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Das Gesetz der Straße
Die nasse Straße vervielfältigte die Lichter zu einem permanenten Strahlennetz, das sich in den Schlieren der Scheibenwischer zu immer neuen Mustern verband. Selbst wenn der Gegenverkehr von Zeit zu Zeit weniger wurde, blendeten die Scheinwerfer der nachfolgenden Autos unangenehm in den Rückspiegeln.
Jan Feller fuhr nicht gerne bei Dunkelheit. Er fuhr überhaupt seit Monaten das erste mal wieder und dann gleich auf der Autobahn und bei diesem Wetter.
Trotz des dichten Verkehrs war er bisher in keinen Stau geraten, und wenn er weiter so gut vorankam, würde er in einer halben Stunde zu Hause sein.
Er fuhr vorsichtig. So oft es möglich war, benutzte er die rechte Spur, wo er sich in gemäßigtem Tempo dahintreiben ließ. Anfangs fiel es ihm noch schwer, doch mit der Zeit gewann er einen Teil seiner alten Sicherheit zurück. Aber noch immer ließ es ihn erschrecken, wenn er in der Ferne Scheinwerfer aufblenden sah.
Auch daran würde er sich wieder gewöhnen.
Weit vor ihm schälten sich die quadratischen Umrisse eines Lastzuges aus dem Nebel.
Er beobachtete kurz die mittlere Fahrspur, setzte den Blinker und fädelte sich ohne Probleme ein. In einiger Entfernung voraus leuchteten rote Bremslichter auf. Der LKW hatte den Blinker gesetzt, scherte ebenfalls auf die mittlere Spur und setzte zu einem Elefantenrennen an.
Gemeinsam mit Anderen zog Jan Feller ganz nach links auf die schnellere Spur hinüber.
Für höhere Geschwindigkeiten fühlte er sich eigentlich noch nicht sicher genug, aber hinter dem Lastwagen bleiben, vor sich die graue Wand der Aufbauten, ohne Vorausschau.
Das war noch schlimmer.
Die Reifen der Autos schleuderten sprühende Wasserfontänen hinter sich.
Jan Feller hielt Abstand.
Die Lichtblitze aus der Ferne registrierte er anfangs nur am Rande. Erst nach der Wiederholung zog ein unangenehmes Kribbeln durch seine Nerven.
Immer wieder blendeten die Scheinwerfer auf.
Weit hinter ihm scherte ein Drängler wiederholt aus.
Jan Feller spielte einen Moment mit dem Gedanken, wieder auf die rechte Spur auszuweichen, doch der Wagen war noch weit hinter ihm. Er hoffte mit etwas Glück an dem Lastwagen vorbeiziehen zu können, bevor der Verrückte aufgeschlossen hatte. Bald hatte er den LKW erreicht. Er tauchte kurz in einen Nebel von aufgewirbelter Gischt.
Gleich darauf flatterte die Plane des Laderaums neben ihm im Fahrtwind.
Eingeschlossen zwischen Leitplanken, riesigen Reifen und den vorausfahrenden und nachfolgenden Autos fuhr er dahin.
Mit einem Schlag wurde es weiß um ihn.
Gleichzeitig mit der Explosion zweier gleißender Sonnen, schien sein Unterbewußtsein zu kollabieren. Alle seine Nerven wurden aktiv und schienen sich gegenseitig zu blockieren.
Der Drängler war direkt hinter ihm.
Mit schweißnassen Händen umklammerte er das Lenkrad und versuchte gegen die Panik den Wagen in der Spur zu halten.
Und wieder stach ihm das Licht wie blendende Dolche in die Augen.
Der Schock zog erneut mit aller Macht durch seinen Körper.
Rechts rüber`.... Irgendwo im Chaos trieb ihn ein Gedanke zur Flucht auf die rechte Fahrspur. Aber der LKW war da. Er war noch nicht vorbei.
Wieder diese Lichter und wieder luden sich seine Nerven nach. Irgend etwas in ihm schien jeden Moment zu platzen, in einer riesigen Explosion aus Licht zu detonieren und ihn mitzureißen.
Jetzt war er auf der Höhe der Fahrerkabine.
Erneut kam der helle Schlag von hinten.
Dann war der Lastwagen vorbei. Er wollte nur noch rüber und in Sicherheit.
Rechts rüber.
Im Ansatz des Wechsels dröhnte eine Hupe neben ihm. Der Verfolger hatte vor ihm die Spur gewechselt und zog nun rechts an ihm vorbei.
Jan Fellers Reaktion kam rechtzeitig. Krampfhaft hielt er den Wagen in der Spur. Seine schweißnassen Hände umklammerten das Lenkrad.
Jeder Herzschlag ließ seinen Körper wie unter einer Ramme erbeben.
Direkt vor ihm zog der Andere wieder nach links, und das gleißende Licht begann sein Spiel von Neuem.
Es galt nicht mehr ihm.
Im Nebel des aufwirbelnden Wassers reckte ihm von einem Aufkleber auf dem Heck des Wagens eine Faust den verhöhnenden Mittelfinger entgegen.
Wie in Trance war Jan Feller auch an dem zweiten LKW vorbeigezogen und ordnete sich wieder auf der rechten Spur ein.
Vor ihm setzte sich das Spiel mit aufblendenden Scheinwerfern und roten Bremsleuchten fort. Hin und wieder hörte er ein Hupen aber das nahm er nur am Rande wahr. Er hatte mit sich selbst genug zu tun. Ihm war übel.
Er zitterte am ganzen Körper und er war naß von Schweiß.
