Mitglied
- Beitritt
- 24.02.2017
- Beiträge
- 5
Das Gesicht im See. Ein Schauermärchen.
I.
Ein tiefer, dunkler Wald liegt im Herzen eines Landes, dessen Name heute in Vergessenheit geraten ist. Der Wald ist so tief, dass er seit jeher die fürchterlichsten und grausigsten Geschöpfe angezogen hat, so zumindest erzählt man es sich. Aus der unendlichen Dunkelheit fließt ein kleiner Bach, dessen Wasser einen sonderbar silbrigen Glanz ausstrahlt, ganz so, als ob er ständig vom hellen Licht des Mondes beschienen würde. Unweit des Waldes, im Schatten der dicht nebeneinander hinaufragenden Wipfel, stand vor vielen, vielen Jahren eine kleine Mühle, die, durch die Kraft des kleinen doch starken Baches angetrieben, von einem Müller bewohnt wurde. Seine Frau war seit vielen Jahre nicht mehr und der Müller lebte also sein Leben in bescheidener Einsamkeit am Rande des bedrohlichen Forstes. Außer den Bauern, die selten genug zu ihm kamen, um ihr Korn malen zu lassen, von welchem er einen kleinen Teil zum Brotbacken als Bezahlung behielt, sah und kannte er keine Menschenseele. Die Einsamkeit schmerzte ihn, denn als seine Frau noch gelebt, hatte er sich immer gewünscht, viele Kinder zu haben. Es schmerzte ihn so sehr, dass er des Abends, nachdem er das Korn in der Mühle gemahlen und am Waldrand Früchte und Beeren gepflückt hatte, mit einer Pfeife Tabak auf einem kleinen Stuhl vor seiner Hütte sitzend, in die tiefe Dunkelheit des Waldes blickte, welchen er nicht wagte, zu betreten. Das war für viele Abende so. Still saß er da und beobachtete den Wald, als ob er auf etwas wartete. Je dunkler es wurde, desto deutlicher kam ihm der Gedanke, dass sein trostloses Leben keinen Wert besaß. Er strich durch seinen langen Bart und fragte sich, was wohl geschähe, wenn er in den Wald hineingehen würde. Die Geschichten von den Unholden und Geistern, den Trollen und Hexen waren ihm seit langem bekannt. Als Kind schon hatte er die Geschichten gehört; von den Menschen, die niemals wieder von ihrer Reise in den Wald wiederkehrten. Es war für ihn lange Zeit auch nie eine Frage gewesen, den Wald zu betreten. Es gab ja auch nichts, außer dem Geheimnis als solches, was ihn in eben jenen Wald gelockt hätte. Doch nun glühte das tiefe Schwarz des Waldes geradezu verführerisch als Widerschein in seinen müden Augen.
Als er so in seinen Gedanken versunken war, bemerkte er, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Blitze zuckten über den Dächern der hohen Bäume und der Müller ging eilig hinein. Bevor er zu Bette ging, hing er, wie er es gewohnt war, den Teekessel über das kleine Feuer, welches im Kamin prasselte. Sein Blick schweifte durch das Zimmer, es war nicht sehr groß. Neben der kleinen Feuerstelle stand ein alter Sessel. Der rote Bezug war merklich abgetragen und an einigen Stellen hingen Flicken, die mit ungenauem Stich herangenäht waren. Vom Sessel aus fiel der Blick auf ein kleines Fenster, aus dem nun in regelmäßigen Abständen der helle Schein eines Blitzes zu sehen war. Der gegen das Fenster prasselnde Regen bannte den Müller und wider Willen musste er wieder an den Wald denken. Ein greller Blitz erleuchtete die Stube und dem Müller war, als hätte er im hellen Schein eine Gestalt gesehen. „Bist du’s?“ schrie er gegen das Fenster. Er stürmte an selbiges und sah hinaus. Seine Augen versuchten, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Er wartete auf einen nächsten Blitz, um deutlicher sehen zu können. Da! Nichts konnte er sehen und doch starrte er mit festem Blick hinaus. Es kamen ihm wie Stunden vor, die er am Fenster zubrachte. Doch seine Aufmerksamkeit blieb ganz auf das Fenster gerichtet. „Pffffft“ Das Pfeifen des Teekessels brachte ihn in die Stube zurück. „Es war vermutlich nichts, meine Müdigkeit hat meinem Verstand einen Streich gespielt.“ Nachdem er sich eine Tasse Tee eingeschenkt hatte, setzte er sich in den Sessel. Über dem Kamin hing ein Gemälde; das Bild einer jungen, schönen Frau. Ihr rotblondes Haar hing ihr in kleinen Löckchen knapp über die Schultern und die Augen funkelten in hellem grün. Der Mund war zu einem schüchternen Lächeln geformt und die Nase zierten einige Sommersprossen. Es war seine Frau. Eines Tages, als sie noch bei ihm gewesen, kam ein Wandersmann vorbei. Er suchte eine Bleibe für die Nacht und so lud ihn der Müller ein, bei ihnen zu nächtigen. Es gab gut zu Essen und die drei sangen Lieder des Abends, sodass der Wandersmann, welchem die Gesellschaft recht gut gefiel, sich entschloss, noch einen Tag länger zu bleiben. Es stellte sich heraus, dass er ein großer Künstler sei, der auf dem Weg in ein fernes Land war, da er vom König desselben gebeten worden war, ein Gemälde anzufertigen. Als Dank für die Verpflegung und die nette Gesellschaft, malte der Fremde zwei Bilder von des Müllers Frau. Eines ließ er den beiden und das andere nahm er mit, um es dem König zu zeigen. Seit diesem Tage hing das eine Bild über dem Kamin. Wie der Müller so dasitzend und Tee trinkend über die alten Tage nachsann, knallten die Donnerschläge immer heftiger. Schnell legte der Müller darauf sein Nachtgewand an und ging zu Bette. Ein schwerer Sturm erschütterte die dünnen Balken seiner Stube und er lag zusammengekauert in seinem Bette, das Ende des Sturms erwartend.
Auf einmal erwachte der Müller, ihm mussten am gestrigen Tage die Augen zugefallen sein und so hatte er bis zum anderen Morgen durchgeschlafen, was aufgrund seiner Verfassung und tiefen Trübsinnigkeit schon lange nicht mehr der Fall gewesen. Er erhob sich und müden Blickes schaute er aus dem Fenster, sich vergewissernd, dass keine Schäden die Arbeit der Mühle beeinträchtigen würden. Der Bach, der nun zu einem starken Strom angeschwollen war, trieb das Mühlrad mit enormen Kraft an und so machte sich der Müller eifrig daran, das restliche Korn zu mahlen, was in Windeseile geschah. Zufrieden stand der Müller am Ufer, doch die Erde war aufgrund des starken Regens zu nassem Schlamm verwandelt worden und so rutschte er aus und flog in hohem Bogen auf den Allerwertesten. So saß er denn mit nasser Hose im Schlamm und fühlte sich wieder recht wie ein Knabe, der von der Mutter ob der Tollerei, die er begangen, getadelt wurde. „Hätt‘ ich nur mein Pfeifchen hier“ entfuhr es ihm „ich würd ein gar lustiges Bild abgeben.“ Er griff in den Schlamm und hielt eine rechte Ladung in die Höhe, rufend: „Denk nur! Ich rackere mich ab und als Lohn erhalte ich auch noch einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten. Das Leben kann eine Ausgeburt an Ironie sein.“ Das Stück Schlamm, welches er in Händen hielt, rollte er zu einer Kugel zusammen. Staunend betrachtete er diese und griff nach zwei kleinen Kieselsteinen, die neben ihm lagen. „Rechte Augen kriegst du. Weiß wie Schnee sollen sie sein.“ Einen kleinen, krummen Stock setzte er als Nase ein, bevor er aus einer weiteren Handvoll Schlamm den Körper und Extremitäten formte. Ein Lächeln huschte über des Müllers Wangen, doch ihm wurde im selben Augenblick auch seine Einsamkeit erneut auf schmerzliche Weise bewusst. Er legte das Männchen neben sich und ging hinein.
Folgt man dem Bache, der aus dem Wald heraus fließt, der das Mühlrad in ständiger Bewegung hält, so kommt man an späterer Stelle an etwas, das einem größeren Teich anmuten mag. Das Wasser ist hier etwa Brusttief und ideal für ein erfrischendes Bad an einem warmen Herbsttage. Langsam stieg der Müller, der sich seiner Kleider an einem großen Baume, der unweit des Teiches stand, entledigt hatte, hinein. Seine Füße fühlten den schlammigen Untergrund und gewahrten sich auch einiger Steinchen, die sich in seine Fußsohlen bohrten. Mit einem kleinen Satz tauchte er ein in das kühlende Wasser. Er genoss es, hierher zu kommen. Hier konnte er eins sein mit der Natur, hier konnte er seine Sorgen und sein klägliches Schicksal vergessen. Hier war das alles egal. Er lag mit ausgestreckten Beinen im Wasser, die Augen hatte geschlossen. So ließ er sich treiben, während die Sonne ihm ins Gesicht schien. Seine Haut war dunkel, obwohl er die meiste Zeit im Inneren der Mühle arbeitete. Sein großer Körper war von Muskeln bedeckt, einige Falten in seinem Gesicht offenbarten jedoch, dass er alterte. Mit einem Ruck stand er wieder aufrecht im Wasser, besah noch einmal die Oberfläche und stieg dann aus dem Teich hinaus. Eine Weile lag er vor dem Baume in der Sonne, um sich zu trocknen. Die Sonne zog ihren Kreis und kam allmählich den Baumwipfeln nahe, sodass erste Anzeichen eines roten Horizonts erkennbar waren. Des Müllers Miene verfinsterte sich, als er den Wald ansah. Nun war es genug. Er stand auf und ging zurück zu seiner Mühle. Heute Abend wollte er nicht draußen sitzen. Die Arbeit hatte ihn müde gemacht und so gedachte er, heute früh zu Bett zu gehen. An der Mühle angekommen gewahrte er das Männchen, welches er im Spaße aus Schlamm gefertigt. „Geruhe wohl, Kamerad!“ sagte er, sich tief verbeugend. „Die Nacht bringt manche Wunder mit sich, gib nur fein auf dich acht.“ Und schon war er in der Türe verschwunden. Nach seinem abendlichen Tee ging er flugs ins Bett, er fühlte sich geradezu erschlagen. Nicht lange dauerte es, da schlummerte er tief in Morpheus Armen. Um ihn herum fiel die Welt in ein stilles Schwarz und im Kamin prasselte sanft das Feuer.
Es musste Mitternacht gewesen sein, als er vom Schlafe aufschreckte. Das Zimmer war durch das Mondlicht hell erleuchtet und das Feuer bis auf einige glimmende Stückchen Holz heruntergebrannt. Er fühlte sich wach, vielleicht war er doch zu früh zu Bett gegangen. Er dachte sich, dass etwas frische Luft ihn vielleicht wieder müde machen würde und so stand er auf und ging vor die Tür. Der Wald erschien ihm nun viel dunkler und größer, als er es sonst gewesen. Ihm behagte der Anblick nicht und so wendete er sich ab, um zum Bach zu gehen und dem leisen plätschern des Wassers zu lauschen. Beim Herumdrehen, hörte er ein Knacken, wie von einem Zweig. War er auf einen getreten? Schnell sah er zu Boden, doch konnte er keinen entdecken. Da knackte es noch einmal. Er sah zum Wald. Aus der tiefen Dunkelheit schien ein silbernes Licht, heller noch, als das Licht des Mondes. Er konnte nicht genau erkennen, woher das Licht genau kam, doch es wurde immer heller. Wieder ein Knacken. Ihm schien, als käme eine Gestalt, ganz in Licht gekleidet, auf ihn zu. Das Licht war so hell, dass er nur den Umriss einer Person erkennen konnte. „Wer seid ihr? Und was habt ihr in dem Wald zu suchen?“ stotterte er, denn das Licht irritierte ihn sichtlich. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Wenn ihr Getreide malen lassen wollt, so müsst ihr morgen wieder kommen.“ Doch die Gestalt gab keine Antwort. „Hört ihr nicht?“ rief er noch einmal. Da fuhr er zusammen. Das lange rotblonde Haar wehte aus dem weißen Licht heraus, wie Weidenblätter an einem windigen Herbsttag. „Das…das kann nicht sein!“ stotterte der Müller, neben dem knatternden Mühlrad in der Hocke sitzend. Die Gestalt, welche noch immer ganz in Licht gekleidet war, ging auf das Bachufer zu. Ihr Licht war so gleißend hell, dass der Müller gezwungen war, die Augenlieder zu einem winzigen Schlitz zu verengen. Er konnte lediglich erkennen, dass die Gestalt am Bachufer angekommen war und sich nun niederkniete. Bevor er rücklings kippte und mit dem Rücken auf dem Boden lag, fühlte er einen plötzlichen Schwindel. Mit aller Kraft versuchte er, den Kopf zu heben, um zu sehen, was die Gestalt tat. Das Licht kam ihm nun viel heller vor, als es zuvor gewesen; es brannte förmlich in seinen Augen, so dass er gezwungen war, den Blick abzuwenden. Es wurde schwarz um ihn, doch war er sich aller seiner Sinne gewahr. Er vernahm die süße Stimme seiner Frau, sprechend: „Lebe! Du sollst leben!“ Immer wieder hörte er diese Worte, doch sie schienen sich zu entfernen, bis sie so leise nur noch vernehmbar waren, als wäre er am anderen Ende der Welt. Es war, als hätte die Zeit aufgehört, zu existieren; er war an keinen Raum gebunden, schwebte frei umher. Da spürte er wieder etwas, Laub unter seinem Körper. Er lag auf einem kalten Waldboden und es war dunkel um ihn herum. Vorsichtig versuchte er, aufzustehen. Die Bäume um ihn wirkten bedrohlich und ein Gefühl der Beklommenheit packte ihn. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass er in jenem bösen Walde war, den zu betreten er sich so lange gehütet hatte. Ein starker Windhauch durchfuhr die Zweige und die am Boden liegenden Blätter flogen in Bögen um ihn herum. Auf einmal hörte er hinter sich Hufgetrampel. Dicke Nebelschwaden stiegen aus dem Boden um ihn herum auf, sodass er nur schwerlich sehen konnte. Die Hufe kamen näher, dem Müller liefen die Schweißtropfen über das Gesicht und sein Körper zitterte, sodass es ihm schwerfiel, auf den Beinen stehen zu bleiben. Da preschte ein schwarzer Reiter zwischen den Bäumen auf die kleine Lichtung hervor, auf der der Müller sich befand. Dieser dachte, sein letzten Stündlein habe geschlagen, denn in der Hand hielt der Reiter ein langes, graues Eisenschwert. Mit vollem Tempo ritt er auf den Müller zu, sodass dieser sich verzweifelt auf den Boden warf, „Gnade!“ rufend. Kurz vor dem Müller jedoch kam der Reiter mit einem lauten Aufschrei des Pferdes zum Stehen. Der Müller zitterte am ganzen Leibe und wagte es nicht, dem Unheilsboten in die Augen zu sehen. Da war wieder ein Knacken, doch dieses kam von der anderen Seite der Lichtung. Der Müller blickte hinüber und sah seine Frau. Sie war in demselben blauen Kleide, dass sie getragen hatte, als er sie zuletzt gesehen. „Viora.“ Flüsterte der Müller. Sie blickte ihm für eine Sekunde in die Augen, wobei ihre Augen mehr als früher ihr grünes Licht ausstrahlten. Ein großer Schmerz breitete sich durch des Müllers Brust aus, sodass ihm ein leidvoller Schrei entfuhr. Der Reiter drehte sich blitzschnell zu Viora um und gab seinem Pferd die Sporen. Der Müller, welcher sich gerade so an einem kleinen Baumstumpf hatte klammern können, rief aus schmerzerfüllter Brust: „Nein! Viora, lauf!“ Er wusste nicht, ob es an dem Nebel lag aber ihm war, als schwebe sie über dem Boden. Augenblicklich waren die beiden verschwunden. Der Müller versuchte, sich aufzurichten und den beiden hinterherzulaufen, doch der Nebel ward immer dichter und schien ihn zurückzudrängen. Da umfasste etwas seinen Fuß und er lag ausgebreitet auf dem Boden. Die Baumwipfel über seinem Kopf begannen sich zu drehen und er wurde erneut in die Lüfte gehoben. Auf einmal vernahm er einen lauten Schrei. Die Stimme war der von Viora nicht unähnlich. Aus der gähnenden Dunkelheit kam ein Licht auf ihn zu. Nein, es kam nicht auf ihn zu, er flog ihm entgegen. Er erkannte den Schein eines lodernden Feuers. Mit einem Ruck stand er wieder auf der Erde. Vor ihm flackerten die Flammen eines großen Feuers. Er war noch immer in dem Wald, wie er den um ihn stehenden bedrohlichen Bäumen entnehmen konnte. Schnee begann herab zu rieseln. Eine große Eule flog über das Feuer und setzte sich auf einen nahen Baum, den Müller betrachtend. Dieser drehte sich herum und fuhr zusammen. Ein altes Weib stand vor ihm, in Lumpen gekleidet. Die Feuerroten Augen und die krumme Nase verliehen ihr das Bild einer leibhaftigen Hexe. Tränen liefen dem Müller die Wange hinunter und er brachte nur folgendes aus seinem Munde. „Was mache ich hier? Ich sollte in meiner Mühle sein.“ Die Alte aber sprach: „Du bist hier, zu sehen.“ – „Ich verstehe nicht“ entgegnete der Müller. Langsam kam die Alte näher und sagte: „Was heißt auch v e r s t e h e n? Wie kannst du glauben wollen, das alles verstehen zu können. Du sollst nicht verstehen, du sollst s e h e n!“ – „Ich sehe hier rein gar nichts.“ Entfuhr es dem Müller verzweifelt. - „Jeden Abend sitzt du vor deiner Mühle und schaust in den Wald, hoffend, dass sie zurückkommt. Wir schauen zurück. Wisse, dass kein Geist des Waldes die magische Grenze am Waldesrand überschreiten darf. So hat es der König des Waldes, se. Königl. Exz. der geflügelte alte Kauz, mit dem Herrn der Wiesen, einem Fürsten und Gräber mit Namen Meles, ausgehandelt. Doch in dieser Nacht hat jemand die Grenze übertreten. Du weißt, wer es war.“ – „Viora? Ich habe mich also nicht getäuscht. Sie lebt!“ ein Lächeln erhellte die Wangen des Müllers. „Höre! Deine Frau ging einst in den Wald; es ist Gesetz, dass jeder Mensch, der sich in den Wald begibt, einem der vier Geister Untertan wird. Sie geriet an die Nixe Naîas, die in einem See im Walde haust. Dorthinein zwang sie deine Frau, doch jene tat etwas, was noch kein Mensch geschafft. Sie entkam der Nixe, welche die Stelle mit schärfstem Auge bewacht, an dem der Bach dem See entspringt. Sie schlüpfte an ihr vorbei und schwamm bis zur Grenze. Dort stieg sie aus dem Wasser und überquerte die Grenze. Sie brachte dir etwas, dass sie lange unter ihrem Herzen getragen. Doch sie ward gefangen und ist nun wieder in dem See, strenger bewacht, als je zuvor.“ – „Wie? Alte, sprich, was soll ich tun?“ – „Wenn die Zeit reif ist, musst du sie befreien, sonst ist sie des Todes. Doch vorher hat sie dir eine Aufgabe anvertraut. Als sie sie an jenem Tage von dir gegangen, war sie in freudiger Erwartung.“ Mit einem lauten Schrei, flog die große Eule, welche sich in den Baum gesetzt hatte, davon. Der Müller blickte erschrocken durch den lauten Schrei hinauf. Als er den Blick wieder senkte, waren die Alte und das Feuer verschwunden. Vor ihm lag ein See. Dampf stieg von dem silbernen Wasser auf und der Müller erkannte an der Farbe, dass aus diesem See eben jener Bach entspringen musste, der sein Mühlrad in Gang hielt. Ihm war, als sähe er im Wasser einen großen Schatten seine Kreise ziehen. Der Schnee fiel nun stärker, als er es zuvor an dem Feuer getan. Ein Platschen im Wasser direkt vor ihm ließ ihn den Blick von dem kreisenden Schatten abwenden und dem Geräusch zuwenden. Er erblickte Viora im Wasser. Ihre Augen leuchteten in hellem Grün und ihre Haare schwebten sanft in den Wellen. Doch ihre Haut war blass, blasser als sie es früher gewesen. „Viora!“ rief der Müller und wollte sie aus dem Wasser ziehen. Doch er konnte sich nicht bewegen. Weder seine Beine, noch seine Arme wollten ihrem Meister gehorchen und so blieb ihm nichts, als verzweifelt zu rufen. Wie er so dastand und rief, gewahrte er die Eule, die wieder hoch oben auf einem Baume Platz genommen und ihn beobachtete. „Euer Exzellenz, König Kauz, helft mir! Gebt mir meine Viora wieder.“ Schrie er verzweifelt aus. In der Ferne schien ein Kind zu schreien. Der Schatten, welcher bisher seine Kreise langsam gezogen, bewegte sich auf einmal in hoher Geschwindigkeit auf Viora zu. Der Müller schrie nun lauter. Da spürte er, wie er vornüberkippte. Vioras Gesicht kam ihm immer näher und mit einem lauten Platsch, lag er im Wasser.
