- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Das Genesis-Team
Jerry fühlte sich benommen wie nach einer Narkose, öffnete seine Augen und versuchte, etwas zu erkennen. In dem diffus beleuchteten Raum, in dem seine Kältekammer stand, konnte er nur verschwommene Umrisse erkennen. Merkwürdigerweise waren die meisten der anderen neununddreißig Kühlkammern noch aktiv, worauf die roten Statusanzeigen an ihren Fußenden hinwiesen. Hätten sie nicht alle gleichzeitig geweckt werden müssen? Es machte ihm Sorgen, dass er alleine war. Das unheimliche Brummen der Kammern bei gleichzeitigem Fehlen menschlicher Stimmen verstärkte sein Gefühl der Einsamkeit.
Der Botaniker verdrängte die düsteren Gedanken und stieg aus seinem Tank. Auf einem kleinen Beistelltisch fand er Unterwäsche und die Borduniform, die er anlegte, bevor er sich schwebend durch die Schwerelosigkeit hangelte, entlang der Reihen der länglichen grauen Tanks mit ihren Glasdeckeln, unter denen er die anderen schlafenden Kolonisten erkennen konnte. Dabei entdeckte er neben seiner eigenen noch drei weitere geöffnete Kammern. Die Erkenntnis, dass er doch nicht alleine war, beruhigte ihn ein wenig. Er stieß sich ab und ließ sich zu dem Verbindungstunnel treiben, der ihn zur zentralen Kreuzung des Raumschiffs bringen würde. Von dort bewegte er sich weiter zur Brücke.
„Jerry! Du bist auch wach“, begrüßte ihn Françoise.
Neben der hochgewachsenen blonden Ärztin erkannte er auch noch die etwas kleinere, braunhaarige Biologin Betty mit der süßen Stupsnase.
„Guten Morgen“, sagte er. „Obwohl ich natürlich nicht weiß, ob es wirklich Morgen ist. Mir fehlt noch ein wenig die Orientierung.“ Der braungelockte Mann lachte sein sympathisches Lächeln und die beiden Frauen erwiderten es. „Habt ihr eine Ahnung, warum die anderen noch schlafen?“
„Das versuchen wir gerade herauszufinden“, sagte Françoise. „Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass nur wir drei wach sind.“
„Vier“, sagte Jerry. „Ich habe vier offene Kammern gezählt. Ihr beiden, ich und Harimoto.“
„Harimoto?“, fragte Françoise. „Na immerhin. Wenn er wach ist, dann weiß wenigstens jemand, wo es lang geht.“
Betty sah von der Computerkonsole auf, an der sie arbeitete. „Wenn Harimoto auch wach ist, dann bin ich beruhigt. Ich frage mich nur, wo er ist.“ Sie blickte wieder auf den Monitor. „Auf jeden Fall kann ich bestätigen, dass wir definitiv da sind. Stabiler Orbit seit drei Tagen. SaCCI hätte eigentlich alle von uns aufwecken müssen.“
SaCCI. Das Akronym für Ship and Cryo Control Intelligence ließ Jerry immer schmunzeln. Die künstliche Intelligenz hatte sie also tatsächlich an ihr Ziel gebracht. Er hatte sich nie wohl bei dem Gedanken gefühlt, die ganze Flug- und Aufwachphase von einem Computer steuern zu lassen, aber es war die einzige Möglichkeit gewesen. Kein menschliches Personal hätte die mehrere Jahrhunderte dauernde Reise überleben können. Sie waren Pioniere, also hatte Jerry eingesehen, ein gewisses Risiko in Kauf nehmen zu müssen.
„Mir sind keine gesonderten Aufwachprotokolle bekannt“, sagte Jerry, mehr zu sich selbst. „Gibt es Anzeichen einer Fehlfunktion?“
„Hm, bin mir da nicht sicher“, antwortete die Biologin. „SaCCI gibt sich auf meine Anfragen ein wenig kryptisch.“
„Was meinst du?“, fragte Françoise.
„Er nennt mir brav alle Daten zu Position und Zustand des Schiffes, antwortet aber auf alle missionsbezogenen Fragen mit ‚Bitte Harimoto fragen‘. Das klingt wirklich merkwürdig.“
In der Tat, dachte Jerry. SaCCIs Antwort klang vorprogrammiert, und nicht wie etwas, das die KI selbst aus ihren neuronalen Netzen generieren würde. Er ließ sich wieder aus der Brücke hinaus treiben. „Ich schaue mir die Tanks noch einmal an. Vielleicht finde ich ja raus, was los ist.“
„Du solltest erst einmal etwas zu dir nehmen. Vor allem Flüssigkeit“, sagte Françoise.
