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Das Geschenk
Ich bin wach, aber halte meine Augen geschlossen. Zu erbarmungslos die Realität. Ich würde sehen, dass du nicht neben mir liegst, daran denken, dass du nie wieder neben mir liegen wirst. Kein zärtlicher Blick mehr von dir, der mir folgt, wenn ich aufstehe.
Meine Hand wandert über den glatten Stoff deines Kopfkissens, streichle zärtlich darüber, spüre wie mir heiße Tränen über die Wangen laufen. Meine Augen und Lippen sind fest zusammen gepresst, ich halte die Luft an, um nicht von den Gefühlen überwältigt zu werden, die sich ihren Weg aus der Tiefe an die Oberfläche bahnen. Langsam zuerst und dann immer heftiger, wie die Wellen eines Ozeans. Schließlich habe ich keine Kraft mehr mich zu wehren, lasse mich von ihnen fortspülen. Vergessen sind Zeit und Raum. Ich bin haltlos. Verloren. Orientierungslos.
Nach einer gefühlten Ewigkeit tauche ich auf aus dem Gefühlsmeer. Das nasse Kopfkissen klebt an meiner Wange. Ich finde den Weg ins Bad und unter die Dusche.
Als ich fertig bin, hole ich mir ein Kleid aus dem Schrank und meine schwarzen Schuhe mit den viel zu hohen Absätzen. Dieselben Schuhe wie bei unserem ersten Treffen. Ich lächle, als ich daran denke, wie ich sie auf dem langen Kiesweg vom See zum Auto in der Hand getragen habe – und du mich. Wie meine Finger zärtlich deinen Nacken gestreichelt haben, während du mich mit deinen blauen Augen angesehen hast, als wolltest du mit der Sonne um die Wette strahlen. Als hättest du nie etwas Schöneres gesehen. Ich habe mich in deinen Augen verloren – und gleichzeitig gefunden. Mich vollkommen gefühlt. Unsere Lippen, die sich wie von selbst gefunden haben, unsere Körper, magisch angezogen voneinander …
Ich schrecke auf, als es an der Tür klingelt. Noch benommen von meinem Tagtraum laufe ich wie in Trance die Treppe im Flur hinunter, steige in das Auto meiner Eltern und verbringe die Fahrt schweigend auf dem Rücksitz. Fühle mich wie in einem Polizeiwagen, der mich ins Gefängnis bringt. Unsichtbar die Trennung zwischen Vordersitzen und Fond, aber dennoch vorhanden. Lautlose Kommunikation zwischen meiner Mutter und meinem Vater, wechselnde Blicke, stille Aufforderung. Schweigen, das mir immer lauter vorkommt, je näher wir dem Ziel kommen.
Wir steigen aus und reihen uns in die Gruppe der übrigen Anwesenden ein, die sich versammelt haben. Versammelt um ein Gefängnis. Um dein Gefängnis.
Mitleidige Blicke. Hilflos gestammelter Trost, der nicht zu trösten vermag. Doch dies alles gilt nicht mir.
Während der Pfarrer schöne Worte findet, um dich von dieser Welt zu verabschieden, schaue ich in die Gesichter der Anwesenden. Schaue in das Gesicht deiner Frau, meiner Schwester, die dich zu oft an die zweite Stelle in ihrem Leben gesetzt hat. Und ihre Karriere an die Erste. Sehe Reue in ihrem Gesicht über die unwiederbringlich verlorene Zeit mit dir. Als unsere Blicke sich treffen, erwidert sie meinen voller Trauer, unwissend. Darüber, wie lange und heftig wir uns dagegen gewehrt, unsere Gefühle vor uns selbst verleugnet haben. Es war das Schicksal, das unsere Wege zusammen geführt hat. Für uns beide gab es kein Entkommen. Zu heftig war unsere Liebe. Tief unsere Seelenverwandtschaft. Unsere eigene kleine Welt. Wie eine unsichtbare Hülle hat sie uns beide im Kern vereint. Eine Hülle, die jetzt nur noch mich umgibt. Und einen neuen Kern.
Langsam wandert meine Hand von meinem Herzen hinunter zu meinem Bauch, bleibt dort liegen, wissend, dass ein Teil von dir in mir weiterlebt. Ein Geschenk, welches Beweis unserer Zusammengehörigkeit ist. Ein Geschenk, das ich genauso lieben werde wie dich.