Mit einem Rumps landete der Müller auf dem Boden vor seinem Bette. Die Sonne schien durch das kleine Fenster hinein und die Vögel zwitscherten in gewohnter Weise. Verwirrt betrachtete der Müller seine Hände und vergewisserte sich, dass sie nicht nass waren. Er betastete sein Gesicht und blickte stürmisch um sich, als könne er es nicht glauben, tatsächlich in seiner Stube zu sein. „Wie…was? Viora!“ stammelte er. „Es war alles nur ein Traum.“ Schnell fasste er sich an die Stirn. „Ich muss mir gestern einen Sonnenstich geholt haben. Hexen, Uhus und Wassergeister, ich werd‘ ja toll! Meine Viora ist tot und kommt nie mehr zu mir zurück. Ihr blaues Kleidchen fand ich am Waldesrand ganz blutbenetzt. Sie ist sicher das Opfer gemeiner Wölfe geworden. Ach was gäbe ich drum, wenn’s stimmen würde. Wenn sie noch lebte und ich nur meine Angst überwinden müsste. Doch, was mache ich mir Hoffnung? Es ist nicht so und wird niemals so sein. Wer an Wunder glaubt, der macht sich ja doch nur selbst was vor.“ Diese Worte sprechend, stand er langsam auf und wickelte sich aus seinem Nachttuch. Er bekleidete sich und ging hinaus um Holz zu holen. Als er mit diesem wieder zurückkam, hörte er ein Geräusch. Es war das Lachen eines kleinen Kindes. Der Müller rieb sich die noch müden Augen, denn wieder war es ihm, dass er träume. Am Ufer des Bachs, nicht fern vom Mühlrad lag ein Kind. Er ging langsam auf das Geschöpf zu und betrachtete es mit ungläubigem Blick. Es war in feine Windeln gewickelt und hatte blondes Haar. Die Augen schimmerten in einem beinahe gelblichen Licht. „Ich muss wahnsinnig sein!“ Doch der Wahnsinnige erkennt sich selbst als solchen nicht. „Oder soll es etwa Wahrheit sein, dass meine totgeglaubte Frau am Leben und seit neun Monaten die Gefangene einer Nixe im Walde? Soll es etwa Wahrheit sein, dass se. Königl. Exzellenz, der geflügelte alte Kauz mit dem Fürsten Melus von der Wiese einen Pakt beschloss, welcher den Geistern des Waldes den Zutritt in unsere Welt versagt? Und soll es etwa Wahrheit sein, dass dieses Kinde mein Blut in seinen Adern trägt?“ – „Wahr ist lediglich, was du glaubst.“ Sprach das Kind in einem engelsgleichen Ton. Der Müller fuhr erschrocken zusammen. „Wie…wie vermagst du zu sprechen?“ – „Mit meinem Munde, wie du.“ - „Aber…aber das ist unmöglich.“ – „Ist es nicht; siehe, ich liege hier leibhaftig vor dir.“ – „Und du bist mein Kind?“ – „Ja, ich soll dich von der Mutter fein grüßen. Sie bedauert, dass sie nicht länger bleiben konnt‘, doch du fielst in einen starken Traum, weswegen sie dich reingetragen.“ – „Meine Viora war hier! Und sie brachte mir unser kleines Kind. Doch sage mir nun, wie kann es sein, dass du sprichst wie ein ausgewachs‘ner Mensch?“ – „Ich bin kein normales Kind. In meinen Adern fließt zwar auch das Blut der Menschen, doch auch der Geist des Waldes lebt in mir.“ – „Wie ist das möglich? Hat sie dich mit einem andern…“ – „Nein. Doch du weißt nicht, dass die Mutter deiner Frau ebenjene Nixe ist, die sie nun im See gefangen hält.“ – „Die Nixe! Doch warum brachte sie dich zu mir?“ – „Um zu verhindern, dass der Nixe giftige Klauen sich um mich legen.“ – „Viora, ich muss sie retten.“ – „Doch nicht jetzt! Gehst du fort, so bedeutet das deinen und meinen Tod. Lass Zeit verstreichen, deine Frau wird wohl gefangen gehalten, doch schwebt sie nicht in großer Gefahr.“ – „Ich würde mir’s nie verzeihen; neun Monate schon ist sie fort, hätt ich gewusst sie wär am Leben…“ – „Recht war’s, dass du es nicht gewusst. Unser aller Zukunft wär‘ gefährdet worden. Doch nun bring mich hinein, ich friere.“ So tat es der Müller und von tiefstem Herzen freute er sich.
Als der Abend hereinbrach, saß der Müller, das Kind wiegend, in seinem Sessel. Er hatte ihm einen Brei aus Mehl und Wasser zubereitet, doch das Kind wollte diesen nicht essen. „Ich kann das nicht essen. Du vergisst, dass ich ein Sprössling des Waldes bin.“ Sprach es in ruhigem Ton. „Außer Beeren hab‘ ich nichts.“ Antwortete der Müller. „Hast du Beeren aus dem Busch, die an dem Waldrand wachsen? Die mit der gelben Farbe.“ – „Nein, es gibt viele Beeren am Waldrand. Gelbe habe ich noch nicht gesehen.“ – „Köstlich schmecken sie und eine heilende Wirkung schreibt man ihnen zu.“ Nachdem das Kind diese Worte gesprochen hatte, lief der Müller hinaus, eine Kerze in der Hand haltend, um die Beeren, von denen das Kind gesprochen hatte, zu sammeln. Angst ergriff sein Herz, als er sich dem Waldrand näherte, doch der Gedanke an seine Frau war nun nicht mehr jener trübsinnige, den er noch am gestrigen Tage gehabt hatte. Er wusste, dass er eines Tages wieder mit ihr vereint sein würde. Am Waldrand lief er nun zu jener Stelle, an der er die gelben Beeren vermutete, doch er fand sie nicht. Alle Beeren schienen im Schein seiner Kerze rot zu sein. Aus Wut trat er gegen einen Stamm, der neben dem Busch lag, wobei ihm die Kerze hinunterfiel und ausging. Nun schien lediglich der Mond auf die Stelle, doch aus den roten Beeren waren nun leuchtend gelbe geworden. Erfreut fing der Müller an, die Beeren zu pflücken und in ein Tuch zu legen. Da krähte ein Rabe, der über ihm im Baum saß. Ein anderer kam geflogen und setzte sich dazu. Dem Müller fiel nun ein, was die Alte in seinem Traum gesagt hatte. „Wir schauen zurück.“ Ein Gefühl der Beklommenheit überkam ihn nun und er machte schneller. Als er fertig war, sah er auf und in den Wald hinein. Da stand die Alte, etwa drei Meter von ihm entfernt im Unterholz. Erschrocken stürzte er nach hinten und hatte Mühe, das Tuch mit den Beeren festzuhalten. Als er sich wieder aufgerappelt hatte und in den Wald hineinsah, war die Alte verschwunden. „Vielleicht hab ich’s mir auch nur eingebildet.“ Sagte er zu sich. Die Raben gaben nun ein ungeheures Krähkonzert von sich, sodass dem Müller wieder unwohl wurde. Eilig lief er mit den Beeren zurück, sich nicht umwendend.
Da lag das Kind auf einer kleinen Matte aus Heu, welche der Müller fix zusammengetragen hatte, und naschte von jenen gelben Beeren. „Möchtest du sie nicht kosten?“ fragte das Kind. „Ich weiß nicht recht, ob sie mir bekommen.“ Gab der Müller zur Antwort. – „Freilich werden sie das. Da, nimm eine Handvoll.“ Der Müller kostete vorsichtig von den Beeren, erst eine, dann zwei. Sie hatten einen sauren Geschmack, doch der war nicht unangenehm. Je länger er sie im Mund behielt, desto süßer wurden sie. So saßen die beiden und aßen von den Beeren, während die Welt draußen in tiefe Nacht gehüllt war. „Niemals hätte ich das für möglich gehalten, dass ich eines Tages mit meinem kleinen…doch halt! Ich habe dir ja noch gar keinen Namen gegeben. Oder hast du gar schon einen?“ – „Mein Name ist Ibuc.“ – „Noch niemals habe ich einen solchen Namen gehört! Doch er gefällt mir, ich werde dich also Ibuc nennen.“ – „Es ist spät, Vater. Lösche die Lichter, damit ich einen langen Schlaf tun kann.“ Noch ehe er ausgesprochen, hatte der Vater die Kerze auf dem Tische ausgeblasen und eine kleine Decke über das Kind gelegt. Anschließend legte er sich selbst zu Bett und noch während er im Begriff war, einzuschlafen, spukte durch seine Gedanken das Bild von Viora. Er dachte an die Dinge, die die Alte ihm gesagt hatte und dann dachte er bei sich, dass er bald in den Wald gehen würde, um seine Viora der grässlichen Nixe zu entreißen. Viora gehörte in seine Welt, nicht in die Welt des Waldes. Mit diesen Worten im Ohr, schlief er ein.
Der Müller stand am Morgen zeitig auf, um Feuerholz zu schlagen. Die warmen Tage nahmen ab und er wollte für den Winter gerüstet sein. Ibuc schien noch zu schlafen, darum gab der Müller sein bestes, kein Geräusch beim Herausgehen zu verursachen. Rums! Ein Stück Holz ward entzweigeschlagen. Während er so das Holz spaltete, gewahrte er drei Raben, die auf seiner Mühle saßen. Sie schienen ihn anzustarren und auf einmal, musste er wieder an die Alte denken, die er gestern im Wald gesehen zu haben glaubte. „Eine merkwürdige Geschichte ist das!“ hörte er sich laut sagen. Auf eine sonderbare Art fühlte er sich heute lebendiger als sonst. War es das Kind, das ihm nun eine Erfüllung brachte, die er nicht mehr verspürt hatte, seit seine Frau in den Wald gegangen war, oder die besonders kräftige Sonne, die ihm ins Gesicht schien, dass sich darin die Schweißperlen spiegelten. Diese Lebendigkeit beflügelte ihn so sehr, dass bald darauf alles Holz gespalten war und der Müller zufrieden wieder in die Mühle ging. Als er das Haus betrat, hörte er das Kind wie ein gewöhnliches Brabbeln. Neugierig lief er zum ihm und besah es. Zu seinem Erstaunen blickte er in zwei große grüne Augen. Das Kind lächelte ihn an. Ganz verwirrt taumelte der Müller rücklings und stolperte schon bald darauf über den Korb mit Holz. Das Kind fing an herzhaft zu lachen und hätte der Müller nicht schwören können, es wahrlich gehört zu haben, er hätte an sich selbst gezweifelt. Die Stimme des Kindes war viel höher als jene, die er am gestrigen Tage vernommen. „Mein Schädel.“ Entfuhr es dem Müller, der sich mit beiden Händen den schmerzenden Kopf hielt. Mit aller Mühe zerrte er sich auf sein Bett und schon bald darauf versanken seine Gedanken in tiefem Nebel. Vor seinem geistigen Auge zogen Bilder vergangener Tage vorbei. Er sah das Bild von Viora, der Wanderer, welches es gemalt. Er blickte von seiner Mühle aus zum Wald und konnte Viora sehen, wie sie schweren Schrittes im Dunkel des Waldes verschwand. Da war sie verschwunden. Eine Eule kreischte auf und flog in seinen Gedanken auf und ab, über einem See zog sie ihre Kreise. Es war jener See, den er schon einmal geschaut hatte. Sein Blick zog weiter an dem See vorbei. Da erblickte er mitten im Wald ein kleines Geschöpf, welches ihm den Rücken zugekehrt hatte. Es musste ein kleiner Mann sein, der Statur nach, doch nur etwa zwei Ellen hoch. Gleich Nebel drang seine Stimme über den Waldboden zu ihm herüber, erst leise, dann immer lauter hörte er das Männchen singen: „Ein Gnom, der kriecht im Forste…“ Da hörte er ein Kind schreien. Blitzschnell drehte sich das Männchen in seine Richtung. Der Müller fuhr vor er Hässlichkeit des Männchens zusammen. Feuerrote Haare hingen in wilden Zausen an seinen Schulten herunter. Auf der klumpigen Nase hatte es eine Warze, die beinahe wie ein Auge aussah, und die Finger hatten lange, dreckige Krallen. „Ein Kind, beim Klabautermann!“ flüsterte es und sprang mit einem großen Satz auf den Müller zu. Dieser taumelte rückwärts und fiel auf einmal in eine Grube. Wieder wurde es Dunkel um ihn. Es musste so eine Art Höhle sein. Dort lag etwas auf dem Boden und schrie. „Ibuc“ rief der Müller. „Mein Kind. Was macht es hier an diesem furchtbaren Ort?“ Er näherte sich dem Kind, dessen Haut ganz in weiß glänzte. Seine Augen funkelten in tiefstem Grün. Da riss es ihn fort, er versuchte zu schreien, doch seine Stimme erstarb in der Nacht. Ein Licht leuchtete auf in der Dunkelheit und der Müller musste an die Alte und ihren Feuerschein denken. Das Licht kam näher und schon bald erkannte der Müller, dass es eine Laterne war. Ein schweres Schneegestöber begann sich um ihn auszubreiten. Er stand neben dem kleinen Teich, in dem er im Sommer so oft gebadet hatte. Doch nun war er zugefroren. Auf der Eisdecke saß eine große, schwarzrote Kröte. Obwohl es schneite, war ihm ganz warm, er schwitzte gar. „Was ist das hier?“ fragte der Müller, doch die Kröte starte ihn nur an. In den Tiefen ihrer Augen schien eine lodernde Flamme aufzusteigen und den herabrieselnden Schnee zu verzehren. Der Müller drehte sich um, um nach dem Wald zu sehen, doch er fand ihn nicht. Da hörte er es flüstern: „Fürchte den Ibuc! Fürchte die Nacht! Viora ist verloren. Das Kind der Welt gestohlen.“ Schnell drehte sich der Müller um, doch die Kröte war verschwunden. Anstelle des Teichs war nun die Mühle vor ihm. Ein Licht schien aus dem kleinen Fenster. Der Müller ging hinan und blickte hindurch. Da sah er Viora sitzen, während der Wanderer sie malte. Er selbst saß auf dem Sessel und hielt einen Krug Wein in der Hand. Der Maler war gerade dabei, die Augen in hellem Grün auszumalen, als er innehielt und sich nach dem Fenster umdrehte. Dem Müller wurde ganz warm und auf einmal brach die gesamte Kammer in Flammen aus. „Nicht!“ schrie er. Die Hitze brannte ihm beinahe das Gesicht vom Kopf, da trat er einen Schritt zurück und fiel. Nun fühlte er um sich seine Decke und… Rumps! Da lag er wieder auf dem Boden, eingehüllt in seine Decke. „Was zum…Habe ich wieder geträumt?“ schrie er. – „Ruhig Blut.“ Hörte er das Kind sprechen. „Du wirst mir nicht gleich am Morgen so einen Radau veranstalten wollen. Der Müller stand auf und ging zum Tische, auf dem er am Abend das Strohlager für das Kinde hergerichtet hatte. Er blickte es an und sah das Kind, welches er am vorigen Tage am Bachufer gefunden hatte. „Ich werde wahnsinnig.“ Flüsterte er. – „Wie meinen?“ fragte Ibuc. Doch der Müller gab keine Antwort. „Ich will in die Welt hinaus!“ sprach Ibuc. „Wir wollen wandern gehen.“
II.