Erst jetzt bemerkte Jerry neben der allgemeinen Übelkeit das flaue Gefühl in seinem Magen, das auf den vor dem Einfrierprozess entleerten Verdauungstrakt zurückzuführen war.
„Da hast du sicher recht.“
„Oh ja!“, rief Betty und strahlte dabei wie ein Kind, dass sich auf seinen Nachtisch freut.
Sie hangelten sich von der Brücke zur zentralen Kreuzung und von dort weiter in die Kantine, wo sie individuell zugeschnittene Essenspakete zu sich nahmen, die derart zusammengestellt waren, dass sie den Körper nach der Kryophase optimal aufbauten. Es war klassische Astronautennahrung, in einzelne Beutel verpackt, die sie aussaugten.
Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, begaben sie sich zu dem Raum mit den Kryotanks und begannen damit, diese eingehend zu inspizieren. Die geringe Beleuchtung und das tieffrequente Brummen erzeugten einen gespenstische Atmosphäre.
„Hier!“, rief Betty plötzlich vom hinteren Ende des Raumes mit aufgeregter Stimme, die sich beinahe überschlug. Jerry und Françoise stießen sich von ihren Positionen ab und bewegten sich auf Betty zu.
„Was ist?“, fragte Françoise.
Betty antwortete nicht, sondern zeigte nur auf den Tank, über dem sie hing. Die anderen beiden erkannten, was die Biologin entdeckt hatte. Der Deckel war geschlossen, aber das rote Licht am Fußende leuchtete nicht. Er war deaktiviert und der Kolonist in seinem Innern tot — in dem hermetisch abgeriegelten Tank lag eine Mumie.
„Oh mein Gott“, sagte Jerry und wandte entsetzt den Blick ab.
Betty hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ihren Brechreiz. Nur die weniger empfindliche Ärztin Françoise sah genau hin und sagte schließlich: „Vielleicht seit hundert Jahren tot. Genau kann ich das nicht sagen.“
Jerry blickte die Reihe der Tanks entlang und erkannte nun, was ihm direkt nach dem Aufwachen noch entgangen war. „Da hinten sind noch zwei.“
Sie bewegten sich zu den deaktivierten Tanks und fanden darin die gleiche grausige Situation vor.
„Drei Tote“, sagte Françoise. „Nur siebenunddreißig von uns haben also überlebt.“
„Vielleicht auch nur sechsunddreißig“, sagte Jerry. „Harimoto haben wir ja noch nicht gefunden.“
„Naja, er wird sicher nicht als wandelnde Mumie durchs Schiff schweben“, erwiderte Françoise. Sein Tank war geöffnet und leer, also musste er am Leben sein. Zumindest hoffte sie das.
„Wir sollten ihn suchen“, sagte Jerry.
Die beiden Frauen signalisierten ihr Einverständnis durch vorsichtiges Kopfnicken und folgten ihm bis zur zentralen Kreuzung.
„Ich schlage vor, dass wir uns aufteilen. Françoise, du könntest die Messe und die temporären Wohnquartiere durchsuchen. Betty, du könntest dir das Lager ansehen. Und ich mache mich an den Maschinenraum. OK?“
Sie trennten sich und verschwanden in unterschiedlichen Gängen. Es dauerte nicht lang, bis Jerry aus einiger Entfernung Betty schreien hörte. Er hangelte sich so schnell wie möglich aus dem Maschinenraum in den Verbindungstunnel, weiter zur zentralen Kreuzung, wo er Françoise begegnete, die ihn fragend ansah. Zusammen beeilten sie sich, zu Betty zu gelangen.
„Ist was in der Messe?“, fragte Jerry als sie sich hektisch durch die Tunnel bewegten.
„Keine Ahnung. Betty hat geschrien, bevor ich dort war.“
Als sie in den Lagerraum kamen, verstanden sie, was die Biologin so in Panik versetzt hatte und auch sie überfiel bei dem grausigen Anblick ein Schaudern. In der Mitte des Raums schwebte ein Skelett in grotesk gekrümmter Haltung, gekleidet in der dunkelbraunen Mannschaftsuniform, den leeren Blick zum Eingang gerichtet, so dass es sie direkt ansah. Seine Gliedmaßen waren auf merkwürdige Art und Weise verdreht. Ein Arm zeigte nach hinten unten, während der andere nach vorne oben zeigte. Die Unterarme waren dabei unnatürlich ausgerichtet und zeigten jeweils leicht in die entgegengesetzte Richtung. Ähnlich verhielt es sich mit den Beinen.
