Mitglied
- Beitritt
- 05.10.2002
- Beiträge
- 56
Das geschenkte Licht
„Der Heitere ist der Meister seiner Seele.“ – William Shakespeare
Der Rotwein stieg ihnen langsam zu Kopfe und benebelte ihre Sinne. Sie schauten in das weite Feld, den Wald, der mit seinen hohen Tannen eine angrenzende Wand bilde-te und das kleine Dorf, das nah am Horizont, aber noch nicht unerreichbar weit weg, verlassen dalag. Sie saßen auf dem Feld und verspeisten gestohlene Äpfel, redeten und tranken schweren, französischen Rotwein. Manchmal bildeten sie nahezu eine ein-zige harmonische Einheit, dann gab es wieder Momente in denen es schien, als würden alle Meinungen auseinander fließen. Doch eines waren sie fast immer: Sie waren ver-gnügt und heiter, machten Späße und scherzten über Bekannte.
Es war ein schöner Frühsommerabend und die Sonne begann unterzugehen, sie tauch-te den Horizont, an dem auch das kleine Dorf lag, in ein gleißendes Licht, welches über das Land kam wie eine Flutwelle aus blutrotem Wasser. Sonnenstrahlen spiegelten sich in grünen Glasflaschen und zersprengten von einem Punkt in alle Richtungen. Schwei-gend schauten sie der langsam untergehenden Sonne zu, wie sie von der Erde ver-schluckt wurde und dabei am Ende nur einen glühenden Faden dicht über dem Boden zurückließ, der letztendlich auch verblaßte und im Dunkel der Nacht verschwand.
Noch hatte es ein wenig Licht und die Gruppe setzte sich in Bewegung Richtung dem Dorf, das sie die ganze Zeit am Horizont beobachten konnten. Von dem Städtchen war jetzt nur noch eine gespenstische Silhouette zu sehen, die vom letzten Licht umspielt wurde. Sie marschierten zielstrebig auf diese tiefschwarze Zickzacklinie am Horizont zu und lachten laut in die Landschaft hinein, lachten über das Feld, lachten in den Wald und lachten ins Dorf, so laut, daß man es dort bereits hören mußte.
Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen als sie die ersten Häuser erreichten. Sie gingen auf staubigen Feldwegen an geschlossenen Fensterläden vorüber, die durch verrostete Scharniere mit der Steinwand verbunden waren. An den ersten Häusern wa-ren schon alle Fenster geschlossen und kein Laut regte sich im Innern der Gemäuer. Sie gingen weiter und kamen zu einem runden Platz, das Gras war schon hoch ge-wachsen und rauschte nun im kalten Nachtwind, der um die Häuserecken pfiff.
Beim genaueren Betrachten der Häuser stellten die Wanderer eine erstaunliche wie erschreckende Tatsache fest: Keines der Häuser hatte eine Tür und jedes Fenster im gesamten Dorf war fest verschlossen und von innen verriegelt. Warum sollte jemand ein ganzes Dorf aufbauen in dem kein einziges Haus mit einer Tür ausgestattet war und wo alle Fenster geschlossen waren? Es war wie ein Rätsel, das es zu lösen galt. Nur Häu-ser ohne Türen, das ist wie ein Auto ohne Motor, wie ein Pinsel ohne Farbe, wie ein Instrument ohne Musik oder wie das Leben ohne den Tod.
Sie bekamen Angst und setzten sich genau in die Mitte des Platzes, wo jedes Haus am weitesten entfernt war, da saßen sie jetzt und der Mond schien auf sie herab und schien sie auszulachen mit seinem fahlen Licht, das er von der Sonne geschenkt bekam.
Sie fingen an zu singen. Sie sangen gegen die aufkommende Angst, die ihre Herzen umklammerte. Sie sangen heitere Lieder und mit jedem kam die Erinnerung an den Nachmittag als sie auf dem Feld saßen und Wein tranken stärker auf. Sie sangen bis sie müde wurden, dann schliefen sie ein. Sie schliefen inmitten dieses Dorfes, umgeben von für immer verschlossenen Steinhäusern, wahrscheinlich wollten die Wanderer gar nicht wissen, weshalb die Bauten existieren, geschweige denn einen Blick hineinwerfen. Sie schliefen jetzt unter dem kalten Mond und sie träumten, vom Feld und der Sonne, die sich in ihren Weinflaschen spiegelte.