Etwa zwei Stunden Weges von dem Wald entfernt liegt das Städtchen A. Eine alte Landstraße führt von dort zwei Meilen an Feldern und Wiesen vorbei, an Bauernhöfen und Gehöften, bevor eine kleine Anhöhe den Wanderer herausfordert. Eine Meile geht es Bergauf und daran anschließend folgt ein Marsch vorbei an merkwürdig ausschauenden Felsformationen. Passiert man zwei Felsbrocken, die Säulen nicht unähnlich sind und an denen sich das Efeu entlanghangelt, dann liegt vor einem ein grünes Tal. Dort kann man jenen Teich entdecken, in den der Bach mündet, von dem du – lieber Leser!- nun schon so viel vernommen. Die Mühle fällt dem Wanderer ins Auge, ehe sich sein Blick dem bedrohlichen Wald zuwendet. Der Landweg aber führt geradewegs hinein ins Gras und verschwindet dort. Gehen wir aber gedanklich zurück ins Dorf. Zur Struktur verzeihe mir nur was Weniges zu sagen, da dieses wie alle übrigen Dörfer ringsum keine große Besonderheit darstellte. Eine Mauer umzog das Dorf und an dem südlichen Tore kreuzten sich drei Wege. Warum ich nun dennoch gerade auf dieses Dorf zu sprechen komme, das will ich dir darlegen – lieber Leser!. Das Städtchen A. besaß als einziges eine Verbindung zu jenem Walde. Allerlei Dinge erzählten sich die Menschen darum über den Wald und die Mühle. Wär‘ es nicht die einzige Mühle ringsum gewesen, die Bauern hätten ihr Getreide dort kaum zum Malen gegeben, obgleich sie die Arbeit des Müllers äußerst schätzten. Der Wald war ihnen nicht geheuer. Die Dorfbewohner waren noch misstrauischer, hatten sie ja nichts mit dem Müller zu tun. Etwas skeptisch beäugten sie ihr Brot, doch da bislang noch keinem ein Stück im Halse stecken geblieben, war es ihnen gleich, woher das Mehl dafür kam. Ebenso misstrauisch waren die Dorfbewohner gegenüber Fremdlingen, besonders, wenn sie aus fernen Gegenden zu kommen schienen. Es begab sich aber, dass eines Abends ein kräftiger Sturm losbrach. Der Leser rät richtig, wenn er annimmt, dass es sich hierbei um eben jenes Gewitter handele, dass den Müller in seine Stube zwang. Wir sind also vier Tage in die Vergangenheit gereist. Unter Blitz und Donner erschien ein Fremder in der Stadt. Sein Aussehen verriet, dass er besseren Standes war. Der feuerrote Talar, den er trug, ließ ihn besonders exotisch erscheinen und der spitze Hut verlieh ihm etwas Zauberhaftes. Im Gesicht trug er einen langen weißen Bart, der beinahe bis zu seinen Knien reichte. Seine Nase war lang und schief und auf den spindeldürren Beinen schien er sich kaum halten zu können. Einige Köpfe wurden trotz des starken Regens aus dem Fenster gestreckt und begafften die seltsame Figur, die die Gasse hinabging, als ob überhaupt nichts wäre. In der Mitte des Dorfes, gleich neben dem Rathaus, welches mehr wie eine umfunktionierte Scheune herschaute, war das Gasthaus zum badenden Bieber. Kaum war der Fremde dort angekommen, war er auch schon in der Türe verschwunden. Noch einige Minuten blieben die herausgestreckten Köpfe im Regen, bevor sie dann das Fenster schlossen und die Straßen wieder so leer waren, wie sie es für gewöhnlich waren.
Dichter Nebel, aus Tabakspfeifen herrührend, trübte die Sicht eines jeden, der das Gasthaus betrat. Obwohl das Dorf nicht groß war, füllte sich die Spelunke beinahe jeden Tag bis auf den letzten Platz. Nur die Zimmer waren kaum besetzt, was den dicken Wirt jedes Jahr in arge Bedrängnis brachte. Umso breiter war sein Grinsen, als er dem Fremden sein Etablissement betreten sah. „Herzlich Willkommen, mein Herr! Wie kann ich dienen? Hatten sie eine gute Anreise? Ja aber setzen sie sich doch erst einmal. Ein Glas Wein des Hauses gefällig? Wie kann ich dienen?“ So polterte der Wirt drauf los und flog beinahe über einen kleinen Schemel, der vor der Theke stand. Der Fremde murmelte etwas in seinen Bart hinein, welches einem „rechten Dank“ sehr nahe kam, und setzte sich an einen Tisch etwas weiter abseits. Der dicke Wirt kam sogleich mit einem Glas Wein in der Hand gesprungen und stellte es, etwa die Hälfte desselben über den Tisch verschüttend, vor den Fremden. „Rechten Dank!“ erwiderte dieser, den Hut vom Kopf ziehend und einen blanken Kopf entblößend. „Wir haben hier nicht oft Reisende, woher kommt ihr?“ fragte der dicke Wirt mit einem neugierigen Blick. „Ich komme aus K., dort bin ich Professor an der hiesigen Universität.“ – „Ein Professor!“ sagte der dicke Wirt, während er ein skeptisches Gesicht machte. „Ihr seht mir mehr wie ein wandernder Magicus aus.“ – „Ich bin Professor Zizius, falls ihr von dem Namen schon einmal gehört habt. Nachfahre des berühmten Professors Ziziborus, falls ihr eher von eben jenem gehört haben solltet.“ – „Ach, der Professor.“ Erwiderte der dicke Wirt etwas beschämt, dass er den hohen Gast nicht erkannt hatte, obgleich er von beiden noch niemals ein Wort gehört. „Was treibt euch hier nach A.?“ fragte er dann, um von seiner Unwissenheit abzulenken. „Meine Studien haben mich bewogen, einmal nahe des Waldes zu gehen, von dem ich allerlei Ungutes gehört. Ich bin Professor der Phantasmagorie, wie ihr sicher wisst, und auf der Spur eines Kauzes, dem ich durch zahlreiche Bücher und Geschichten gefolgt bin und dessen Spur mich nunmehr hier zu dem Walde führte.“ Der dicke Wirt trat verblüfft einen Schritt zurück. „Doch nun hat mich dieses vermaledeite Unwetter dazu genötigt, meine Reise zu unterbrechen.“ – „Aha…nun denn…schönen Tag!“ stammelte der dicke Wirt, sich immer weiter rückwärts bewegend, bis er wieder beinahe über den Schemel flog. Das musste ein sonderbarer Kerl sein, nahe dem Wahnsinn, wenn nicht gar toll. Doch seine volle Geldkassette stimmte den dicken Wirt milde und so kam es, dass der berühmte Professor Zizius im Gasthaus zum badenden Bieber ein Quartier fand.
Nun, da der Leser im Bilde über den Professor Zizius ist, können wir getrost vier Tage in die Zukunft hüpfen und finden uns an den zwei Säulenfelsen wieder, die eingangs dieses Kapitels erwähnt wurden. Der Müller, eingehüllt in einen langen Mantel, Ibuc in seinen Armen haltend, lief gerade an den Felsen vorbei, als Ibuc sagte: „Ein artiger Weg, wer mag ihn wohl angelegt haben?“ – „Das ist lange her.“ Erwiderte der Müller. Er selbst war erst einige Male hier entlanggelaufen. Zuletzt als Knabe, als er für den Vater etwas aus dem Dorfe hatte besorgen sollen. Er hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt und die Einsamkeit hatte sich an ihn gewöhnt, deshalb kam er nie auf die Idee, in das Dorf zu gehen. Er mochte die Dorfbewohner nicht sonderlich, sie schätzen die Natur nicht so wie er und da es ihm generell schwerfiel, auf die Menschen zuzugehen, reizte ihn der Gedanke, in ein Dorf voller Menschen zu gehen, nicht wirklich. Doch Ibuc hatte darauf bestanden, einmal das Dorf zu sehen. „Ich will mehr Menschen sehen, sie studieren.“ Hatte er gesagt und der Müller konnte ihm diesen Wunsch nicht abschlagen. So liefen sie an den Felsformationen vorbei, die Ibuc ganz begeistert betrachtete, und den Berg hinab. Die Felder, Wiesen vor sich. Die Sonne brannte ungewöhnlich an diesem warmen Herbsttage, sodass dem Müller schon bald die Schweißperlen auf der Stirn standen. Als Ibuc die ersten Bauernhöfe erblickte, sprach er aufgeregt zu seinem Vater: „Vater, ich bin ein Kind des Waldes und so sehr ich begehre, die Menschen zu sehen, so fürchte ich mich doch vor ihnen und sie misstrauen mir.“ – „Was also sollen wir tun?“ – „Verstecke mich in deinem Mantel. Durch die beiden Knopflöcher will ich hindurchschauen.“ So also band der Müller Ibuc um seinen Bauch und schloss den Mantel, sodass durch die zwei Knopflöcher kaum mehr als ein kleines gelbes Funkeln zu erkennen war. Einige Bauern waren auf dem Feld zu Gange und nahmen kaum Notiz von dem Wanderer. Ein paar jedoch unterbrachen ihre Arbeit und kamen ganz erstaunt in Richtung des Müllers. „Ihr seid gar des Müllers Sohn?“ fragte ein älterer Bauer, der auf seine Sense gestützt am Wegesrand stand. „Ja, mein Herr.“ Antwortete der Müller. „Kanntet ihr meinen Herrn Vater?“ – „Ja, wie ihr war er, scheu wie ein Luchs. Doch nun kommt ihr wieder.“ Der Müller nickte ihm zum Abschied einmal zu und ging strammen Schrittes fort. Als sie eine kleine Strecke gegangen waren, sagte Ibuc aus dem Mantel heraus: „Ein netter Mann. Sind alle Menschen so nett?“ – „Nein, leider nicht.“ Sagte der Müller mit einer betrübten Stimme. Bald erreichten sie die Tore des Dorfes. Ein Mann saß schlafend auf einem Schemel neben der geöffneten Türe. Der Müller ging mit Ibuc gerade an ihm vorbei. Auf den Straßen war das gewöhnliche Treiben, Hausierer zogen von einer Tür zur nächsten und boten ihre Ware feil; ein Ochsenkarren zog einen Wagen mit Fellen durch die Straßen und geschäftige Herren, denen nicht anzusehen war, was sie taten oder wohin sie gingen, eilten an den übrigen Gestalten vorbei. „Oh Vater, so viele Menschen!“ raunte Ibuc aus dem Mantel. „Ja mein Kind, doch sag mir, wohin sollen wir gehen?“ – „Nirgends ist der Mensch mehr Mensch als in einer Schenke. Dort drüben ist ein Gasthof, gehe dort hinein.“ Und so betraten die beiden den Gasthof zum badenden Bieber.
Obwohl erst Mittag, so war doch ein reger Betrieb in der Schenke. Als der Müller mit Ibuc im Mantel den Raum betrat, bot sich ihnen ein sonderbares Bild. Die Tische waren allesamt leer, die Gäste saßen mit ihren Stühlen zur Theke gerückt und blickten auf jenen merkwürdigen Fremdling im roten Talar, den der geneigte Leser bereits als den ehrenwerten Professor Zizius kennengelernt hat und der sich nun auf den kleinen Schemel gestellt hatte, heftig referierend, während er mit den Armen wild gestikulierte, sodass er beinahe von dem Schemel zu fallen schien. Der dicke Wirt drückte sich indes an den Sitzenden vorbei, einige Krüge Bier und Wein in den Händen haltend, wobei er den Sitzenden immer wieder große Mengen des Getränks auf den Schoß goss. „… wobei mir eben jene Nachtigall versicherte, sie sei die Prinzessin Nahmal aus dem fernen Lande __sien. ‚Errare humanum est‘ erwidere ich und steckte sie flugs in meine Tasche. Daheim angekommen legte ich ihr gleich einen silbernen Ring um den Hals, welcher an einer Kette befestigt war, sodass sie nicht davonfliegen konnte. Die ganze Nacht hindurch studierte ich alle Bücher, die ich über das __sische Königshaus auftreiben konnte und fand tatsächlich, dass sich vor beinahe 300 Jahren der König Welander in eine Nachtigall verliebt und diese zu seiner vierten Frau gemacht habe. Als ich am Morgen mit schläfrigen Augen die Nachtigall besah, so erschien vor mir das liebreizende Bild der Prinzessin Nahmal, die an der Kette mit dem silbernen Ring um den Hals auf der Stange saß, die ich ihr hingestellt hatte. ‚Nemo potest personam diu ferre, in naturam ficta cito suam recidunt‘ dachte ich bei mir und wie ich sie noch beschaue, begann sie ein so sanftes Liedchen zu singen, dass mir ganz schwach wurde. Diese Melodie singt sie seither jeden Morgen.“ Ein Raunen ging durch die Menge und in der hinteren Reihe rief einer: „Phantastisch!“ Der Müller setzte sich mit Ibuc an einen der freien Tische, den dicken Wirt zu sich winkend. Dieser kam, nachdem er einem Gast ein ganzes Glas Wein auf die Schuhe geschüttet, zu dem Müller gestolpert und mit einer höflichen doch plumpen Verbeugung fragte er ihn: „Gnä’dger Herr, was darf’s sein?“
„Nun, wir…ich wünsche…“ Da flüsterte Ibuc dem Müller aus dem Mantel zu: „Sieh nur die kleinen Schweißperlen auf der Stirn und die Art, wie sein linkes Augenlied zuckt. Er ist mit seinem kleinen Köpfchen ganz woanders.“ – „Still!“ – „Wie war das?“ fragte der dicke Wirt verwundert. „Ach nichts.“ Antwortete der Müller verlegen. „Bringt mir einen Krug Bier.“ – „Sofort, mein Herr.“ Da lief der dicke Wirt auch schon los, er drehte sich jedoch noch einmal herum und musterte den Müller ganz genau. Dann schüttelte er den Kopf und verschwand hinter der Theke. Der Müller seufzte sichtlich erleichtert, dass Ibuc nicht entdeckt worden war. Professor Zizius hatte nun feuriger angefangen zu reden und konnte sich nur mit Mühe auf dem Schemel halten. Die schwungvollen Bewegungen und die Kraft der Stimme zogen die Aufmerksamkeit des Müllers ganz auf sich. „Lasst mich euch eine fantastische Geschichte erzählen, deren Geheimnis das Ziel meiner jüngsten Studien ist und mich eben hier in dieses Dorf geführt hat. Viele mögen die Phantasmagorie für eine reine Scheinkunst halten, die mit Lug und Trug arbeitet. Doch hinter dem Schleier der für uns sichtbaren Welt verbirgt sich eine Welt, deren Größe wir nicht im Mindesten erahnen können. Wer könne wohl sagen, wo dem Träumenden die Grenzen gesetzt seien. Ist nicht die Grenzenlosigkeit eben das Kriterium des Traums? So las ich einst von dem alten Kauz, dem König des Waldes. Dieses Geschöpf faszinierte mich unheimlich; mit jeder Sache, die ich mehr über ihn herausfand, wurde mein Interesse gesteigert. Ich erhielt Kenntnis über die Welt der Geister, der Waldgeister und der Wiesengeister. Der alte Kauz beanspruchte vor vielen Jahren einmal den verwunschenen Wald zu seinem Herrschaftsgebiet. Er scharrte drei weitere Geister um sich, die das Licht verachteten und die Dunkelheit liebten. Jedem Menschen, der ihr Herrschaftsgebiet betritt, blüht ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Er wird einem der vier Geister untertan, wobei er gänzlich dessen Willen unterliegt. Ich las beispielsweise, dass der Gnom Winkebein aus den Menschen, die an ihn gehen (nur die Hässlichsten und Missgeschaffendsten nimmt er), Trolle zaubert, die für ihn Tunnel graben und allerlei derbe Späße mit den Menschen treiben, manchmal auch Dinge von den Menschen stehlen, die er gerne besitzen möchte. Das erheitert ihn. Die Nixe Naîas haust in einem See im Walde und ihre Menschen verfüttert sie an ihre Fische, wobei sie nur die schönsten Jungfrauen nimmt. Und der alte Kauz verwandelt seine Menschen in kleine Bäume, die er neben seine alten Eiche aufstellt, das ist sein Hort. Er hat vor vielen Jahren einen Ritter aus dem Grabe auferstehen lassen, der reitet jetzt als Unhold durch den Wald und sammelt die Menschen ein, die sich hineinverirren.