Jerry betrachtete die unwirklich wirkende Szenerie, atmete tief durch, überwand schließlich seinen Ekel und ließ sich vorsichtig zu der Leiche treiben. Behutsam griff er die Uniform mit Daumen und Zeigefinger, um sie in eine Position zu bewegen, in der er das Namensschild erkennen konnte.
„Harimoto“, sagte er mit resignierter Stimme. „Es ist der Captain.“
Betty hielt sich beide Hände vor den Mund und begann zu zittern. „Ich will jetzt wissen, was hier los ist!“, rief sie, den Tränen nah.
Jerry merkte, dass die Biologin seine Hilfe benötigte, bewegte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Françoise kam dazu und sie formten ein sich umarmendes Knäuel, das langsam aus dem Lagerraum schwebte. Der junge Mann spürte die Angst und Frustration, die die beiden Frauen erfasste und musste sich eingestehen, dass es ihm genauso ging. Captain Harimoto hatte vor ihrer Abreise stets Zuversicht ausgestrahlt und scheinbar auf jede Frage eine Antwort gehabt. Ihm hatten sie ihre Sorgen anvertrauen können und er hatte sie ihnen stets nehmen können. Wie sollte es ohne ihn weitergehen? Vor allem, da nun klar war, dass etwas furchtbar schief gelaufen war. Und warum war er tot und skelettiert?
„Lasst uns die Sache in der Messe in Ruhe durchdenken“, sagte Jerry.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Die Messe war ein steril wirkender Raum mit beigem Plastikboden und Wänden. Schränke und Regale kleideten zwei Wände aus, in denen Instrumente, Werkzeuge und kleinere Nahrungsvorräte sicher verstaut waren.
Sie hingen in der Mitte des Raumes und dachten über ihre Situation nach. Eine Träne löste sich von Bettys Gesicht und schwebte durch den Raum. Ihr Blick folgte dem sich langsam verformenden Wassertropfen und wieder war es sie, die die Entdeckung machte. „Da hinten. Was ist das?“
Jerry sah in die Richtung und entdeckte eine signalfarbene rote Box, die als einziger Gegenstand auf einem der beigen Regalböden lag und deshalb seltsam exponiert wirkte. Neugierig stieß er sich ab und bewegte sich auf das Regal zu, um sich die kleine Kiste genauer anzusehen. Nach einem kurzen Augenblick wandte er seinen Kopf wieder zu den beiden Frauen. „Ihr werdet das nicht glauben.“
„Was?“, riefen Françoise und Betty beinahe gleichzeitig.
„Diese Box ist an uns adressiert. An uns drei. ‚Für Françoise Beauchamp, Betty Grim und Jerry Miller‘. Das kann doch nicht sein!“ Jerry hob den Deckel ab und betrachtete den Inhalt. „Eine Speicherkarte. Nur eine Speicherkarte, sonst nichts.“
Er nahm die kleine Karte aus der Kiste und betrachtete sie. Dann stieß er sich ab und flog auf den Ausgang der Messe zu. Er hoffte, nun endlich Informationen darüber zu erhalten, wie und warum sie in diese Situation geraten waren.
„Wo willst du hin?“, rief Françoise.
„Kommandozentrale“, sagte Jerry, der den Ausgang bereits erreicht hatte und sich in Richtung Brücke weiter hangelte. „Ich will wissen, was da drauf ist!“
In der Kommandozentrale angekommen, steckte Jerry die Speicherkarte hektisch in den Kartenleser des Zentralrechners und betrachtete ihren Inhalt auf dem Monitor, der über ihm an der Wand hing. „Nur eine einzige Datei. Ein Video.“
„Spiel es ab!“, rief Françoise.
„Was denkst du, was ich hier mache?“, erwiderte Jerry, ruppiger als er es eigentlich meinte. Nervös bediente er einige Menüpunkte des Betriebssystems, um das Video zu starten.
