weg herum um den Schreibtisch. Er überlegte. Na klar, das war es. Er hatte seinen Namen bestimmt aus den Gesprächen mit Ewurts aufgeschnappt. Und jetzt zog er die Show ab. Innerlich lächelte er, doch seine Augen bewahrten seinen Gesichtsausdruck.
„Nun...,“ eröffnete Grembil das Gespräch, „was kann ich für Sie tun?“
„Zuerst möchte ich vorwegschicken, daß ich nicht nur dienstlich hier bin. Natürlich interessiert mich ihre Agentur und wie sie hier arbeiten. Aber die Bilanzen hat sicherlich Herr Ewurts bereits eingesehen.“
Grembil nickte unmerklich und lehnte sich – wie es schien - entspannter zurück.
„Wir sind eine Gruppe von 5 Personen und haben eine Geschäftsidee. Und was wir suchen, ist DIE Möglichkeit in der Computerwelt schnell bekannt zu werden.“
Gerd machte eine Pause. Er war zufrieden. Der Köder war ausgelegt. Sehen wir mal, ob er anbeißt, dachte er zufrieden.
Plötzlich schmunzelte Grembil wieder. Gerd gefiel dieses Lächeln nicht. Gar nicht.
„Ich sehe, sie wollen erst unsere Karten sehen, bevor Sie ihre auf den Tisch legen.“ Er erhob sich von seinem Chefsessel aus Leder. „Nun, ich freue mich Ihnen ein paar unserer Werke zu zeigen. Wenn Sie erlauben?“
Nun hatte er Gerd an der Angel. Er nickte nur, um seine Neugier nicht offensichtlich zu machen.
Auf dem Bildschirm eines Laptops erschien das Logo der Firma. Grembil zauberte mit ein paar Handgriffen einen Werbespot hervor.
Noch einen.
Und noch einen.
Ein neues Auto, das ein längst verstorbener Schauspieler fuhr; Lassie in einer Hundefutterwerbung und Helmut Kohl mit Konrad Adenauer im Zwiegespräch um den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Gerd schaute fasziniert auf die Bilder, die vor ihm abliefen. Er war beeindruckt. „Adenauer und Kohl?“ Er sah Grembil fragend an.
„Es war sein ausdrücklicher Wunsch. Vermutlich versprach er sich etwas davon, an die alte Ära anzuknüpfen. Leider wurde der Auftrag zur Ausstrahlung zurückgezogen. Tröstlich ist allein das Honorar.“ Er lächelte zufrieden.
Gerd runzelte die Stirn. Die Illusion war nahezu perfekt. Ob es allein durch Ein- und Überblenden bestehender Filmsequenzen gelänge eine solche Scheinwelt zu konstruieren, war zu bezweifeln. `Big Eye´ wäre sicherlich sehr interessiert an dieser Firma. Hier waren Computerexperten am Werk, die ihr Handwerk verstanden.
Das Klingeln des Telefons unterbrach die kleine Demonstration. Grembil nahm den Anruf entgegen. Unterdessen flimmerten weitere Spots übers Display.
Als er aufgelegt hatte entschuldigte er sich. Dringende Angelegenheiten warteten auf Erledigung. Gerd war es recht. Die Sache war zu interessant, um es auf sich beruhen zu lassen. Als er sicher war, daß Grembil sich entfernt hatte, zog er das Laptop zu sich herüber. In diesem Augenblick erschien das Konterfei des verstorbenen Politikers Alfred Neumann auf dem Bildschirm. Es erstaunte ihn. Neumann und Kohl waren zu Lebzeiten mit ihren politischen Meinungen so weit voneinander entfernt, wie der Nord- vom Südpol. Seltsam, daß sie die gleiche Werbeagentur ausgewählt hatten. Und verflixt, der Kalender, der hinter Neumann an der Wand hing, zeigte das Datum des gestrigen Tages. Aber das konnte nicht sein, denn Neumann war da bereits tot! Darauf konnte er sich erst recht keinen Reim machen. Er fuhr sich durchs Haar und biß auf die Unterlippe. „Was zum Teufel ist mit dieser Firma los,“ brummte er leise. Vorsichtig schaute er zur Tür. Verschlossen. Gut, dann hatte er noch Zeit. „Okay, gehen wir der Sache auf den Grund.“ Er aktivierte das Dateienverwaltungsprogramm. Mit Hilfe dieses Programms konnte er feststellen, daß die Datei mit Neumann tatsächlich am gestrigen Tag das letzte mal bearbeitet worden ist. Noch viel interessanter war allerdings der Name der Datei: Neumann.cm. Die Dateiendung war identisch mit dem Firmenkürzel und geschrieben wie das Symbol, das er zuvor bereits schon einmal gesehen hatte: Versteckt in der Ecke eines kleinen Bildes mit Monika und Bill !