“ – „Das wissen wir doch alles, sind alles alte Kamellen, die uns schon unsere Großeltern erzählt haben!“ schrie ein beleibter Mann aus der Menge der Herumsitzenden. „Alte Kamellen, wie?“ antwortete Professor Zizius schnippisch. „Doch sagt, wie lange ist es her, dass sich jemand von euch in den Wald getraut hat? Wie viele Menschen sind in den Wald gegangen und kamen nicht wieder?“ – „Die hat der Wolf geholt. Voller Wölfe sind die Wälder!“ Schrie ein anderer. „Es stimmt, was er sagt. Meinen Vater hat sich der reitende Unhold geholt, jetzt steht er vor der alten Eiche des alten Kauzes, in garstiges Gehölz verwandelt. So hat’s mir ein Rabe erzählt.“ Unterbrach ihn ein junger Mann, der etwas weiter weg saß. Nun brach ein tobender Lärm los und alles schrie sich gegenseitig an. Der Müller hatte dem Streit gelauscht und war nachdenklich geworden, da er sich an seine Träume erinnerte und nun wieder an Viora denken musste, die im See gefangen gehalten wurde. „Mir gefällt der Kerl nicht!“ flüsterte Ibuc dem Müller im Mantel zu, doch dieser schien, keine Notiz davon genommen zu haben. Gerade so in seinen Gedanken versunken, erschrak er ein wenig, als der dicke Wirt ihm seinen Krug mit einem lauten Knall vor die Nase stellte. „Schönen Dank!“ brachte der Müller heraus, sich kurz besinnend, bevor er sich räusperte und den Wirt fragte: „Herr Wirt, sagt, wer dieser sonderbare Mann, der hier eine so feurige Rede hält, ist?“ Der Wirt antwortete: „Ein Professor aus K., er sagte, er wolle zu dem verwunschenen Walde. Murmelte etwas von einem alten Kauz, ihr habt’s ja gerade vermutlich gehört. Ich glaube, der ist nicht ganz recht beisammen aber die Kundschaft holt er mir ins Haus. Ein Glück, dass ihn das Unwetter vor vier Tagen zum Einkehren gezwungen hat. Eigentlich wollte er am nächsten Tag weiter, doch irgendetwas muss ihn bewogen haben, hier zu bleiben und seitdem verbringt er beinahe den ganzen Tag auf dem Schemel da und hält seine Reden, wenn er nicht geheimnisvoll in den Gassen herumschleicht und die Leute nach irgendeiner Feuerkröte fragt. Ha, fragt mich, wie ich das herausgefunden habe! Meine Nichte zweiten Grades kennt den Schmied aus alten Zeiten…“ – „Vielen Dank!“ unterbrach ihn der Müller. „Wisst ihr, wann er aufbrechen wird?“ – „Nein, das sagte er nicht.“ Gerade als der dicke Wirt sich aufmachen wollte, wieder in Richtung Tresen zu verschwinden, rief ein alter Mann aus der Menge: „Heda, das ist der Sohn des Müllers, der bei der Mühle am Waldrand haust. Ihm brachte ich früher oft mein Korn. Vielleicht kann er uns erzählen, was es mit dem Wald wirklich auf sich hat.“ Alle Blicke waren nun auf den Müller gerichtet, sogar Professor Zizius hielt seinen starren Blick auf ihn gerichtet. Alles was der Müller nun vernahm, waren Ibucs Worte, aus dem Mantel geflüstert: „Lauf!“ Da wurde es schwarz um ihn. Als er die Augen erneut aufschlug, stand er auf der Landstraße, die von der Mühle zur Dorfe führt. Ihm war schummrig und sein Blick trüb, doch erkannte er die Säulenartigen Steine, die sich links und rechts von ihm auftürmten. Er fühlte etwas Schweres in seinem Mantel, weshalb er in deren Tasche griff. Heraus zog er eine Schatulle mit üppigen Verzierungen. Als er selbige öffnete, fand er darinnen eine Menge Goldstücke. „Wo habe ich das nur her?“ fragte er sich und legte die Schatulle auf dem Boden neben sich ab. Da fiel ihm auf einmal Ibuc ein. „Ibuc!“ flüstere er in den Mantel, doch als er selbigen aufgeknüpft hatte und hineinsah, erkannte er, dass sich kein Ibuc darin befand. „Ibuc!“ rief er laut den Felsenwänden entgegen. Auf einmal überkam ihn Schwindel und er fiel auf den Boden. Sich mühsam wieder aufrappelnd, hielt er sich mit der Hand den Kopf und versuchte, sich an etwas zu erinnern. Ihm kamen Fetzen der vergangenen Ereignisse in den Kopf, dunkle Bilder, wobei keines einen direkten Aufschluss über den Verbleib von Ibuc oder das Rätsel der Schatulle zuließ. Er entschloss sich, das Kästchen, welches recht schwer war, hier am Wegesrand hinter einigen Steinen zu verstecken, bis er mehr darüber in Erfahrung gebracht hatte. Danach wollte er zurück ins Dorf gehen und schauen ob er Ibuc dort finden würde. Die Sonne stand tief und es würde bald dunkel werden, darum eilte sich der Müller, ins Dorf zu kommen.
Als er das Dorf erreicht hatte, war die Nacht bereits hereingebrochen und da der Müller sich an die ungewollte Aufmerksamkeit in der Schenke erinnerte, entschloss er sich, sich geheim zu halten und die Kapuze aufzuziehen, welche sich an seinem dunklen Mantel befand. So schlich er durch die Gassen und versuchte sich krampfhaft die Ereignisse nach dem Verlassen der Schenke zu erinnern. Vor seinem Auge erschien das Bild des Professors, der ihn mit solch starrem Blick angeschaut hatte. Er erinnerte sich daran, dass er mit Ibuc in die Gassen geflüchtete war. Da kam ihm das Bild des Rathauses wieder in den Sinn, dort hatte er sich mit Ibuc hinter einem der unteren Fenster versteckt. Er lief einige Meter an der inneren Stadtmauer entlang, bevor er dann rechts abbog, in eine breitere Gasse hinein. Dem Weg folgte er einige Schritte, bevor er auf der rechten Seite Stimmen vernahm. Geschwind versteckte er sich im Schatten einer kleinen Gasse zwischen zwei Häusern. Kurz darauf tauchten zwei Männer mit Degen in den Halftern auf. Nur Fetzen konnte er von ihrem Gespräch erhaschen, doch hörte er sie deutlich dies sagen: „Das gibt’s doch nicht, dass dem Bürgermeister die Stadtkasse unter der Nase weggeklaut wird und wir jetzt Sonderschichten schieben müssen, statt dem verrückten Quacksalber im badenden Bieber zuzuhören.“ Kaum waren sie vorbei, ließ sich der Müller auf den Boden sinken. „Was kam über mich?“ fragte er sich. Doch dann dachte er bei sich: „Vielleicht habe ich die Kasse ja auch dem Dieb entrissen und kann mich nur nicht mehr dran erinnern.“ Durch die zwei Wachen gewarnt, schlich er noch vorsichtiger durch die Gassen. An jeder Ecke hielt er inne und lauschte, wobei er versuchte, sich immer in der Nähe eines Schattens aufzuhalten. Ein Gefühl der Sicherheit überkam ihn jedes Mal, wenn er durch eine unbeleuchtete Gasse lief. Bald schon, konnte er das Rathaus erblicken. Er schlich sich unter das Fenster, an dem er Ibuc zuletzt gesehen zu haben glaubte. Er konnte keine Spur von einem Kind entdecken. Er war gerade im Begriff, wieder zur Schenke zurückzugehen, um dort nach Ibuc zu suchen, da vernahm er hinter sich eine Stimme. „He, Vater.“ – „Ibuc.“ Flüsterte der Müller, sich schnell umwendend. Doch er sah ihn nicht. „Wo bist du?“ – „Hier, im Heu.“ Der Müller erblickte auf der gegenüberliegenden Seite einen kleinen Haufen Heu im Hofe eines Hauses. Er ging vorsichtig in den Hof und fuhr mit den Händen in das Heu. Da zog er das Kind heraus und Freudentränen liefen ihm die Wange hinunter. „Ibuc! Du musst mir erzählen, was passiert ist. Weshalb bin ich ohne dich gegangen?“ – „Alles zu seiner Zeit.“ Sagte Ibuc. „Wir können nicht mehr ungesehen aus dem Dorf, vorhin sind zwei Wachen an das südliche Tor geschickt worden. Ich schlage vor, wir verstecken uns in der alten Scheune, die nah von hier ist.“ So geschah es und die beiden fanden sich schon bald auf dem Heuboden der Scheune wieder. „Also Ibuc, was ist passiert?“ – „Nun, nachdem die garstige Meute in der Wirtschaft uns heftig zugesetzt hatte, stürmtest du mit mir hinaus und in die nächste Gasse hinein. Doch der wilde Professor kam sogleich aus der Türe gehetzt und schrie: ‚Bringt mir das Kind, welches er unterm Mantel trägt, der Schuft!‘ Mit einer gespenstischen Schnelligkeit lief er hinter uns her und so blieb dir nichts Anderes übrig, als mich zu verstecken.“ – „Und wie kam ich an die Schatulle?“ – „Sie stand vor dem Fenster, sehr nachlässig, wie ich fand. Du nahmst sie aus Furcht, sollte mich jemand finden, sodass du mich im Zweifelsfalle auslösen kannst.“ – „Dann werde ich sie gleich am Morgen zurückbringen und mich entschuldigen.“ – „Nein, das darfst du nicht! Menschen können so nachtragend sein. Sie werden dich am nächsten Baum aufknüpfen und was mache ich dann ohne Vater?“ – „Nun gut. Dann lass uns jetzt ein wenig schlafen, mir brummt der Kopf.“ So schliefen beide ein.
Der Müller erwachte mit einem Male, da er ein seltsames Rumoren in seinen Gedärmen fühlte. Der Blick nach draußen verriet ihm, dass es zwar noch Nacht, doch nicht mehr lang bis zum Morgen war. Ibuc schien zu schlafen und da der Müller fürchtete, nicht mehr einschlafen zu können, ging er einige vorsichtige Schritte aus der Scheune heraus. Es hatte stark abgekühlt und von der Hitze am Vortag war nicht mehr viel übriggeblieben. Wolken verdeckten den Himmel und ein kalter Wind brachte den Müller zum Zittern. Sein Magen fühlte sich ganz flau an und bald schon erbrach er sich neben der Scheune. Aus Angst, jemand könne ihn gehört haben, saß er einige Minuten mucksmäuschenstill neben der Scheune und hielt die Augen starr in Richtung Straße gerichtet. Ihm war, als sähe er einen Schatten am Rand der Straße entlanghuschen. Etwas flatterte im Wind und der Müller meinte, einen schwachen, roten Schein gesehen zu haben. Die Schmerzen in seinem Magen waren beinahe unerträglich geworden. Er hielt sich mit beiden Händen den Bauch, doch musste schon bald eine Hand um seinen Mund legen, damit er nicht laut aufschreien konnte. So wand er sich vor der Scheune und war sich sicher, sterben zu müssen. Mit einem Schlag jedoch waren sie verschwunden und der Müller fühlte sich besser. Auch die Kopfschmerzen waren verschwunden und so nahm er einige tiefe Atemzüge. Merkwürdigerweise war ihm nur ein wenig schwindelig, was er jedoch kaum wahrnahm und auch nicht weiter beachtete, denn etwas Anderes hatte die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Aus der Gasse, die von rechts auf die Straße führte, drang ein schwacher Lichtschein und aus irgendeinem Grund, hatte er den unwiderstehlichen Drang, ihm zu folgen. Wie in Trance lief er über die Straße und bog in die Gasse ab, aus der das Licht kam. Im dritten Haus auf der linken Seite brannte Licht und so ging der Müller auf das Fenster zu, um hineinzusehen. Er sah eine artige Stube, ein kleines Feuer prasselte im Kamin und auf einem alten Lehnstuhl saß ein Greis. Dieser hustete schwer und konnte nur mit Mühe eine Tasse Tee, die vor ihm auf einem Tische stand, ergreifen. „Katharina!“ rief der alte Mann mit schwacher Stimme, worauf aus einem Nebenzimmer ein junges Mädchen kam. Sie deckte den Alten etwas zu und blieb mit einem traurigen, doch hoffnungsvollen Blick vor ihm stehen. „Katharina, das Holz ist beinahe aufgebraucht, sei so gut und hole einen Korb hinter dem Haus.“ – „Ja, Großvater.“ Etwas veränderte sich im Müller, als er die beiden beobachtet hatte. Obgleich sie ihm zunächst wie ein gewöhnliches Mädchen vorkam, so formte sie sich im Laufe der Zeit zum Bilde seiner Viora um. Aus den langen, glatten blonden Haaren wurden in seinen Augen die rotblonden Locken, nach denen sich der Müller so sehr sehnte. Aus den blauen Augen wurden die hellleuchtenden, grünen Augen, die bis in die tiefsten Gründe seiner Seele zu dringen schienen. Langsam schwebte sein Geist aus dem Körper, weit hinweg. Doch etwas blieb im Körper zurück, etwas, das bis dahin geschlafen hatte. Er war nun nicht mehr er selbst, sein Körper gehorchte etwas Anderem. Es war, als würde er schlafen und eine Seite in ihm erwachen, vor der er sich fürchtete. Mit bedächtigen Schritten, ging er am Haus entlang und bog in die seitliche Gasse ein. Sein Blick war geschärfter und er sah in der Dunkelheit beinahe wie bei Tage. Langsam schweiften seine Augen von Winkel zu Winkel und als er das Mädchen vor einem Stapel Holz erblickte, blieb er stehen. Mit leisen Sohlen näherte er sich ihr, bis er genau hinter ihr stand. Sein Atem drang wie die kühle Abendluft auf ihren Nacken und so gewahrte sie ihn zunächst nicht. Doch als der Mond sich zwischen den Wolken hervorkämpfte, fiel sein Schatten wie ein gespenstischer Fels auf den Boden vor dem Mädchen. Erschrocken fuhr sie herum und flüsterte: „Wer…wer seid ihr?“ – „Ich bin unendlich!“ hauchte das Raubtier, bereit zum Sprung auf sein Opfer. Er sah ihr Gesicht nicht; alles, was er sah, waren Schatten und die rotblonden Haare, die im Winde tanzten.
Der Müller öffnete die Augen und fand sich vor der Scheuer wieder. Die Sonne war gerade aufgegangen und ein Hahn krähte in der Ferne. Als der Müller an sich heruntersah, bemerkte er das Blut an seiner Hand. Erschrocken hielt er sich an der Türe der Scheune fest. Alles, woran er sich erinnern konnte, war die Stube mit dem Greise. „Was ist passiert?“ fragte er sich erneut.
III.