Das gemäßigte Tempo half ihm, sich wieder einigermaßen zu beruhigen.
Bald kündigte ein Schild die Ausfahrt an. Weit vor ihm flammten hin und wieder Scheinwerfer auf. Bremslichter vervielfältigten sich im Spiegel der nassen Straße.
Weit voraus schoß ein Wagen von der linken Spur auf die Ausfahrt.
Der Nebel leuchtete rot und schwach vernahm er den hupenden Protest.
Trotz allem war er froh, daß er bereits auf der Autobahn überholt worden war.
Er wollte sich nicht ausmalen, was auf der schmalen Landstraße hätte passieren können.
Jan Feller setzte den Blinker und sein Wagen glitt als einziger über den weiten Bogen der Ausfahrt. Es war nicht mehr weit. Am Ende der Landstraße war er zu Hause.
In sanften Kurven zog sich die Straße dahin, ein ständig nachwachsendes Band aus dem Dunkel jenseits der Lichtkegel. Als dunkle Schatten tauchten an den Rändern Bäume auf und verschwanden hinter ihm in der Nacht.
Obwohl er allein auf der Straße war, fuhr er verhalten und vorsichtig.
Im Schleier des Nieselregens führten ihn die schwachen Reflektionen der Begrenzungspfähle in eine enge Kurve. Hinter den Büschen, jenseits des Asphalts glommen zwei rote Punkte, wie die Augen eines Tieres im schwachen Schimmer weißen Lichtes.
Jan Feller kam näher, und im Ausgang der Kurve erkannte er Reifenspuren in der aufgewühlten Erde des Randstreifens.
Mit aller Macht trat er auf die Bremse.
Sein Wagen geriet leicht ins Schleudern, kam dabei der Böschung bedenklich nahe und kam endlich so zu stehen, daß seine Scheinwerfer den Bereich jenseits des kleinen Abhangs beleuchteten.
Alte Bilder tauchten wieder auf. Grauenhafte Szenen mit Trümmern und Blut.
Dinge, die er seit Monaten versuchte zu verarbeiten und die in diesem Moment wie eine unheilvolle Woge auf ihn einstürzten.
Für Sekunden war er in der Erinnerung gefangen, ehe er sich dazu zwingen konnte, ausschließlich die aktuelle Realität zuzulassen.
Er sprang aus dem Wagen und rannte den Hang hinunter.
Er strauchelte in der aufgewühlten Erde. Glasscherben und abgerissene Plastikteile lagen umher. In der Senke hing Nebel. Erst als er näher kam, sah er, daß der Wagen auf dem Dach lag.
Wie ein ironisches Symbol zeigte der Finger am Heck nach unten und als hätte in diesem Moment eine hochwirksame Medizin augenblicklich ihre Wirkung getan, wurde Jan Feller ruhiger und die Panik, mit der er noch in den letzten Sekunden rang, gab auf und wich einer abgeklärten Kälte.
Er trat an den Wagen heran, kniete sich auf der Fahrerseite nieder und schaute ins Innere. Der Mann hing kopfüber in den Sicherheitsgurten. Stabile, rote Hosenträgergurte, wie man sie in Rennwagen einbaut.
Es herrschte eine sonderbare Stille, die nur von dem leisen, rasselnden Atem des Mannes unterbrochen wurde.
Langsam wandte er den Kopf und Jan Feller sah in ein blutverschmiertes Gesicht, das nur noch wenig Menschliches hatte.
Die Stimme war leise. „Helfen sie mir.“
Jan Feller nickte. „Ja... Sicher.“
Seine Worte kamen ruhig.
„Ich habe sie schon auf der Autobahn gesehen. Sie fahren wohl gerne schnell.“
„Ja, aber daran lag es nicht. Ich mußte so einem scheiß Vieh ausweichen und.....“ Ein leichter Hustenanfall hinderte ihn zunächst weiterzusprechen.
„Machen sie schnell.“ Es war kaum mehr als ein Röcheln. Der Mann hatte Schmerzen.
„Schnell. Ja, das ist das Problem. Wenn man zu schnell ist, macht man leicht Fehler, und in ihrer Situation dürfen wir uns keine Fehler erlauben. Sie verlieren Blut und jeder falsche Handgriff wäre fatal.“
Jan Feller spürte jetzt eine Entschlossenheit in sich, wie seit langem nicht mehr.
„Eile kann tödlich sein. Vor einigen Monaten hatte es auch Jemand sehr eilig. Es war gar nicht mal weit von hier, auf einer Autobahn.“
Aus dem Wrack kam ein Geräusch, wie ein leises Schluchzen.
„Ich war mit meiner Frau unterwegs.... Es war der Tag an dem sie starb.“
Er ließ sich nieder, mit dem Rücken an den Wagen gelehnt. Er spürte die Nässe nicht.
Sein Blick wanderte über die grauen Wiesen, zu den schwarzen Schatten der Bäume, dort wo der Horizont sein mußte und weiter zur schwach leuchtenden Scheibe am verhangenen Himmel.
Aus dem Wagen drang erneut leises Stöhnen.
„Wir waren auf dem Heimweg, als dieser Raser kam........“
In der vergangenen Nacht kam es auf der Bundesstraße zu einem schweren Verkehrsunfall, als aus noch ungeklärter Ursache der Fahrer eines PKW die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, von der Straße abkam und eine Böschung hinunter stürzte.
Trotz der sofortigen Hilfe eines weiteren Verkehrsteilnehmers erlag der Fahrer noch am Unfallort seinen Verletzungen.