Er öffnete den Mund, doch es fehlten im die Worte. Wurde die Datei mit Neumann schon bereits zu Lebzeiten erstellt und erst gestern eingespielt? Oder hatte Compu-Marketing ein bißchen mit Fiktion und Realität herumgespielt? Clinton und Lewinsky waren schon mehr als ein Verdacht. Und wenn ja, warum das Ganze? Ein breit angelegter Marketingfeldzug, um die Firma ins Gespräch zu bringen und ihr Können zu beweisen?
Sein Blick fiel auf eine weitere Datei: Ewurts.cm. Verdammt, was bedeutete das schon wieder? Gerd war mehr als verwirrt. Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger konnte er sich zu einer Erklärung durchringen. Er rief die Datei auf. Sie zeigte das Bild seines Chefs. Darüber lag ein digitales Raster. Jemand hatte begonnen auch von Ewurts eine digitale Persönlichkeit zu erschaffen.
Die Zusammenhänge waren noch unklar. Allerdings würde es leicht sein, mit dieser Technik eine eigene Realität zu erschaffen. Manipulation von Nachrichten, um Stimmungen zu erzeugen. Bilder von Greultaten, Aussagen von Persönlichkeiten, kompromittierende Tatbestände. Allesamt probate Mittel, um bestehende Strukturen zu zerrütten und nach eigenen Vorstellungen zu verändern. Da war es ihm fast lieber, es mit einfacher Erpressung zu tun zu haben. Doch er wußte, das Neumann zu Lebzeiten ein Gegner der Übertechnologisierung gewesen war. Sein Motto hatte immer BACK TO THE ROOTS geheißen. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Dinge, nicht die Maschine. Und so hatte auch sein Konzept gegen die Massenarbeitslosigkeit ausgesehen. Gegner hatten ihn als weltfremd abgestempelt. Sie hatten Angst, das Land würde sich unter ihm isolieren. Aber Neumann war kein Dummkopf gewesen. Ein Maß an Technik, in bestimmten Bereichen gezielt eingesetzt, darauf war es ihm angekommen. Und das Lager seiner Anhänger war in den letzten Monaten stark angewachsen. Nicht zuletzt deshalb waren seine Chancen auf das Amt des Kanzlers so gestiegen. Um so verwunderlicher waren seine letzten Statements über die Förderung der Entwicklung der Hochtechnologie gewesen. Da hatten ihn bereits die Spuren seiner Krankheit gezeichnet: Dünn, ausgemergelt und geschwächt.
Gerd gefiel der Gedanke nicht, daß es eine vom Computer geschaffene Person gewesen sein konnte, die sie alle genarrt hatte. Es gefiel ihm nicht, und er wußte nicht was noch dahinter stecken konnte. Aber er mußte raus. So schnell wie möglich.
Er stellte das Ausgangsbild wieder her. Gerade noch, bevor sich Schritte rasch näherten und die Tür geöffnet wurde.
Er sah sich um. Natürlich, das Handy! Er holte es schnell aus der Innentasche seines Jacketts und hielt es an sein Ohr.
Grembil trat ein. Für ihn mußte es so aussehen, als ob Gerd Sonder telefonierte. Um diesen Eindruck zu unterstreichen, äußerte Gerd hin und wieder einige Gesprächsfloskeln bevor er sich höflich von seinem „Gesprächspartner“ verabschiedete und „auflegte“.
„Es tut mir leid, Herr Grembil. Ich habe gerade einen wichtigen Anruf erhalten. Ich muß leider gehen. Ich würde mich freuen, wenn wir unser Gespräch bald fortsetzen könnten. Ich melde mich dann noch bei Ihnen wegen des Auftrags...“ Er drückte einem völlig verdutzten Grembil die Hand, bevor dieser noch ein Wort sagen konnte. Und als er schon fast zur Tür hinaus war fügte er noch hinzu: „Mit dem Kredit geht alles in Ordnung. Es war wirklich überzeugend.“
Die Tür schnappte ins Schloß. Herr Grembil lächelte zur Abwechslung nicht mehr.