An diesem Morgen hing ein dichter Nebelschleier um das Dorf, gleich einer belagernden Armee stieß er immer wieder an die alten Mauern und versuchte wie ein Grabunhold über selbige zu kriechen. Es hatte stark abgekühlt und so staunten die Bewohner des Morgens nicht schlecht, als einzelne Schneeflocken vom Himmel fielen. Viele versammelten sich auf den Straßen oder schauten aus ihren Fenstern, um dem sonderbaren Spektakel beizuwohnen. „Die bösen Geister haben uns den Winter geschickt!“ rief eine alte Frau aus dem Fenster eines kleinen Häuschens. „Daran ist dieser komische Fremdling Schuld, der ist ein Zauberer sag‘ ich euch.“ Fluchte eine andre. „Was soll nur aus der Ernte werden?“ schluchzte wieder eine andere. Ein lauter Schrei durchfuhr die Stadt und alle Menschen horchten auf. Die Wache lief mit eiligen Schritten durch die engen Gassen, vorbei an den Menschen, die ihre Hälse aus den Fenstern reckten. Dabei kamen sie auch am Wirtshaus zum badenden Bieber vorbei. Der dicke Wirt stand auf der Türschwelle und beobachtete die Wachen, wie sie an ihm vorbeiliefen. Einen Moment sah er ihnen nach, doch dann begab er sich wieder in seine Schenke, wohlwissend, dass er alle Details noch früh genug von seinen Gästen erfahren würde. Gerade hatte er die Türe geschlossen, als diese wieder aufgestoßen wurde. Herein trat, gehüllt in den feuerroten Talar, der Professor Zizius. Seine lange Nase war rot und im Bart hingen noch einige Schneeflocken. „Und, Erfolg gehabt? Ihr ward lange fort.“ Sagte der dicke Wirt. Indem er seinen Hut und Talar an einen Haken nebst der Türe hing, antwortete der Professor: „Nein. Er ist mir entwischt. Die ganze Nacht habe ich nach ihm gesucht.“ – „Vielleicht ist er wieder in seine Mühle am Waldesrand zurückgekehrt, dorthin wolltet ihr doch schon lange aufbrechen.“ Sagte der dicke Wirt etwas zaghaft, denn er wollte nicht wirken, als ob er den merkwürdigen Professor loswerden wollte, obgleich er ihm langsam unheimlich geworden war. „Nein. Nein.“ Sprach der Professor, während er sich wild in der Stube herumdrehte, dann flüsterte er: „Er ist noch hier. Der gestohlene Schmuck, der Vorfall heute Morgen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er sich noch immer irgendwo im Dorf aufhält.“ – „Wieso konntet ihr ihn dann nicht finden? Besonders groß ist unser kleines Städtchen ja nicht.“ – „Ich weiß es nicht, ein dunkler Zauber vernebelt meinen Blick, so wie er die Welt heute Morgen in dichten Nebel und Eiseskälte gehüllt hat.“ – Dem Wirt schauderte bei diesen Worten etwas. „Wo ihr den Vorfall heute Morgen bereits erwähntet, wisst ihr etwas darüber?“ – „Ein wenig. Des Küfers Frau fand ein junges Mädchen halbtot neben ihrem Haus, entblößt und voller Blut.“ – „Grausamkeit!“ entfuhr es dem dicken Wirt. - „Dieser Mann ist nicht, was er zu sein scheint. Ich bin mir sicher, dass er etwas damit zu tun hat.“ Nachdem der Professor diese Worte gesprochen hatte, lief er eilig auf seinen dünnen Beinen die Treppe hinauf und verschwand in seiner Kammer, wobei er die Türe mit einem lauten Knall zuwarf. Der dicke Wirt stand noch lange unten und schaute hinauf. Wer weiß, was in seinem zerstreuten Kopfe vorging. Zur Besinnung kam er jedenfalls wieder, als die Türe erneut aufgestoßen wurde. Man sah, dass der Schnee nun heftiger fiel, denn die zwei Männer, die hineintraten schüttelten einige Schneeflocken von ihren Mänteln, bevor sie diese an die Garderobe hingen. „Flugs, mach er uns zwei Punsch!“ rief einer, der längere. Der dicke Wirt hing sogleich einen kleinen Kessel über eine kleine Feuerstelle und goss aus einem großen Fass die dunkelrote Flüssigkeit hinein. „Ein Wetter ist das.“ Sagte der Kleinere der beiden, sich an einen freien Tisch setzend, während der Längere nervös aus dem Fenster neben der Türe schaute. „Als hätte sich die Welt gegen uns gewandt.“ – „Und dann auch noch diese Geschichte.“ Sagte der Längere geheimnisvoll, indem er sich langsam zu seinem Kumpanen setzte. „Sagt, sollten der Hufschmied und der Schlosser um diese Zeit nicht bei der Arbeit sein?“ fragte der Wirt etwas verwundert. „Wir sind vom Bürgermeister als Hilfswachen bestellt worden. Wegen dieser Diebstahlsgeschichte wollte er die Zahl der Wachen erhöhen.“ – Heute Morgen sollten wir unsern Dienst antreten und was muss gleich passieren?“ Der Lange machte eine dramatische Pause. - „Da schaffen es ein paar dieser wilden Hunde in die Stadt und zerreißen des Uhrmachers Enkelin.“ – „Diese lebte alleine bei ihrem Großvater, wie ihr sicher wisst, denn ihre Eltern starben schon kurz nach ihrer Geburt.“ – „Ein Jammer, mancher behauptet, sie sei das schönste Mädchen der Stadt gewesen.“ – Der dicke Wirt schüttelte den Kopf und fragte erstaunt: „Hunde? Wie kommt ihr darauf?“ – „Bissspuren fand man auf ihr! Zudem war ihr Kleid zerrissen.“ antwortete der Kurze. - „Und an der linken Hand sind ihr zwei Finger abgerissen worden.“ Setzte der Lange hinzu. Dem dicken Wirt schauderte, als er zwei Becher voll des Punsches goss. Er dachte an die Worte des Professors und bekam sogleich eine Gänsehaut. Nachdem er den beiden ihren Punsch gebracht hatte, ließ er sich in einen Stuhl sinken, blickte mit starrem Blick auf den Boden und sprach: „Was ist nur aus der Welt geworden?“ Nach einer Weile fasste er sich wieder und blickte die beiden an. Dabei versuchte er, ein Lächeln auf seine Lippen zu bringen. „Aber das Mädchen lebt?“ – „Als wir sie dem Medicus übergaben zumindest. Wer weiß, wie es jetzt um sie steht.“ Antwortete der Lange. – „Wenn man das noch Leben nennen kann, die wird doch in ihrem Lebtag nicht mehr glücklich.“ Murmelte der Kurze. Für eine Weile saßen die beiden da, sprachen nichts und nippten an ihrem Punsch. Der dicke Wirt stand schweigend hinter dem Tresen und beobachtete die Treppe. Als die beiden ausgetrunken hatten, nahmen sie eilig ihre Mäntel, grüßten den Wirt zum Abschied und verschwanden in dem kalten Schneegestöber. Als sie jedoch die Türe aufzogen, schüttelte ein Windhauch den Talar des Professors recht durch und dabei fiel ein dickes Buch aus einer inneren Tasche heraus. Der Wirt bemerkte dies und gab den beiden zu verstehen, dass er sich darum kümmern werde. Sogleich nahm der dicke Wirt das Buch und wollte es zurück in die Tasche stecken, als auf der Vorderseite des Buches ein fremdartiges Zeichen seine Aufmerksamkeit erregte. Es sah aus, wie wenn zwei Schnecken ihre Häuser kopfüber aneinanderhielten und dabei ein Herz bildeten. Dem dicken Wirt kam dieses Zeichen seltsam vertraut vor, obgleich er nicht wusste, woher. Es war, als ob eine ferne Erinnerung in greifbare Nähe gerückt wäre und er nur die Hand nach ihr ausstrecken müsste, um sie ergreifen zu können. Er fühlte Freude, doch auch Verzweiflung. Er schlug das Buch auf. Viele fremdartige Zeichen und Haken sprangen ihm entgegen. Er las das Wort „Tot“, doch wusste er nicht, ob dies die Bedeutung war. Seine Hände begannen zu zittern und eiskalter Schweiß lief ihm die Stirn hinunter. Plötzlicher Schwindel bewegte ihn dazu, sich umzudrehen, um sich auf einen Stuhl zu setzen, doch als er sich umdrehte, stand auf einmal der Professor Zizius mit grimmiger Miene direkt hinter ihm. Der Wirt erschrak sehr und stotterte: „Wie…Was?“ Der Professor sagte nichts, nahm ihm stumm das Buch aus der Hand, steckte es zurück in die Tasche des Talars und legte sich selbigen um die Schulter. Er setzte den Hut auf und schritt zur Türe. Diese öffnete er und bevor er hinaustrat, drehte er sich noch einmal zu dem Wirt um und sprach: „Dein Käfig ist so eng. Flieg Vögelchen!“ Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, verschwand er auf den Straßen. Der Wirt stand einen Moment mit weit geöffnetem Mund vor der offenen Türe, dann jedoch schloss er sie, ging zu einem Stuhl und setzte sich. Als er einen Moment so dasaß, überkam ihn auf einmal ein starkes Gefühl von Freude. Er fühlte sich frei, so frei, wie er es schon lange nicht mehr gewesen. Er sprang auf und drehte sich im Kreis, tanzend, lief er zur Tür hinaus. Die Wachen am Stadteingang staunten nicht schlecht, als der Wirt an ihnen vorbeitanzte, geradewegs auf den Weg, der nach dem Walde geht. Bald schon war seine Silhouette im Nebel verschwunden und in der Stadt ward der dicke Wirt nie mehr gesehen.
Schon hört der Erzähler den Leser lamentieren „Aber was ist nun mit dem Müller?“. Verzeih er mir’s, wenn ich zuvor noch eine kurze Geschichte einspinne. In etwa zu der Zeit, als die beiden Hilfswachen die Schenke verließen, flogen zwei Raben über die kleine Stadt. Sie setzten sich auf das Dach des Unglückshauses, um das sich nun eine kleine Menschenmenge versammelt hatte. Aus dem Haus drangen die Rufe des alten Uhrmachers: „Katharina! So komm doch endlich.“ Ein großer Falke kam auf einmal geflogen und vertrieb die Raben, wobei er ihren Platz auf dem Dach einnahm. Die Menschen bemerkten ihn nicht, denn ihre Aufmerksamkeit lag ganz auf den Wachen, die sich an dem Ort versammelt hatten und allerlei Menschen befragten. Der Bürgermeister hatte in den Nachbarorten nach Unterstützung gefragt, weshalb nun auch viele unbekannte Menschen umherliefen, was die Menschen des Dorfes zusätzlich interessierte. Zwei Frauen standen in der Menge und unterhielten sich. Da kam eine dritte hinzu und fragte: „Ja, weshalb ist denn hier immer noch so ein Tumult? Ich dachte es wären wilde Hunde gewesen, die inzwischen das Weite gesucht haben?“ – „Nun, das dachten alle, doch das arme Kind sagte dem Medicus etwas von einem Mann.“ Antwortete die Eine. - „Nun versucht die Wache herauszufinden, wer so etwas getan haben könnte.“ – „Es schneit, doch warum ist mir auf einmal so warm?“ sagte die zweite Frau, während sie ihren Mantel etwas öffnete. – „Ja, ich schwitze gar.“ – Was ist das nur für eine Zauberei?“ entfuhr es der Dritten. Da fing ein kleiner Junge, welcher etwas abseits der Menge stand, auf einmal laut an, zu schreien. Die drei Frauen drehten sich rasch um, wobei die Erste von einem Mann mit einem schwarzen Kapuzenmantel angerempelt wurde. Man konnte durch die Kapuze sehen, dass der Mantel auf der Innenseite eine satte rote Farbe hatte. Sein Gesicht blieb jedoch im Schatten der Kapuze verborgen. „Aua!“ rief die Frau, der Mann war indes in der Menge verschwunden. „So ein Trampeltier!“ rief die Zweite. „Noch nicht einmal entschuldigt hat er sich.“ – „Hat er dich arg gestoßen, Margarethe?“ fragte die Dritte besorgt. „Der Stoß hat mich nicht geschmerzt.“ Sagte die Erste mit einer leichten Verwunderung in der Stimme. „Verbrannt hat er mich, da am Arm.“ Sie zog die Ärmel hoch und darunter war deutlich eine Brandspur erkennbar. „Hatte er etwa eine Pfeife oder eine Fackel in der Hand?“ fragte die Zweite. – „Ich habe keine gesehen.“ Antwortete die Erste. „Lasst uns gehen!“ sagte die Dritte. Schnell verschwanden die drei Frauen in ihren Häusern. Indessen lief die Mutter des Jungen aus der Menge zurück zu ihrem Kind und fragte: „Hans, was hast du denn?“ – „Da im Brunnen hockt einer!“ – „Was?“ – „Ja, ich hab daneben mit meiner Kugel gespielt, da hörte ich‘s plötzlich flüstern.“ –„Schnell, Wachen hierher!“ schrie die Mutter. Drei Männer kamen sogleich angerannt und fragten: „Was ist los?“ – „Da, im Brunnen muss einer sein!“ Die Wachen gingen vorsichtig auf den Brunnen zu. „Wenn da einer drinsitzt, so soll er laut rufen, sonst stechen wir ihn ab!“ – „Meinst du, das ist der Verbrecher?“ fragte einer der Drei leise. – Psst! Das werden wir gleich sehen!“ Langsam streckten sie ihre Köpfe in den Brunnen. Das Wasser schien in silbernem Glanz von unten herauf. „Niemand darinnen!“ rief die Wache. Die Mutter fragte indes den Jungen: „Was hat es denn geflüstert?“ – „Er sagte, er sei der Wassermann und wolle seine Tochter rächen.“ – „Das hast du dir sicher nur eingebildet.“ – „Nein, gewiss nicht, Mutter! Er sagte, sie heiße Viora und das arme Mädchen, das heute Nacht angegriffen wurde, sei vom selben Wesen umgebracht worden.“ – „Ach, Kind.“ Da durchfuhr die Stadt ein heftiger Donnerschlag. Die Erde bebte und der Brunnenrand bekam Risse. Sie hörten ein Geräusch wie ein Erdbeben. Es zog unter ihnen hindurch und verschwand nach einigen Sekunden. Panisch und wild liefen alle Menschen durcheinander und versuchten, in ihre Häuser zu kommen. Etwas Derartiges hatten sie noch nie erlebt. Obwohl es nach dem Knall wieder stillgeworden war und auch die Erde nicht mehr bebte, konnten die Wachen die Menschen nur mit Mühe dazu bringen, nicht völlig wild aus der Stadt zu fliehen.
Am Morgen war viel des Müllers gedacht worden. Besonders, da seit seiner Flucht aus der Schenke so viele sonderbare und unheimliche Dinge geschehen waren. Langsam schritt dieser nach seinem Erwachen in die Scheune, die Hände weit vom Körper weggestreckt. „Vater?“ flüsterte Ibuc, da schaute der Müller auf. – „Was geschieht mit mir? Wessen Blut ist das?“ – „Das eines Weibes.“ – „Woher weißt du das?“ – „Ich sehe viele Dinge.“ – „Weshalb ist ihr Blut an meinen Händen?“ – „Es war Notwehr. Sie versuchte, dich zu verführen.“ – „Was geschieht mit mir?“ – „Vater, vergiss die Hure. Wir müssen aus dem Dorf fliehen. Sie werden dich erschlagen und mich gleich dazu.“ Der Müller versank auf einem Haufen Heu und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Einen Moment saß er so da. Dann erhob er seinen Kopf, blickte Ibuc an, welcher aufrecht auf einem nahen Heuballen saß, und sagte leise: „Irgendetwas geht mit mir vor und das, seit du bei mir bist!“ – „Vater, nicht seit ich bei dir bin, sondern seitdem du bereit bist, dich zu verändern. Mutter brachte mich dir; sie und mich zu retten, das muss nun deine ganze Welt sein. Kannst du alles hinter dir lassen, um diese Aufgabe zu erfüllen?“ Der Müller rang mit den Tränen. – „Ihr seid meine Welt.“ – „Dann schnell, wir müssen fort von hier. Sie werden uns bald hier entdecken. Die tote Hure wird sie alle aufgescheucht haben und schon bald ist ein Entkommen unmöglich.“ – „So gehen wir besser gleich.“ – „Ja, lass uns zum Nordtor gehen, dieses liegt näher.“ Der Müller packte Ibuc wieder in seinen Mantel, jener schaute mit seinem gelben Auge durch das Knopfloch und so schlichen sie los. Es war nicht weit bis zu dem Nordtor, doch durch die Umstände war die Zahl der Wachen erhöht worden. Drei Wachmänner standen in einem Kreis auf der Straße und versperrten diese dadurch. „Was machen wir jetzt bloß?“ fragte der Müller verzweifelt, als er sich eine Seitenstraße weiter eng an eine Hauswand drückte, die Wachen beobachtend. – „Schnell, lege mich hier hinter den Wagen.“ Antwortete Ibuc. Du wirst einen töten müssen. – „Das kann ich nicht!“ widersprach der Müller. – „Doch, du bist nur nicht bei Kräften. Hier, iss einige der Beeren.“ Der Müller fasste bei diesen Worten Ibucs in seine Tasche und zog einige der gelben Beeren heraus. – „Nun? Willst du gefangen werden?“ – „Nein, doch umbringen kann ich ihn nicht. Ich will ihn lediglich außer Gefecht setzen. Was ist mit den anderen beiden?“ – „Sieh!“ Ibuc machte mit der kleinen Hand eine Bewegung hinüber zu den Wachen. Der Nebel, der vor der Stadt lag, kroch langsam auf die Wachen zu. Er umschlang sie. Wild wirbelten sie ihre Hände hin und her, um ihn zu vertreiben, doch er war zu dicht. „Jetzt!“ rief Ibuc. Der Müller lief los, gebückt, um nicht zu sehr aufzufallen. Der Nebel war so dicht, dass er gerade so seine eigene Hand erkennen konnte. Sie war noch befleckt vom Blut des Mädchens. Der Müller schluckte, denn er hörte die Wachen wild rufen. Ihre Schreie schienen jedoch im Nebel zu ersticken. Da erkannte er eine Silhouette im Nebel. Eine der Wachen drehte sich hastig hin und her. Als er sich gerade mit dem Rücken zum Müller wand, holte dieser tief Luft und stürzte sich auf ihn. Er legte den Arm um den Hals des Mannes und hielt ihm den Mund zu, damit er nicht um Hilfe schreien konnte. Der Müller wusste nicht, was über ihn kam, doch er fühlte sich plötzlich wieder äußerst seltsam. Nicht schlecht, lediglich seltsam. Er besah den Hals des Mannes und da rollten seine Augen zurück, sodass nur noch zwei weiße Punkte zu erkennen waren und mit einem lauten Schrei, der jedes Mark erschütterte, stieß er seine Zähne in den Hals des Mannes. Auf der Stelle war dieser tot. Da lichtete sich der Nebel etwas und die anderen beiden Wachen sahen den Müller die Wache in Armen haltend und mit blutschäumendem Munde nach ihnen schnappend. Da nahmen sie die Beine in die Hand und rannten in die nächste Gasse davon. Der Müller, auf einmal wieder zu sich kommend, warf den leblosen Körper auf den Boden und stand auf. Er ging mit schnellen Schritten in Richtung der Gasse, in der Ibuc lag, doch auf einmal kam eine ausgestreckte Hand von hinten durch den Nebel und ergriff seine Schulter. Blitzschnell drehte sich der Müller um, die Augen begannen sich bereits nach hinten zu drehen, doch der Anblick ließ ihn innehalten. Im Nebel stand der hagere, lange Professor Zizius. Seine Augen waren zu kleinen Schlitzen verengt. „Was wollt ihr?“ fragte der Müller harsch, doch verunsichert. – „Ihr seid krank, mein Herr.“ – „Ich bin nicht krank.“ – „Doch, ihr seid sehr krank. Sagt, erinnert ihr euch an irgendetwas, dass in den letzten Tagen vorgefallen ist?“ fragte der Professor mit einer skeptischen Miene. – „Nun, ich hatte einige unklare Momente…“ – „Und merkwürdige Träume, die plötzlich erscheinen?“ – „Ja, das auch.“ – „Ihr steht schon unter deren Einfluss. Die Geister dringen in euer Bewusstsein. Sie kämpfen um euch, die Wald- und Wiesengeister.“ – „Aber warum? Ich bin doch nur ein Müller. Etwa wegen meiner Frau.“ – „Nicht nur wegen eurer Frau, wegen eures Kindes.“ – „Ibuc!“ – „Ihr dürft ihm nicht trauen! Ich habe Grund zu der Annahme, dass…“ – „Ihr wollt mich ihm abtrünnig machen! Ich muss doch Viora retten, nur er weiß, wie…“ – „Gewiss, das sagt er euch, doch…“ In diesem Moment erschütterte das bereits erwähnte Erdbeben die Stadt und die beiden versuchten krampfhaft, sich auf den Beinen zu halten, was bei dem hageren Professor beinahe lustig aussah. Sie spürten das Beben auf sie zukommen, die Erde bekam Risse und Wasser lief aus selbigen heraus. Der Müller hielt sich an einem Haus fest, um nicht umzufallen. Er gedachte Ibuc und versuchte, zu ihm hinüber auf die andere Straßenseite zu kommen. Mit Mühe stolperte er hinüber, während der Professor ihm hinterherrief: „Dieses Kind wird euer Untergang sein! Ihr habt den Zorn der Geister und Menschen auf euch gezogen.“ Dann verschwand er im Nebel. Ein Riss war besonders groß geworden. Der Müller bemerkte ihn zunächst nicht, da er gerade dabei war, Ibuc hinter dem Wagen hervorzuholen. Da kam eine Wasserfontäne aus dem Riss geschossen und eine laute Stimme rief wie Donnerschall: „Esben!“ Der Müller drehte sich um und erblickte in dem brodelnden Wasser die Umrisse einer großen Gestalt. „Was willst du von mir?“ rief er ängstlich. „Meine Tochter ist verloren! Du hättest auf sie achten müssen.“ – „Ich kann sie retten!“ – „Niemand kann sie retten!“ – Da sprach Ibuc in verzweifeltem Ton zum Müller: „Komm Vater, lass uns schnell fort von hier gehen.“ Die Donnerstimme sagte nun etwas heller: „Ist das ihr Sohn? Ist das das Kind der Welt?“ – „Ja, das ist mein Sohn. Zusammen können wir sie aus dem See befreien!“ – „Nein, sie ist für immer verloren!“ – „Das ist eine Lüge!“ schrie der Müller. Ibuc rief ihm zu: „Komm Vater, wenn wir die Tore hinter uns gelassen haben, sind wir sicher! Wir müssen fliehen!“ Da lief der Müller mit Ibuc auf dem Arm los und war schon kurz darauf im Nebel hinter dem Tor verschwunden. Die Gestalt im Wasser schrie erbärmlich auf: „Nein!“ Das Wasser ging zurück und die Risse in der Erde schlossen sich. Der Nebel lichtete sich schon bald um die Stelle und die ersten Menschen strömten zusammen, alle mit einem Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht. Niemand hatte den Wassermann gesehen.