Auf dem zwei Meter breiten Bildschirm erschien formatfüllend das durch Altersflecken gezeichnete und von Falten zerfurchte Gesicht eines greisen Mannes asiatischer Abstammung, dessen lange weißen Haare ihm wirr ins Gesicht hingen.
„Wer ist das?“, fragte Betty.
„Keine Ahnung“, sagte Françoise, die auf den Bildschirm starrte. „Ist das etwa …“
„Hallo“, sagte der Mann in dem Video. „Ich bin Shunsuke Harimoto. Captain der UNSS Void Clearer und Missionsleiter der Kolonisierung von Stargazer-25/7b.“
Alle blickten ungläubig auf den alten Mann, der vorgab Captain Harimoto zu sein. Der Captain Harimoto, der bei ihrem Start fünfundvierzig Jahre alt gewesen war. Sie waren geschockt und unsicher darüber, was sie fühlen sollten. Aber es blieb keine Zeit, die Gefühle zu sortieren, denn der Mann auf dem Bildschirm fuhr fort.
„Wenn alles so gelaufen ist, wie ich es geplant habe, dann sitzen nun Sie vor dem Bildschirm, Françoise, Betty und Jerry, und wir befinden uns in einem stabilen Orbit um unser Ziel.
Und ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“
Als sie ihre Namen hörten stockte ihnen der Atem. Sie fühlten sich wie Figuren in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht verstanden und an dem sie nicht freiwillig teilnahmen. Der Drang, nun endlich zu erfahren, in was sie hinein geraten waren, wurde unerträglich groß und sie gierten danach, dass der Captain weiter sprach. Doch Harimoto zögerte. Offensichtlich fiel ihm nicht leicht zu sagen, was er zu sagen hatte.
„Lassen Sie mich gleich Ihre drängendsten Fragen beantworten.“ Er atmete tief ein und machte einen weitere Pause. Schließlich begann er zu erzählen. „2321 wurde ich von SaCCI geweckt. Ich war dabei ähnlich verwundert, wie Sie es sicher jetzt sind. Glauben Sie mir, das war wirklich eine merkwürdige Situation, so alleine im Schiff.
Aber schnell verstand ich, weshalb er mich geweckt — und damit zu einem einsamen Tod verurteilt hatte.“ Harimoto schluckte. „Denn bis zu unserer Ankunft waren es zu diesem Zeitpunkt noch zweiundneunzig Jahre.“
Jerry blickte zu Françoise, die zu Betty sah, die wiederum mit offenem Mund auf den Bildschirm starrte. Sie wussten, dass auf ihrer Mission ein Wiedereinfrieren nicht vorgesehen war, da nur der Auftauprozess automatisiert ablaufen konnte, das Einfrieren aber menschlicher Überwachung bedurfte.
„Nun, aber SaCCI hatte tatsächlich einen wichtigen Grund, mich zu wecken.“ Seine Augen fokussierten die Kamera. Es wirkte, als sehe er direkt in die Augen von Jerry, Françoise und Betty. „Seine Sensoren entdeckten eine Fehlfunktion an einem Kryotank. Eine Fehlfunktion, die er als KI selbst mit Hilfe seiner Wartungsroboter nicht hatte beheben können.
Nun muss man verstehen, dass SaCCI mit dem Ziel programmiert wurde, die größtmögliche Anzahl lebender Kolonisten ans Ziel zu bringen. Und nachdem der dritte Tank ausgefallen war, entschied er, einen Menschen zu, nun ja, zu opfern, der das Problem beheben sollte.
Seine neuronalen Netze haben ihn letztendlich auf die für diese Aufgabe am besten geeignete und für die Kolonisierung am ehesten entbehrliche Person gebracht.“ Seine traurigen Augen blickten vom Bildschirm auf sie herab. „Mich.“
Harimoto senkte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen. Dann sah er wieder in die Kamera. „Die gute Nachricht ist, ich habe die Ursache für die Fehlfunktion identifiziert, verstanden und bei allen Tanks behoben, auch bei denen, die noch gar nicht betroffen waren.
Eine Dichtung. Es war eine einfache Dichtung, die der Belastung nach zweihundertfünfundfünfzig Jahren nicht mehr gewachsen war. Eine Dichtung …“
Er schlug mit der Handkante auf den Tisch. Tränen lösten sich von seinen Augen und flogen langsam weg von seinem Gesicht. „Seit mehr als sechsunddreißig Jahren bin ich allein. Wegen einer … einer Dichtung.