Klack.
Das Motorengeräusch erstarb im selben Augenblick, wie er den Zündschlüssel im Schloß herumdrehte. Der Kopf sackte auf die Brust. Er schloß die Augen und verkrampfte innerlich. Jeden Augenblick erwartete er, daß jemand an die Scheibe seines Opels klopfte und sich nach seinem Befinden erkundigte. Niemand kam. Er war fast ganz allein auf dem großen Parkplatz der Bank. Ein paar Autos, auch das seines Chefs, und er.
Wieder schloß er die Augen. Die vergangene ½ Stunde lief nochmals vor seinem geistigen Auge ab. Nachdem er seinen geordneten Rückzug bei Compu-Marketing angetreten hatte, war er zunächst ziellos durch die Stadt gefahren. Ein Wunder, daß bei dieser Fahrt nichts passiert war. Und irgendwie hatte er sich dann auf dem Weg zu ‚Big Eye‘ befunden. Sie hatten erst bei einem Treffen der digitalen Dichter herausgefunden, daß sie sich länger kannten, als sie geglaubt hatten. Sie waren alte Schulkameraden . . . gewesen! Auf der Bundesstraße stadteinwärts hatte er Georgs zerschmetterten Wagen entdeckt. Keine Bremsspuren. Nur einfach der Baum, der in der Kurve gestanden hatte und nun als schiefer Turm von Pisa von der Wucht des ungebremsten Aufpralls erzählte. Es bestand kein Zweifel, es war Georgs Auto. Ein seltenes Fabrikat, das er unter hunderten wiedererkannt hätte. Der Notarzt vor Ort hatte nur noch den Tod bescheinigen können.
Tränen kullerten über seine Wangen. Verdammt, wie hatte es nur so weit kommen können? Wer immer hinter der Sache steckte, er hatte Größeres vor als nur eine simple Erpressung. George war es schließlich gelungen ins System von Compu-Marketing einzudringen und von PUSTEBACKE ein Download zu machen. Er war der vorsichtigste Hacker gewesen, den Gerd gekannte hatte. Aber sie hatten ihn wohl zurückverfolgen können, das stand für ihn außer Frage. Und Sie waren es, die ihn getötet hatten! Unfall? Darüber hätte er lachen können, wenn es ihm nicht elendig zumute gewesen wäre. Niemand geht so weit und so skrupellos vor, nur für eine Erpressung.
Entschlossen wischt er die Tränen ab. Sei wie es ist, dachte er, zunächst muß ich Ewurts informieren. Sein Konterfei war ebenfalls gespeichert und das war nach den bisherigen Erkenntnissen kein gutes Zeichen. Es war bereits spät, aber er wußte, daß Ewurts immer länger blieb. Männer wie er gaben immer der Karriere den Vorrang vor der Familie. Seine zwei Kinder hatten Gerd immer leid getan. Und er mochte Ewurts nicht besonders. Aber er mußte gewarnt werden.
Über das Zugangskontrollsystem wies er sich als Berechtigter aus und betrat das Gebäude. Wie nicht anders erwartet, saß Ewurts hinter seinem Schreibtisch. Erstaunt blickte ihn Ewurts an, als er dessen Büro betrat.
„Was ist mit Ihnen, Sonder? Sie sehen nicht gut aus. Ist etwas passiert?“
Ewurts kam auf ihn zu. Die Sorge in seiner Stimme klang aufrichtig. Er bedeutete Gerd Platz zu nehmen und zu erzählen.
Als Gerd mit seinen Verdachtsmomenten endete, war Ewurts blaß geworden. Er schüttete sich einen Drink ein. Dann nahm er eine zweite Flasche und füllte ein Glas für Gerd Sonder. „Auf den Schreck müssen wir etwas trinken.“
Gerd schaute ihn an und trank.
„Wenn wir uns in der Gefahr befinden, die sie geschildert haben, müssen wir zur Polizei!“
Als Gerd nickte, fuhr er fort:“ Wir machen uns sofort auf den Weg – Nehmen wir meinen Wagen. Sie fahren. Das war gerade mein vierter Whiskey und ich will meinen Führerschein behalten.“