Der Müller rannte mit Ibuc durch den Nebel, bevor er nach etwa einer halben Meile stehenblieb. „Warum folgt er uns nicht?“ – „Das Grundwasser liegt unter der Stadt, die Erde hier ist trocken, dort kann er sich nicht bewegen.“ – „Dann sind wir sicher?“ – „Bis zum Wald, ja.“ – „Wir gehen also dorthin?“ – „Ja, es ist Zeit.“ – „Die Menschen des Dorfes wissen nun, dass ich die Wache umgebracht habe. Sie wissen auch, woher ich kam. Wir müssen schneller sein als sie.“ Der Müller nahm Ibuc auf die Arme und lief los. Sie gingen querfeldein um das Dorf herum, bis sie schwach durch den Nebel das Südtor sehen konnten. „Nicht umdrehen!“ befahl ihm Ibuc. Mit festen Schritten lief der Müller weiter, bis das Tor im Nebel verschwunden war. Nur schätzen konnte der Müller, dass sie gerade die Felder und Bauernhöfe passieren mussten; es war keine Menschenseele zu sehen. So liefen sie und sprachen kein Wort, dem Müller ging viel durch den Kopf. Er fühlte einen Schmerz in der Brust, der sich langsam auf den ganzen Körper auszubreiten schien. Schon länger hatte er dies bemerkt, doch nun schien sich der Schmerz erst in Verbindung zu den Ereignissen zu stellen. Das Atmen fiel ihm zusehends schwerer und als sie den Hügel bestiegen, musste der Müller eine kurze Rast einlegen. Er setzte Ibuc ins Gras und sich selbst auf einen kleinen Felsen, der danebenstand. „Warum glaubst du, dass ich Viora retten kann? Wie kann ich gegen die mächtige Nixe schon bestehen?“ – „Auch du hast große Kraft, mehr, als es dir vielleicht bewusst ist.“ Sagte Ibuc beinahe abwesend. Das Gelb in seinen Augen funkelte stärker, als es vor Tagen der Fall gewesen. „Hast du nicht gesehen, zu was du fähig bist?“ – „Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich Viora nicht einfach losgelassen hätte. Wenn ich mich in mein Schicksal gefügt hätte.“ – „Du machst dir dein Schicksal, das unterscheidet dich von den niederen Wesen, welche sich lediglich fügen. Es ist dir so bestimmt, dass du wieder mit ihr vereint wirst.“ – „Aber zu welchem Preis? Ich habe den Menschen in dieser kurzen Zeit schon so viel Dunkelheit gebracht.“ – „Was glaubst du, Vater, ist es die Nacht, die eine Unterbrechung des Tages darstellt, oder ist es nicht vielmehr der Tag, welcher die fortwährende Dunkelheit stört?“ – „Wie meinst du das? – „Die Blume des Bösen gedeiht nur im Schatten und ernährt sich von der Furcht der Schwachen. Wonach sie strebt, ist Macht; wie alles, das lebt. Du hast nun Macht über diese Menschen und kannst durch Angst über sie herrschen. Gefällt dir das etwa nicht? – „Ich möchte nicht herrschen.“ – „Du wirst wollen, wenn du die Freuden der Macht nur oft genug kostest. Du willst es auch jetzt schon, du gestehst es dir nur noch nicht ein. Ich sah es bei der Wache.“ – „Mein Kind, was sprichst du?“ Der Müller kniff bei diesen Worten die Augen zusammen, denn er sah auf einmal das Schlammmännchen, welches er vor einigen Tagen am Ufer geformt hatte vor ihm liegen. Er schüttelte schnell den Kopf, doch da lag wieder Ibuc und schaute ihn mit großen, gelben Augen an. „Bist du mein Kind?“ fragte er mit zittriger Stimme. – „Zweifelst du an mir? An meiner Liebe zu dir? Wenn dir unser Weg nicht Recht ist, so kehre um und begib dich in die Hände der Justiz. Dann wirst du sehen, wohin dich deine Menschlichkeit bringen wird.“ Seine Stimme bebte und klang anders wie gewöhnlich. – „Nein.“ Sagte der Müller mit einem Ausdruck der Bedrückung. – „So lass uns nun schweigen und weitergehen!“ sagte Ibuc. Aufgrund der Verfassung des Müllers und dem dichten Nebel waren sie deutlich langsamer vorangekommen und man konnte erkennen, dass es bereits zu dämmern begonnen hatte. Der Müller lief gerade mit Ibuc vorbei an den Felsformationen, als sich der Nebel zu lichten begann. An der Seite des Hügels offenbarten sich ihnen all die seltsamen Steine und Felsen, die wie schlafende Tiere auf dem Gras lagen. Da hörten sie plötzlich ein lautes Lachen, dessen Echo zwischen den Felsen wiederhallte. Sie drehten sich herum und versuchten die Richtung ausfindig zu amchen, aus der das Geräusch kam. Da lachte es schon wieder. „Da war ein Schatten!“ rief Ibuc. – „Wo?“ fragte der Müller hastig. – „Jetzt war er dort.“ Ibuc zeigte bei diesen Worten in die andere Richtung. Ein lauter Schrei, gleich dem eines großen Tieres durchfuhr die Landschaft. Der Müller ging in die Knie, da ihm sein Kopf auf einmal wieder zu schaffen machte. Er hörte hinter sich Schritte und fuhr blitzschnell herum. Da stand der Wirt vor ihm, doch er sah merkwürdig verändert drein. Sein Ausdruck war nun nicht mehr leer und verwirrt, sondern freudig, geradezu euphorisch. Sein Lächeln beruhigte den Müller gar und er war in der Tat froh, dass es kein wildes Tier oder schlimmeres gewesen war. „Ihr! Was macht ihr hier?“ fragte der Müller erstaunt. „Ich fliege!“ antwortete der Wirt, doch der Müller wusste nicht recht, was er mit dieser Aussage anfangen sollte. „Wie meint ihr das?“ – „Ich fliege zum Walde. Der Professor, er half mir sehen, half mir fliegen.“ Der Müller blieb auf diese Aussage sprachlos. Da fiel Ibuc in den Blick des Wirts, worauf dieser jenen sogleich aus den Armen des Müllers riss und schrie: „Ein gar schönes Schlammmännchen! Das will ich gleich dem alten Kauz bringen, damit er mich bei den Waldgeistern aufnimmt.“ Schon rannte er los. Der Müller verfiel für einen Moment in eine starre und sein Kopf schien zu bersten, so schmerzte er ihn. Als er wieder aufgestanden war, wurde der Nebel erneut dichter. „Ibuc!“ rief er mit lauter Stimme. „Wirt, wenn ich euch in die Finger bekomme. Ich töte euch!“ Verwirrt lief er hin und her, doch er konnte die beiden nirgendwo entdecken. Alles, was er hörte, was der Wiederschall des Lachens des Wirts. Es bohrte sich in seinen Kopf, zerfraß ihn von innen, sodass er sich schon bald setzen musste. Es war nun beinahe dunkel geworden und er hatte zudem den Weg verloren. Die Kopfschmerzen waren beinahe unerträglich und der Schmerz in seiner Brust setzte wieder ein. Mit Mühe richtete er sich auf und suchte nach der Straße. Im Nebel konnte er jedoch nichts mehr sehen. Schon bald war es dunkel und da der Müller schon einige Zeit mit der Suche nach dem Weg verbracht hatte, setzte er sich verzweifelt auf einen Felsen und begann, zu weinen. Er weinte lange und laut. Als er den Kopf ein wenig hob und keine Hoffnung mehr hatte, den Weg jemals wieder zu finden, gewahrte er ein schwaches Licht in der Ferne. Da er keine andere Möglichkeit sah, folgte er dem Licht und kam schon bald an ein kleines Häuschen, das zwischen größeren Felsen stand. Aus dem Kamin stieg Rauch und aus dem Fenster brannte ein helles Licht.
Der Müller schleppte sich, geschwächt von den Schmerzen in Kopf und Brust, in Richtung des Hauses. Als er dort angekommen war, versuchte er zunächst, durch das kleine Fenster hindurch zu schauen. Es war beschlagen, deshalb wischte der Müller erst mit den Händen eine runde Fläche frei. Er sah ein kleines Feuer knistern, über dem ein Kessel hing, eine Karaffe Wein auf einem Tisch und einen leeren Teller. Sein Blick wurde wieder trübe, was nicht an dem beschlagenen Fenster lag, sondern an den drückenden Schmerzen in seinem Kopf. Er spürte, dass er in wenigen Augenblicken zusammenbrechen würde. Vor Angst, hier draußen zu erfrieren, wankte er bis zu der Türe und stieß sie auf, wobei er der Länge nach in den Raum fiel und das Bewusstsein verlor. Als er kurz darauf die Augen wieder aufschlug, saß er auf einem Sessel, der seinem eigenen in der Mühle nicht unähnlich war, seine Füße hingen in einem Zuber mit warmem Wasser und vor ihm saß am Tisch ein Jäger, seiner Kleidung nach. Er hatte einen roten Bart, ehrliche Augen und eine grüne Weste an. „Nun, wie fühlt ihr euch?“ fragte er den verwirrten Müller. – „Was ist geschehen?“ antwortete dieser mit bröckelnder Stimme. – „Ihr seid platt wie eine Flunder auf meinem Fußboden gelandet. Nicht gerade höflich, so ganz ohne anzuklopfen, doch ich kann es euch nicht verdenken. Euer Zustand war kritisch.“ – „Verzeiht das. Ich sah das Licht und erkannte im Nebel keine andere Möglichkeit, als ihm zu folgen, da ich den Weg verlor.“ – „Recht habt ihr gehandelt. Es verirren sich nicht viele Menschen in diese Lande, doch nicht wenige von denen sind Opfer der Kälte und des Nebels geworden, wobei ich zugeben muss, dass es einen derart starken Nebel schon für eine lange Zeit nicht mehr gegeben hat. Wo kommt ihr eigentlich her?“ – „Ich komme aus A.“ – „Oh, ein Dörfler…“ – „Nein, ich war nur kurz dort, mit meinem Kinde.“ – „Wo ist es nun?“ – „Ich verlor es. Ein…doch, ihr werdet mich gewiss für Verrückt halten. Mir wiederfahren einige seltsame Dinge seit einigen Tagen. Mein Kind wurde geraubt von einem Manne, der sich für ein Vogeltier hält.“ – „Das klingt fantastisch!“ – „Doch es ist wahr!“ sagte der Müller inbrünstig. „Ich kann es nicht beschreiben. Meine Frau war alles, was ich hatte. Doch sie wurde mir genommen.“ – „Was geschah mit ihr?“ Des Jägers Blick wurde scharf bei diesen Worten. – „Sie ging in den dunklen Wald.“ – „In jenen verwunschenen Wald?“- „Ja.“ – „Meiner treu! Dann seid ihr gar der Müller, der am Rande des garstigen Forstes haust?“ – „Der bin ich.“ – „Ich hörte viel des Sagens über euch. Auch über euer Weib.“ – „So kennt ihr mein Verhängnis. Meine Frau ist im Walde gefangen. Doch sie schaffte es, mir mein Kind zu bringen und nun ist es fort. Schlimmer noch, das Ungetüm will es zum alten Kauz bringen. Ich sehe die beiden nie wieder.“ Bei diesen Worten brach der Müller erneut in Tränen aus. Der Jäger lehnte sich nach vorne und schaute dem Müller tief in die Augen. Geheimnisvoll murmelte er einige Worte, die der Müller nicht verstand. Diesem war nun sehr warm geworden, sodass er die Füße aus der Wanne hob und die müden Beinen mit den Händen massierte. Da brach der Jäger sein Schweigen. „Hört zu. Es ist nun besonders wichtig, dass ihr mir genau zuhört.“ – „Ja, gewiss.“ Sagte der Müller irritiert. – „Die Welt der Geister mag für die einfachen Gemüter nichts als Einbildung sein, doch hütet euch vor deren Macht. Besonders vor den Waldgeistern nehmt euch in Acht! Die Wiesengeister sind den Menschen zu einem großen Teil freundlich gesinnt, doch die Waldgeister streben schon lange danach, der Menschen Habhaft zu werden, um über sie zu verfügen. Um das zu erreichen schrecken sie vor nichts zurück. Eine magische Grenze verhindert zwar, dass die Geister den Wald verlassen, doch ihre Handlanger können es und tun es. Sie vergiften die Seelen der Menschen, die sie benutzen möchten. Ich war heute Morgen in A. und sah, was ihr getan habt. Ihr steht schon unter deren Einfluss.“ – „Ihr ward…doch wie?“ sagte der Müller mit verblüfftem Ausdruck. – „Ihr aßt die gelben Beeren, die magische Kräfte besitzen und ihr verfielt der mächtigsten Waffe der Geister. Doch zunächst, hört diese Geschichte: Es lag schon lange etwas im Argen zwischen den Wald- und Wiesengeistern, doch sie kamen miteinander aus. Die Waldgeister nahmen sich die Menschen, was den Wiesengeistern nicht gefiel, doch um einen Streit zu vermeiden, nahmen es die Wiesengeister hin. Der Wiesengeister sind es vier: Der Gräberfürst Melus; Bombina, die Feuerkröte; der Falkenprinz und der Wassermann. Der Wassermann war seit jeher ein temperamentvolles Wesen und so überraschte es nicht, dass er sich eines Tages in eine hübsche Fischersfrau verliebte. Zusammen zeugten sie ein Kind und der Wassermann freute sich darüber. Was er jedoch nicht wusste, war, dass die schöne Fischersfrau die Nixe Naias aus dem Walde war, die ihre Gestalt gewechselt hatte. Heimlich brachte sie das Kind in den Wald. Der Wassermann zürnte sehr, sodass die Erde bebte. Doch er konnte nichts tun, das silberne Wasser des Sees hielt ihn fern von diesem Ort. Seine Kräfte wären geschwunden, wenn er ihm zu nahegekommen wäre. So blieb das Kind also zunächst in der Obhut der Waldgeister. Deren sind es auch vier: Der alte Kauz, der König des Waldes; die Nixe Naîas; Winkebein, der Gnom und Trollherr und Wadjit, die Tochter einer Schlange und eines Salamanders. So sollte also das Kind des Wassermanns und der Nixe bei der Mutter im See aufwachsen. Sie hatten ihre Gründe, das Mädchen so weit weg von den Menschen großzuziehen. Zum einen wollten sie den Hass gegen die Menschen in dem Mädchen entfachen aber wovor sie sich geradezu fürchteten, war, dass sie sich eines Tages in einen Menschen verlieben könnte. Dass sie gar mit ihm ein Kind zeugen könnte. Es ist nun so, dass ein Kind, gezeugt von einem Menschen und einem Wesen aus der Geisterwelt, ein besonderes Kind ist. Es wird das Kind der Welt genannt. Nur durch dieses Kind kann eine Brücke zwischen den Welten geschlagen werden. Nur durch dieses Kind können die Menschen sehen lernen und die Geister fühlen. Doch die Waldgeister wissen, wenn dieses Kind die Brücke schlagen sollte, so wird ihre Macht über die Menschen schwinden, doch sie wollen ihre Macht behalten. Also hielten sie das Kind im Verborgenen. Dennoch gelang es dem Falkenprinzen durch seine exzellenten Augen, das Kind im Walde zu erspähen. Die Kröte, der Gräber und der Falke stürmten also in den Wald und es gab einen gewaltigen Kampf, doch letztendlich entrissen sie das Kind den Waldgeistern. Der Wassermann war überglücklich, seine Tochter wieder bei sich zu haben, doch die Waldgeister verziehen den Wiesengeistern nie für diese Tat, seitdem, könnte man sagen, befinden sich die beiden Geisterwelten im Kriege miteinander. Die Wiesengeister ahnten, dass die Waldgeister sich schon bald rächen würden, um das Kind zurückzubekommen. Daher erdachten sie sich eine List. Sie erkannten, dass, sollte das Mädchen bei einem der beiden Geister bleiben, der Kampf ewig fortdauern würde. Also gaben sie das Kind in die Obhut einer Müllerin, die nahe des Waldes lebte. Das Kind, äußerlich einem Menschen gleich, musste nahe des Wassers großwerden. Den Wassermann schmerzte dieser Verlust sehr, doch sah er ein, dass es für das Kind und die Welt am besten war. Der Gräberfürst ging zu den Geistern des Waldes und teilte ihnen mit, dass das Kind auf der Flucht gestorben war. Da auch die Waldgeister einsahen, dass man einen Waffenstillstand vereinbaren musste, zog man eine magische Grenze, die beide Geisterwelten auf immer trennen sollte. Die Wiesengeister blieben auf der Wiese und im Dorfe und die Waldgeister konnten den Wald nicht mehr verlassen. Seitdem gibt es überhaupt erst die Bezeichnung Waldgeister und Wiesengeister.