„Langsam, oder wollen sie uns umbringen und den anderen die Arbeit abnehmen?“
Ewurts krallte sich am Türgriff fest und versuchte Balance zu halten, als der BMW mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve fuhr.
„Enschuldign . . . I . . . Ich waß an nich wasmir los is . . .,“ stammelte Gerd. Sie hatten kaum im Auto gesessen, als ihm flau geworden war. Und mit jedem Kilometer wurden seine Reaktionen schlechter. Der Weg hatte sie über die etwas ländlicher gelegene Umgehungsstraße geführt. Es war der weitere, dafür aber schnellere Weg zur Polizei.
Seine Augen flatterten. Links und rechts huschten Bäume schemenhaft am Auto vorbei. Als er die Augen zukniff und wieder öffnete konnte er einen Acker erkennen. Er schüttelte den Kopf, als ob er so den Schleier, der auf ihm lag, abschütteln konnte.
Urplötzlich kam die Schwärze über ihn. Er sah noch, wie Ewurts ins Steuer griff um dem Lkw, der vor ihnen aus dem Nichts aufzutauchen schien, auszuweichen.
Oder träumte er nur?
Dann wurde es still...

Langsam öffnete er die Lider. Vorsichtig und zögernd, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Über seinen Augenbrauen schauten die Reste von Verbandsmull, der seinen Schädel über und über bedeckte. Das bloße Hochziehen der Augenbrauen verursachten Schmerzen im ganzen Gesicht. Er versuchte die Arme zu heben – es ging nicht. Und seine Beine verweigerten ebenfalls den Dienst. Es gelang ihm nicht, an sich herabzuschauen. Und so blieb ihm nur der Blick nach links und rechts: Ein weißes Tischchen, Stühle, ein zweites, unbenutztes und mit Folien abgedecktes Bett. Ich bin im Krankenhaus, schoß es ihm durch den Kopf. Irgendwo piepte ein Gerät im Takt seines Pulses.
Nach und nach fielen ihm die Details ein. Also war es kein Traum, sondern der Laster, den er zu sehen geglaubt hatte, der ihn hierher gebracht hatte.
„Er ist jetzt wach, sie können rein zu ihm.“
Zwei Stimmen tuschelten leise und kaum hörbar. Ein hochgewachsener Mann im Anzug trat an sein Bett und schaute ausdruckslos auf ihn herab. Er stellte sich kurz und knapp als „Süderhoff – BKA“ vor. Sein Dienstausweis verschwand ebenso schnell wieder in der Jackentasche wie er zuvor herausgeholt worden war.
„Wie fühlen sie sich?“ Gerd machte gerade den Mund auf um zu antworten, da fuhr der Mann vom BKA auch schon fort. „Gut, dann werden sie mir sicherlich ein paar Fragen beantworten können. Seit wann wissen sie von der Sache?“
„Seit . . . was haben wir heute für einen Tag?“.
„Freitag.“
„Mein Gott!“. Er hatte drei ganze Tage einen Blackout gehabt. „Seit Dienstag . . .,“ murmelte er gedankenlos, „. . . als ich bei Compu-Marketing war.“
Der BKA-Mann wurde hellhörig. „Sie geben also zu Compu-Marketing zu kennen?“
„Selbstverständlich. Wie sollte ich es sonst erfahren haben? Was soll das überhaupt? Was heißt hier ‚zugeben‘? Und vor allem: Was wollen SIE überhaupt hier? Leidet das BKA unter Beschäftigungsmangel, daß sie sich schon um Verkehrsunfälle kümmern müssen?“
Sein Verstand war wieder voll da, im Gegensatz zu seinem Körper, der ihm nicht so recht gehorchen wollte. Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: „Was ist mit Herrn Ewurts – dem anderen, der im Wagen saß?“
„Welchem anderen?“ Gerd war irritiert.
Süffisant lächelnd sah ihn Süderhoff an.„Ich glaube, wir sollten uns zunächst einmal das Krankenhausprogramm anschauen. Vielleicht beruhigen sie sich und wir können uns anschließend normal über das Vorgefallene unterhalten.“
Gerd wollte protestieren, aber es hatte keinen Sinn. Süderhoff hatte das Gerät bereits eingeschaltet. Er bemerkte erst jetzt den Videorecorder, der mit der Rückwand des Fernsehgerätes verbunden war. Einmal eingeschaltet, spulte er das Band einer eingelegten Videokassette ab.
Was soll der Scheiß, dachte Gerd. Hat mein Verstand doch etwas abbekommen und alles ist bloße Einbildung, während ich an sterilen Schläuchen im Koma liege? Erstaunt sah er zu Süderhoff. Sein Blick wurde nicht erwidert.
Das Bild zeigte die Landstraße, auf der sie verunglückt waren! Die Kameraführung war ruhig und gekonnt. Links und rechts säumten Bäume den Weg. In das Rauschen des Windes auf der Tonspur mischte sich helles Vogelgezwitscher.
Die Kamera zoomte ein sich näherndes Fahrzeug heran. Das Bild zeigte eine schwere Limousine , die mit mäßiger Geschwindigkeit näher kam. Sekunden später verschwand sie hinter dichtem Buschwerk in einer Kurve um im nächsten Augenblick wieder auf der anderen Seite zu erscheinen.
Gerd Sonder war verwirrt. Warum werden mir diese Bilder gezeigt?
Ein lauter Knall zerriß die Stille. Vögel flatterten aufgescheucht hoch. Ein zweiter Knall – ein Schuß. Das Kamerabild wackelte. Der Fahrer der Limousine verriß das Steuer und setzte den Wagen vor den nächsten Baum. Dort blieb er schwer beschädigt und in Rauchschwaden gehüllt liegen.
Gerd runzelte die Stirn.
Das Kamerabild irrte suchend umher und fing das Bild eines Baumes ein. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte Gerd den Lauf des Gewehres und den Mann hinter dem Baum, der es hielt.
Sein unausgesprochener Wunsch erfüllte sich. Der unbekannte Kameramann vergrößerte die Aufnahme. Sie zeigte eine mit einem Anzug bekleidete Person. Grau, farblos aber edel.
Geschmack hat er, dachte Gerd.
Im selben Augenblick nahm der Attentäter das Gewehr herunter. Die Kamera zoomte näher. Noch näher. Das Bild wackelte, doch das Gesicht, das er sah, kam ihm dennoch bekannt vor.
Zur gleichen Zeit entdeckte er die Zeichen auf dem Film. Es war ihm zuvor nicht aufgefallen. Das Zeichen von Compu-Marketing in der unteren Bildzeile. Es flimmerte als Erkennungszeichen desjenigen, der die Aufnahme gemacht hatte.
Schlagartig fügten sich alle Puzzleteile zusammen. Sie hatten einen Sündenbock gebraucht. Und Ewurts steckte mittendrin!
„Können wir uns jetzt unterhalten?!“
Er hörte Süderhoff, aber er konnte den Blick nicht vom Fernseher lösen. Dort war das Gesicht des Schützen als Standbild eingefroren. Sein Gesicht!