“ Der Müller hörte gespannt auf jedes Wort, im Lauf der Geschichte war ihm die Gestalt des Jägers seltsam bekannt vorgekommen. Nun entfuhr es ihm: „Doch sagt, was geschah aus dem Kind?“ – „Die Wiesengeister dachten, es wäre das Beste, wenn es nahe des magischen Waldes aufwächst. Dort würden es die Waldgeister am wenigsten vermuten und die magische Grenze war ja gezogen.“ – „So ist es also wahr! Viora, meine liebe Frau, die meiner Mutter vor vielen Jahren als Findelkind gebracht wurde, ist die Tochter des Wassermanns und der Nixe. Lange konnte ich es nicht recht glauben.“ – „Ja, es ist alles wahr. Doch hört weiter: Ihr fragt euch sicher, weshalb sie von euch ging. Der Ruf ihrer Mutter trieb sie fort in den Wald. Sie vernahm die lauten Klagelaute der Nixe über den Bach. Doch sie erwartete ein Kind. Neun Monate lag sie still in dem See, doch dann huschte sie an ihrer Mutter vorbei, die als großer Fisch in dem See haust und schwamm, so schnell sie konnte, an den Waldrand. Dort gebar sie das Kind und brachte es euch ans Ufer.“ – „Ja, meinen Ibuc!“ – „Nein! Ihr wurdet getäuscht.“ – „Wie meint ihr?“ – „Viora wurde gefangen, von Trollen, die der Gnom ausgesandt hatte, als die Nixe ihr verschwinden bemerkt hatte. Sie brachten sie zurück in den Wald, dort liegt sie nun in Fesseln im See und kann nie wieder heraus.“ – „Das ist nicht wahr.“ Dem Müller hielt einige Tränen zurück. – „Leider doch.“ – „Und was ist mit meinem Ibuc?“ – „Die Trolle nahmen das Schlammmännchen, dass ihr gefertigt und zauberten einen Wechselbalg daraus, der dem Kind der Welt bis auf die Augen ähnlichsieht.“ – „Die gelben Augen.“ Flüsterte der Müller. – „Sie dachten, solltet ihr in dem Glauben aufwachsen, eure Frau befreien zu können und mit ihr und eurem Kind vereint zu sein, dann könnten sie euch besser als Werkzeug gebrauchen.“ – „Werkzeug, für was?“ fragte der Müller. – „Die Trolle brachten das Wechselbalg zu dem alten Kauz, der legte einen mächtigen Zauber darauf. All das Böse fließt in seinen Adern. Es will in die Welt der Menschen, um Unheil und Verderben über sie zu bringen, doch dafür braucht es einen Wirt, von dem es zehren kann, den es korrumpieren kann. Ihr ward sein Wirt. Euch hat der schreckliche Ibuc benutzt, um Angst in den Herzen der Menschen zu säen. Die Früchte des Bösen wachsen an dem Baum der Furcht, aus welchem sie entspringen und von dem sie gleichsam zehren. Es hat euch langsam aufgezehrt bis ihr gefügig ward und nun braucht es euch noch, um eine Sache zu vollbringen. Ihr müsst euer eigenes Kind im Walde töten. Sie halten das Kind der Welt noch immer dort in einer Höhle gefangen. Selbst können sie es nicht töten, da nur ein Wesen, welches zu Liebe fähig ist, ihm etwas anhaben kann. Liebe macht die Wesen angreifbarer, doch ebenso glücklicher. Ihr sollt es töten, bei dem Versuch, eure Frau zu retten. Doch ihr müsst das Wechselbalg töten, es darf die Welt nicht weiter vergiften.“ – „Woher weiß ich, dass ich euch trauen kann. Könnte es nicht sein, dass ich das Kind der Welt bereits hatte und ihr nun im Auftrag der Waldgeister von mir verlangt, es zu töten?“ – „Denkt an Ibuc zurück. Er hat mit Sicherheit mehr als einmal etwas Merkwürdiges getan oder geäußert. Ich behauptete auch nie, dass es leicht werden würde. Eure Seele ist schon allzu schwarz. Ich fragte euch nach den Kopfschmerzen, sie sind der Ausdruck dieser Verwandlung. Bald schon seid ihr ein Unhold, getrieben von Blut und den Hass gegen die Menschen im Herzen.“ – „Niemals.“ Des Müllers Kopf war rot geworden und ihm war so warm, dass dicke Schweißperlen von seiner Stirn hinunterliefen.– „Doch, ihr glaubtet, mich zu kennen. Ihr lagt richtig. Ich malte einst das Bild von eurer Frau Viora.“ – „Ihr seid der Reisende?“ – „Ja, der war ich. Ich malte zwei Bilder, erinnert ihr euch? Das andere brachte ich dem Wassermann, der seine Tochter noch einmal sehen wollte. Ich bin die Feuerkröte Bombina selbst.“ Der Müller rieb sich die Augen und erkannte nun, dass vor ihm auf dem Tisch eine große, rote Kröte saß. „Den Jäger, der hier lebte, den tötetet ihr vor drei Tagen, als ihr hier ankamt. Ja, drei Tage ward ihr nun hier. Er wollte euch helfen, doch für euch ist es schon zu spät.“ Der Müller sah vor sich den Teller, der auf der anderen Seite des Tisches gestanden hatte, und einen Krug daneben. Er zitterte. In seinem Krug befand sich Wein, doch als er einen Schluck nehmen wollte, um sich zu beruhigen, erkannte er, dass es kein Wein war, sondern Blut. In seinem Teller schwammen einige merkwürdige Brocken Fleisch, doch als ein Finger in der Brühe auftauchte, war dem Müller klar, dass er den Jäger gegessen haben musste. Er stürzte von seinem Stuhl auf und erbrach sich, wobei er ein ganzes Herz herauswürgte. Die Kröte war verschwunden und der Müller war allein. Er stieß die Türe auf und lief hinaus in den Schnee, sein Ziel war ihm nun klarer denn je.
IV
Das Dorf war in hellem Aufruhr. Viele Menschen standen um das Rathaus und erwarteten mit grimmiger Miene das Urteil des Stadtrates. Eine Reihe Wachen hatte sich mit Spießen vor den Eingang des Rathauses gestellt und hielt diejenigen Bürger zurück, die aufgebracht nach vorne drängten und riefen: „Brennt die Mühle nieder! Ein böser Geist ist der Müller.“ Ein anderer schrie: „Und hängt den Zauberer auf, der vorgibt, ein Professor zu sein! Der steckt mit ihm unter einer Decke.“ Indes saßen zwei schweißgebadete Männer -eben jene Wachleute, die an jenem Morgen den Dienst am Nordtor hatten- auf einem Stuhl vor dem fünfköpfigen Rat. „So ist es gewesen.“ Sagte der Eine. – „So, der Müller zerriss also euren Kollegen und ihr sprangt davon?“ fragte ein älterer Mann des Rates und beäugte die beiden skeptisch. – „Gewiss, mein Herr. Wir flohen aus Furcht, ebenfalls der Bestie zum Opfer zu fallen.“ – „Die Bissspuren an des Uhrmachers Tochter sprechen dafür, dass der Müller auch das war.“ Sagte eine alte Frau, die ebenfalls dem Rat angehörte. – „Können wir gehen?“ fragte der andere der beiden Männer, der lange geschwiegen hatte, mit zittriger Stimme. – „Ja, vorerst benötigen wir euch nicht.“ Sagte das älteste Ratsmitglied, welches in der Mitte der Reihe saß. Die beiden standen auf und gingen leise aber zügig aus dem großen Saal. Die Ratsmitglieder blickten einander an und nickten einstimmig, dann stand der Älteste unter großer Kraft auf und ging zu dem nahen Balkon. Er stieß die Türen auf und trat hinaus, wo die Menge schon auf ihn wartete. „Meine Kinder!“ sagte er in pathetischem Ton, den man ihm ob seines Alters nicht zugetraut hätte. „Wir wurden in den letzten Tagen Opfer von schrecklichen Unglücken. Brüder und Schwestern starben. Wir wurden getäuscht, unsere Gastfreundschaft missbraucht.“ – „Was sollen wir tun?“ rief eine Stimme aus der Menge. Mit einer beschwichtigenden Handbewegung fuhr der Älteste in seiner Rede fort: „Der Müller suchte die Einsamkeit, doch fand er Böses und brachte es zu uns. Er steht nicht mehr unter dem Schutz der Gemeinschaft, der er sich schon lange entzogen hatte. Ich überlasse ihn eurer Willkür. Den Zauberer prügelt aus der Stadt, sofern ihr ihn findet. Wir werden eine Trauerzeit von drei Tagen verhängen. Macht mit dem Müller, was ihr wollt, doch seid bis Sonnenuntergang zurück. Die Tore der Stadt werden dann für drei Tage geschlossen bleiben. Causa finita.“ Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, verschwand er wieder im Inneren des Rathauses. Die Menge aber begann zu toben. Einige verschwanden schnell in ihren Häusern, doch viele blieben und scharrten sich um einen Mann in grünem Mantel. Es war einer der beiden, die am Morgen in der Schenke gewesen waren. „Freunde, hört mich an!“ schrie er. Die Menschen wurden tatsächlich leiser. „Diese Bestie hat die unseren genommen, wir wollen ihm auch seines nehmen! Brennen wir die Mühle nieder und töten ihn.“ Die Menge begann laut zu jubeln. „Schnell, bringt Fackeln und Spieße oder andere Waffen, wir treffen uns am Südtor.“ Und schon bald zog ein bewaffneter Mob vom Südtor los durch die neblige Landschaft in Richtung Mühle, während kleine Schneeflocken den jähen Beginn des Winters ankündigten.
In dieser Zeit aber stand ein Mann, den der verehrte Leser nun schon zu genüge als den Professor Zizius kennengelernt hat, ein weites Stück hinter der Masse in einer dunklen Gasse, sodass lediglich seine blitzenden, scharfen Augen sichtbar waren. Eine Träne formte sich auf dem rechten Auge und glitt in den Schatten hinab. Da verschwanden seine Augen in der Dunkelheit der Gassen wie eine Kerze, deren Licht langsam erlischt.
Der Mob zog über die lange Landstraße, den Berg hinauf, vorbei an den Felsen, durch die Säulenfelsen hindurch bis sie das Tal vor Augen hatten. Schnee lag auf den Wiesen und der Wald wirkte noch dunkler, als er es früher getan. „Dort haust der Unhold!“ rief der Mann im grünen Mantel. Eilig liefen alle hinan und spähten durch das Fenster. „Scheint keiner da zu sein.“ bemerkte ein dicklicher Fackelträger. – „Wir wollen es anzünden. Hat er keine Bleibe mehr, werden die Tiere ihn holen.“ Fügte ein Spießträger hinzu. Gesagt, getan, warfen sie die Fackeln auf die Mühle und durch das Fenster und schon bald stand die Mühle lichterloh in Flammen. Sie tanzten um das brennende Gebäude und sangen Spottlieder auf die Müllerei. Dem Wasser jedoch kamen sie nicht zu nahe. Eine eigenartige Furcht verspürten sie in ihren Herzen, als würden sie bei der kleinsten Berührung des Bachs in den Forst gezerrt werden und dort elendiglich verschmachten. „Nun lasst uns heimkehren. Bei Sonnenuntergang schließen sie die Tore, bis dahin müssen wir zurück sein.“ sagte einer. – „Geht ihr nur. Ich werde hierbleiben und mir diesen Müller vorknüpfen. Auch wenn es Tage dauern sollte.“ Erwiderte der Grüne. – „Ich will bei euch bleiben. Katharina war meine Base, ich werde nicht eher ruhen, bis ich des Müllers Leben ein Ende gesetzt und sie gerächt habe.“ Bemerkte ein Jüngling mit stolzem Blick. „Auch ich will hierbleiben. Ich sah, was dieses Scheusal anrichten kann. Ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn ich weiß, dass er tot ist.“ Sagte ein älterer Mann aus dem Gefolge. – „Nun gut, wir drei werden unser Lager in der Nähe von hier aufschlagen aber weg vom Wald.“ Sprach der Grüne und mit diesen Worten entfernte sich der Mob. Die drei aber liefen zu dem kleinen Teich, um auf den Müller zu warten, doch als der Alte ein Feuer entzünden wollte, hielt ihn der Grüne zurück, sprechend: „Kein Feuer! Er wird uns sehen ehe wir ihn bemerken. Wir werden abwechselnd wachen.“ Und so taten sie es die nächsten drei Tage.
Der Müller lief indes durch den hohen Schnee zum Walde hin. Sein Körper glühte und seine Augen wurden heller, als ob er ein Geist würde. Er nahm die Welt nur noch verschwommen war, doch schien es ihm, als wären seine Sinne geschärfter, als sie es jemals zuvor gewesen. Der Müller passierte die zwei Säulenfelsen und blickte zum Wald. Da sah er die Mühle, doch schon von Weitem konnte er erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war. Als er näherkam, sah er, dass nur noch die Wände standen. Er lief langsam auf die Ruinen zu und betrachtete ausdruckslos den Haufen Schutt vor ihm im Schnee. Das Mühlrad war halbverkohlt und das Wasser lief an den übriggebliebenen schwarzen Stäben vorbei. Als er in die ehemalige Stube hineinsah, konnte er erkennen, dass das halbverbrannte Bild seiner Frau noch immer an der Wand hing. Er betrachtete das Bild für einen Moment, bis er einen tiefen Zorn, es mag gar Hass gewesen sein, denn er blieb ruhig, in seinem Inneren aufsteigen fühlte. In just diesem Moment fiel das Bild von der Wand und lag umgedreht im Schnee, der sich in der Stube gesammelt hatte. Der Müller drehte sich und blickte in Richtung des Waldes. Die drei Männer hatten sein Erscheinen bemerkt und waren ihm heimlich bis vor die Mühle gefolgt. Nun flüsterten sie: „Greifen wir ihn uns! Jetzt! Habt ihr eure Waffen dabei?“ – „Sicher! Nur keine Zeit verlieren!“ Sie wollten gerade über ihn herfallen, da hielten sie inne und lauschten dem Winde, der auf sonderbare Weise zu sprechen begann. „Müller! Es ist Zeit. Du musst mich befreien.“ Die Stimme schien aus dem Bach zu kommen. Der Müller blickte entschlossen zum Wald und ging schnellen Schrittes hinein. Als er die Grenze passierte blieb er einen Moment stehen und atmete tief durch, bevor er weiter in die Dunkelheit hineinschritt. „Nun was? Da entwischt er uns.“ – „Los hinterher.“ Sprach der Grüne. „Aber das ist doch der verwunschene Wald.“ Sagte der Alte. – „Ich gehe mit euch.“ Entgegnete der Jüngling tapfer. – „Ich nicht! Keine zehn Pferde bekommen mich in diesen Höllenforst.“ – „So geht zurück und berichtet den Menschen von unserer Heldentat, sollten wir nicht zurückkehren.“ Hielt ihm der Grüne entgegen. Langsam schlichen die beiden dem Müller in den Forst hinterher, während der Alte sich entfernte.
Der Müller schlich leise durch das Unterholz, während er beständig Ausschau hielt. Die Worte des Professors klangen noch in seinem Ohr und er hatte nicht vor, von dem reitenden Unhold eingefangen und vor der Eiche des alten Kauzes als Trophäe aufgestellt zu werden, bevor er den See nicht erreicht hatte. Um zu diesem zu gelangen, folgte er dem Bach. Beständig vermischte sich das Rauschen des Wassers und die Stimme seiner Frau in seinen Ohren. Wie in Trance schritt er den Strom entlang, doch ständig auf der Hut. Auf einmal vernahm er hinter sich ein Knacken. Blitzschnell fuhr er herum, doch er konnte nichts erkennen. Da drang zu seinen Ohren ein lautes Klopfen, gleich dem eines Herzschlags. Er konnte nun deutlicher hören, dass es zwei Herzen sein mussten. Der Wind drehte sich und der Müller roch nun deutlich den Geruch von Schweiß auf einem ängstlichen Körper. Langsam ging er dahin, wo er den Geruch vermutete. Da kam ihm ein anderes Geräusch ins Ohr, dass den Herzschlag übertönte. „Hufe!“ dachte er sich und ihm fiel sein Traum wieder ein. In Windeseile rannte er durch das Unterholz. Jeden Baumstumpf übersprang er, es schien gar so, als flöge er. Er blickte zurück, doch er sah nichts. Der Bach entfernte sich nun immer weiter von ihm, doch es schien, als würden die Huftritte immer näherkommen. Er drehte sich erneut um, da erblickte er im dunklen Walde ein schwarzes Pferd, wie er es schon aus seinem Traum kannte und darauf die dunkle Gestalt, ein langes Schwert in der Hand haltend. Der Müller rannte aus Leibeskräften, der Hass war verflogen und allein der Gedanke an Viora trieb seine Beine an. Es kam ihm so vor, als ob die Hufe sich entfernten, deshalb drehte sich der Müller um, in seiner Geschwindigkeit jedoch nicht langsamer werdend. Er sah den dunklen Reiter zwar, doch war er deutlich zurückgefallen, er schien gar anzuhalten. Da lief der Müller mit voller Geschwindigkeit gegen einen Baum; das zumindest glaubte er. Als er vom Boden hinaufblickte erkannte er, dass es keineswegs ein Baum war, gegen den er besinnungslos gelaufen war, sondern eine große Gestalt, die, ihm den Rücken zugekehrt, auf dem Boden saß und laute Grunzgeräusche von sich gab. Sie schien den Aufprall mit dem Müller gar nicht bemerkt zu haben. Der Müller versuchte vorsichtig aufzustehen, um in die andere Richtung davoneilen zu können, doch so lief er geradewegs in die Arme einer weiteren großen Gestalt. Es mussten Trolle sein. „Heda! Hiergeblieben.“ rief der Troll. „Du wirst bereits erwartet.“ Der andere Troll war indessen aufgestanden und grunzte seinem Kumpan etwas Unverständliches entgegen. So trugen sie den Müller tiefer in den Wald hinein.
Dieser blieb völlig still, er zog sich gleich einer Schnecke in sein Innerstes zurück und erblickte lediglich die Schatten des Waldes, welche an seinem Auge vorbeizogen. Auf einmal warfen sie ihn auf den Boden und stellten sich neben ihm auf. Nun hatte er Gelegenheit zu fliehen, doch ein Geräusch hinter ihm weckte seine Neugier. Er drehte sich um und erblickte das kleine Männchen, welches er ihm Traum gesehen hatte. Es sang sein Liedchen und mit seiner Stimme kroch der Nebel zum Müller herüber. Die Trolle waren zu Felsbrocken verwandelt. Als der Nebel die Füße des Müllers erreichte, blickte das Männchen auf und schnüffelte. „Ein Kindlein ward gefangen. Er will es zurück, ist es nicht so.“ Der Müller, welcher annahm, dass das Männlein mit ihm sprach, versuchte zu erwidern: „Es ist mein Kind. Ich will…“ Doch das Männlein beachtete ihn gar nicht und sprach zu sich selbst: „Ja, heute Nacht ist es soweit. Er wartet bereits.“ Es drehte den Kopf und blickte gebannt in die Dunkelheit. Da fing das Männchen auf einmal an ganz grausig zu lachen, sodass es dem Müller eiskalt den Nacken herunterfuhr. Das Männlein humpelte fort, sogleich versuchte der Müller, ihm hinterherzulaufen, doch es war schneller als der Müller glaubte. Nur mit Mühe konnte er ihm folgen, wobei er immer weiter zurückfiel, bis er es schließlich ganz aus den Augen verlor. Er drehte sich um und versuchte sich zu orientieren. Der Schrei eines Kindes lenkte ihn jedoch in nordöstliche Richtung, wie er an dem Moos erkennen konnte, falls er dem Moos hier überhaupt trauen konnte. Vor ihm tat sich eine tiefe Dunkelheit auf und der Müller erkannte, dass es eine Art Höhle sein musste. Wieder gedachte er seines Traumes und schlich vorsichtig hinein.
Er sah nichts, doch konnte er fühlen, dass der Boden kalt und feucht war. Dennoch lief ihm der Schweiß die Stirn hinunter. Das Schreien des Kindes war verstummt, doch der Müller zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sich Ibuc in der Höhle befand. Langsam tastete er sich vorwärts. Seine geschärften Sinne schienen wie durch Zauberkraft wieder abzustumpfen, genauso schnell, wie sie ihm zugekommen waren. Der Müller nahm blitzschnell die Hand vor den Mund, um seinen Atem zu stoppen, da er erkannte, dass jemand direkt auf ihn zulief. Eilig aber vorsichtig drückte er sich fest an die Höhlenwand. Er vernahm das Lied: „Ein Kindlein schläft so leise, als wär‘ es tot. Die Bäcklein jedoch leuchten so hell und rot.“ Ein Troll lief an ihm vorbei, ihm folgte, ein Kind in den Händen haltend, der Gnom Winkebein. Der Müller hätte das Kind am liebsten aus den Armen des Gnoms gerissen, doch er erinnerte sich an die Stärke des Trolls und wollte das Leben des Kindes nicht riskieren. So schlich er ihnen nach. Vor der Höhle wartete die Alte, welche er zuerst im Traum gesehen hatte, und nahm das Kind aus Winkebeins Armen. Mit ihren langen Krallen fuhr sie über das Gesicht des Kindes, doch schien sie dabei Schmerz zu empfinden, ihren Gesichtszügen nach zu urteilen. Bedächtig schritten die Alte, der Gnom und der Troll fort. Der Müller folgte ihnen umsichtig. Nach einer Weile gelangten sie auf eine große Lichtung, in deren Mitte eine riesige, alte Eiche stand. Darum standen viele kleine Bäume, die sich jedoch als Holzsskulpturen unzähliger Menschen entpuppten. Als der Müller dem kleinen Zuge über die Lichtung folgte, versteckte er sich zwischen den Skulpturen, während die drei Wesen sich vor der Eiche positionierten. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass die Figur, hinter der er sich versteckte, der dicke Wirt aus A. war. Der Müller schluckte, richtete dann jedoch die Aufmerksamkeit schnell wieder auf die Alte, die das Kind auf den Boden vor die Eiche legte. Der Müller musste sich anstrengen, um ihre Stimme zu vernehmen. „Hier ist es, Meister! Die Schatten werden es schon bald umfangen.“ Eine Stimme, tiefer und eindringlicher als der Donnerschall ertönte aus der Eiche: „Gut. Müller, trete hervor.“ Der Müller tat, wie ihm geheißen. „Was möchtest du, Müller?“ – „Ich möchte meine Frau und mein Kind zurück.“ Sagte der Müller ruhig. „So. Deine Frau und deinen Ibuc willst du zurück.“ – „Darf ich ihn sehen?“ fragte der Müller. – „Gewiss“ antwortete der alte Kauz aus dem Baum. Der Müller schritt zu dem Kinde und blickte es an. Es schien ruhig zu schlafen. „Kind? Ibuc?“ sprach der Müller leise, danach sagte er still zu sich: „Wenn ich doch nur seine Augen sehen könnte.“ – „Bringt ihn zum See, dort soll er Viora sehen.“ Sagte der Kauz. Der Müller nahm das Kind auf seine Arme und schritt mit der Alten, dem Gnom und dem Troll einige Meter weiter, bis sie an den See kamen, den der Müller ebenfalls schon aus seinem Traum kannte. Und dort – er konnte es nicht glauben – saß seine Frau auf einem Felsen mitten im See. „Viora“ rief er mit funkelnden Augen, doch eine Dunkelheit umschlang sie erneut. Kaum waren sie am See angelangt, da preschte der dunkle Reiter heran, sein Schwert in der einen, einen großen Sack in der anderen Hand haltend. Diesen ließ er vor den Füßen des Gnoms fallen und heraus purzelten der Grüne und der Jüngling aus dem Dorfe, die dem Müller nachgeschlichen waren. „Doch nicht jetzt!“ sagte die Alte in einem groben Ton, doch der Reiter antwortete nicht. Er band die beiden stattdessen mit einem Strick an einen Baum. „Um euch kümmern wir uns später.“ Sagte die Alte mit einem unheimlichen Lächeln im Gesicht. „Esben! Komm zu mir.“ Flüsterte Viora dem Müller zu. Dieser ging an das Ufer des Sees, doch berührte das Wasser nicht. Ihre rotblonden Haare wehten im eiskalten Winterwind und erzeugten im Herzen des Müllers eine Wärme, die das Eis, welches sich seit einigen Tagen in seinem Körper verbreitet hatte, zum Schmelzen brachte. Ihre Augen jedoch schienen nicht lebendig zu sein. Vom kräftigen Grün war nichts zu sehen, stattdessen schienen sie gar schwarz. „Viora. Ich kann nicht. Du bist unerreichbar für mich.“ Sagte der Müller mit einer Träne im Auge. „Na los! Du wolltest sie, nun kannst du sie haben.“ Sprach die Alte zum Müller. „Wenn ich in das Wasser gehe, werde ich nie wieder herauskommen.“ Sagte der Müller zu der Alten. – „Das ist richtig. Doch ihr werdet vereint sein. Was für ein Leben erwartet dich schon außerhalb dieses Waldes?“ – „Keines. Ich werde mich den Menschen ausliefern.“ – „Nun, so muss ich dich vor die Wahl stellen. Winkebein, hole das Kind!“ eilig humpelte der Gnom davon. Der Müller verstand nicht recht, was die Alte meinte. Kurz darauf kam der Gnom zurück und hielt erneut ein Kind in Händen. „Das ist dein Ibuc. Was du in der Hand hältst, ist ein Wechselbalg.“ – „Aber…wie?“ – „Wir dachten, dass euch die Entscheidung schwerfallen würde.“ Fiel der Gnom ein. „Darum haben wir das Kind in der Höhle vertauscht. – „Ich sagte dir bereits“ mahnte die Alte den Müller „dass du endlich sehen musst. Hier könnt ihr vereint sein, Viora, du und das Kind. Verlässt du den Wald, dann bist du verdammt.“ Der Müller stand in sich versunken da, das Kind auf dem Arm. „Ich gebe dir noch eine Chance“ sagte die Alte erneut. „Diese beiden dort, sie wären des Todes. Doch wenn du dich nun dazu entscheidest, dein Leben zu opfern für das Unheil, dass du ihnen gebracht hast, dann lasse ich sie laufen.“ Der Müller blickte nun erneut zu Viora, sie sah ihn besorgt an. „Nun gut.“ Sprach der Gnom und lief schnellen Schrittes zu den beiden, die furchtsam auf die Knie sanken. „Dich nehme ich“ sagte er, während er mit seinen langen, dürren Fingern auf den Grünen zeigte. Er verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige, die einen roten Handabdruck auf dessen Backe hinterließ. Die Haut darunter begann zu beben und zu bröckeln, der Grüne schoss in die Höhe. Er verlor seine Kleider und stand schon bald als Troll vor ihnen. „Der wird mir ein rechter Diener sein!“ kicherte der Gnom. „Wartet, ich will es tun. Gebt mir meinen Ibuc!“ Der Gnom lief zu ihm hinüber und überreichte ihm das Kind, stattdessen nahm er das Kind, welches sich zuvor in den Armen des Müllers befunden hatte, entgegen. Dann ging er wieder zurück zu der Alten und stellte sich dicht hinter ihr auf. Der Müller aber sah das Kind an. „Mein Ibuc.“ Flüsterte er „Bist du es?“ Das Kind schlief und hatte die Augen fest geschlossen. „Ihr wolltet ihn freilassen.“ Erinnerte er die Alte. Diese antwortete ihm: „Ja, gewiss.“ Da stieß die Alte einen Schrei los, der einem gesprochenen Wort ähnlich war, und zwei Raben flogen heran. Sie stürzten sich auf den Jüngling. Blut spritze durch die Luft und der Schnee um ihn färbte sich rot. Kurz darauf verschwanden die Raben wieder und der Jüngling stand blutend im Schnee. Jetzt erst erkannte der Müller, was sie getan hatten. Ihm fehlten die Augen. „Der Blinde Tor.“ Lachte die Alte „Betrachtet es als weiteren Grund, euer Versprechen zu halten, die Dörfler werden glauben, dass ihr es getan habt. Der Müller weinte. Langsam hob er seinen Fuß und setzte ihn ins Wasser. Als er das Wasser berührte durchzog ein Schlag die Erde, gleich eines Erdbebens. In der Ferne meinte der Müller einen Schrei vernehmen zu können. Er sah zu Viora hinüber, doch diese war verschwunden. Stattdessen saß eine ihm fremde Frau auf dem Felsen und blickte ihn bösartig an. Er zog den Fuß aus dem Wasser heraus. Da erzitterte die Erde. Die Alte und der Gnom drehten sich hastig um. Blaues Licht schien ihnen aus der Ferne entgegen. Nach einer Weile erkannte der Müller, dass es blaue Flammen waren, die sich auf sie zubewegten. Man vernahm auch deutlich eine Stimme: „Alter Kauz! Ich bin hier!“ Ein Pferd mit einem Kutschwagen kam durch den Wald gebrettert. Auf der Kutsche stand aber, die Zügel in der Hand haltend, der Professor Zizius. Um sie herum war die blaue Flamme. Die Alte zögerte keine Sekunde, schon bald kreisten ihre Hände über dem Kopf und rote Flammen schossen aus ihren Fingerspitzen. Die beiden Flammen verzehrten die umliegenden Bäume und schon bald war alles in heller Aufregung. Ein starker Wind ließ jedoch die Flammen erlöschen, noch während sich der Professor und die Alte bekämpften. „Er…er kommt.“ Zitterte die Alte, und begann zu grinsen. Der Müller hatte die Aufregung genutzt und dem Gnom das andere Kind entrissen. Der Professor hatte den Müller beobachtet und rief ihm nun zu: „Ich muss hier weg. Sie wollten, dass ihr das Kind der Welt ertränkt. Ihr müsst das Wechselbalg ins Wasser werfen!“ – „Welches ist das Wechselbalg?“ schrie der Müller. – „Das wisst ihr allein!“ Der Müller, welcher aber nun schon lange unter dem Einfluss des Wechselbalgs gestanden hatte, sah die beiden Kinder an und konnte sich nicht entscheiden. Er spürte die Kälte erneut sein Herz umschließen als er die Kinder betrachtete. Seine Augen rollten nach hinten, er hatte verlangen, das eine Kind zu zerreißen. Gegen dieses verspürte er einen ihm unerklärlichen Hass. Er konnte sich für einen Moment lang fassen und eilig lief er zum Professor. Diesem gab er das Kind, gegen welches er den Hass verspürte. Doch er hielt inne, irgendetwas schien ihn davon abzuhalten. War es die unauslöschbare Vaterliebe zu seinem wahren Kinde oder das Blenden des Wechselbalges, er konnte es nicht sagen. Er gab dem Professor dennoch das Kind, nahm das andere und rannte zum See. Ein großer Schatten zog über sie und am Himmel konnte der Müller die Schwingen einer riesigen Eule erkennen. Der Professor stieg auf seinen Wagen und mit einem lauten Peitschenknall zuckten blaue Flammen durch den Wald. Die Eule kam im Sturzflug herunter, genau an die Stelle, wo sich der Professor befunden hatte, doch er war verschwunden. Einen lauten Schmerzensschrei schrie die Eule aus, dann erhob sie sich wieder in die Dunkelheit. Auf den Müller hatte im Moment keiner geachtet, dieser stand schon knietief im Wasser. Die Alte blickte ihn an. Der Müller wendete sich von ihr ab und sah im Wasser das Bildnis seiner Frau. Ihre rotblonden Locken wehten im Wasser, wie Weidenblätter an einem windigen Herbsttage. Ihre grünen Augen schienen friedlich zu leuchten. Er nahm nichts Anderes mehr war. Dann glitt er sanft in das Wasser und die Dunkelheit umschloss ihn und das Kind.
Im Dörfchen A. waren die Geschichten von dem verhexten Walde seit jeher ein beliebtes Gesprächsthema gewesen. Die jüngsten Ereignisse aber hatten die Leute in eine ungewohnte Geschwätzigkeit ausbrechen lassen. Als der Jüngling Tage später in erbärmlichen Zustande, wahnsinnig, blind und mit zerrissenen Kleidern, wiedergekommen war, sich jedoch an nichts erinnern konnte, außer, dass der Müller den Grünen getötet, sich dann wie ein Raubvogel auf ihn gestürzt und ihm die Augen ausgerissen hatte, woraufhin er sich im See im Walde ertränkt haben soll, da waren die Menschen froh, dass das Übel nun ein Ende hatte. Von einem Kinde erzählte der Jüngling nichts, beteuerte aber, dass der Müller wie im Wahn von einem Wechselbalg und einem Kinde gesprochen habe. Unweit des Dorfes war ein kleiner Bauernhof. Eines Morgens klopfte es, die Bauersfrau öffnete die Türe und davor lag in einem Körbchen ein Kind, die Augen fest verschlossen.