 

Hallo Weight

mit etwas verspätung erhältst du eine Kritik von mir.

Ich habe bereits vor ein paar tagen als du die Geschichte gepostet hast reingelesen, hatte aber keine Zeit sie fertig zu lesen. was mich auch gleich zu lob und tadel bringt:

die Motivation sie weiter zu Lesen war nicht die spannende story, sondern die sher gute sprache die du verwendest.

will heissen: die geschichte lässt sich zeit ihre spannung aufzubauen. am Beginn könnte man einiges kürzen, wobei auch erst später klar wird, dass auch ewurts eine wichtige rolle spielt. Zur Sprache und Text aber kann ich nichts negatives sagen, sehr ausgefeilt und ich konnte auch keinerlei fehler entdecken. Viele kleine bemerkungen lassen gute bilder im kopf entstehen und auch realismus aufkommen.

Einzig über einen Satz bin ich gestolpert:

Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: „Was ist mit Herrn Ewurts – dem anderen, der im Wagen saß?“ „Welchem anderen?“ Gerd war irritiert.

da war ich nicht sicher, wer gerade spricht, "welchem anderen" sagt doch der BKA Beamte, oder?

Fazit: Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, die Spannung kam etwas spät, aber dafür am Ende umso dichter. Guter, sicherer Stil. Mach weiter so.

Porcupine

 

Hi Weight,
eigentlich bin ich ein Fan von solchen Geschichten, die sich Zeit lassen und erst einmal Atmosphäre aufbauen, doch leider dauert es bei dir zu lange. Es gelingt dir dadurch zwar den Prot für den Leser greifbar zu machen, doch man überlegt dadurch zu Beginn, ob man die Geschichte wirklich zu Ende ließt. Da ich aber alle Sachen beende, die ich auch anfange, habe ich mich natürlich bis zum Ende „durchgekämpft“ und eigentlich hat sich das auch gelohnt. Deine Sprache ist wohl über jeden Zweifel erhaben und sie ist es auch, wodurch die Geschichte lebt, denn Spannung will sich wie gesagt erst am Schluss einstellen. Stilsicher und dadurch gut zu lesen. Kein holpriger Satz, keine unnützen Formulierungen. Sehr gut.
Bitte weitermachen! Aber sollte deine nächste Geschichte wieder diese Länge aufweisen, muss bereits zu Beginn irgendetwas passieren!

Ergo: Gute Geschichte, die leider etwas an ihrer Ausführlichkeit leidet.

Grüße...
morti

 

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