Ich fühle mich schrecklich einsam.“ Er versuchte zu lächeln. „Und irgendwann langweilen einen auch Go-Partien mit SaCCI, der echt kein guter Spieler ist.
Ich …“ Er zögerte wieder, schluckte, wartete, und fuhr schließlich fort. „Es tut mir leid. Ich … ich konnte mir einfach nicht das Leben nehmen.“ Harimoto verbeugte sich in die Kamera. „Es tut mir leid. Ich war nicht stark genug.“
„Was meint er?“, fragte Betty, die fühlte, dass sie sich nun der Lösung des Rätsels näherten.
Harimoto hob seinen Kopf wieder und sprach weiter. „Ich konnte es nicht tun. Uns Japanern sagt man ja gerne den Geist des Samurai nach und dass wir leidenschaftlich gerne Seppuku begehen würden.“ Er schnaubte verächtlich. „Das ist doch lachhaft! Ich konnte es nicht. Ich wollte es nicht. Ich wollte leben.“ Wieder wartete er und sah dann mit eindringlichem Blick in die Kamera. „Und deshalb habe ich all das hier geplant.“
Jerry, Françoise und Betty sahen sich fragend an. Keiner sagte ein Wort.
Harimoto wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Nach einigen Sekunden sprach er weiter. „Ich halte das hier für den bestmöglichen Kompromiss. Sie, Françoise, Betty und Jerry, Sie sind mein Genesis-Team. Die anderen schlafen weiter, bis Sie sie wecken.
Sie müssen mit den wenigen Mitteln, die Ihnen noch zur Verfügung stehen, die Kolonisierung beginnen und damit die Mission retten. Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Tod nicht sinnlos war. Dass die Jahre meiner Einsamkeit eine Bedeutung hatten. Dass wir gemeinsam etwas Großes erreichen, wie wir es geplant hatten. Auch wenn ich es nicht mehr erleben werde, was mich unendlich traurig macht.“
Sie luden Ausrüstungskisten in eine Landungskapsel. Vorräte, Gerätschaften, Werkzeuge, Saatgut und ihr Habitat.
„Es ist nur verständlich, was er getan hat“, sagte Jerry.
„Sehe ich auch so“, sagte Betty.
„Ich auch“, fügte Françoise hinzu. „Wieviel ist jetzt noch da, sagte er?“
„Ich habe die genauen Zahlen bei SaCCI abgefragt“, sagte Jerry. „Also, von den ursprünglich verfügbaren 14.600 Tagesrationen, die alle vierzig Kolonisten genau ein Jahr lang ernährt hätten — Nachwuchs mit eingerechnet —, hat er in ungefähr siebenunddreißig Jahren 13.495 Pakete aufgebraucht. Bleiben also noch 1.105 Pakete, die drei Personen ein Jahr lang ernähren können.“
„Drei Personen. Ist klar“, sagte Betty. „Aber warum hat er genau uns drei ausgewählt?“
„Zufall war das sicher nicht“, sagte Jerry. „Eine Ärztin, eine Biologin und ein Botaniker. Wir repräsentieren die Grundfunktionen, die nötig sind, um eine Kolonie zu starten. Ingenieure, Mathematiker und Soziologen können wir nach und nach hinzuholen, sobald wir eine stabile Nahrungsversorgung etabliert haben.“
Jerry geleitete die nächste Kiste in die Kapsel.
„Wie geht das eigentlich mit dem Aufwecken?“, fragte Betty.
„Auch das hat Harimoto bedacht“, antwortete Jerry. „Das hier“, er tippte auf die Kiste, die er gerade verlud, „ist ein Fernwartungssystem. SaCCI hält das Schiff im Orbit, bis wir soweit sind und ihm das nötige Kommando schicken. Er startet dann die Aufwachprozedur für die Personen, die wir ausgewählt haben, und wenn sie wach sind, kommen sie mit einer der verbleibenden Kapseln zu uns auf die Oberfläche. Wir haben zweiundzwanzig Kapseln. Wenn wir also immer mindestens zwei auf einmal wecken, sollte es keine Probleme geben.“
Weitere Ausrüstungskisten schwebten in die Kapsel.
„Ich möchte gar nicht daran denken, welche Qualen der arme Kerl durchgemacht haben muss“, sagte Françoise. „Dass er nicht verrückt geworden ist, so alleine hier oben!“
„Hm“, brummte Jerry. „Er war wahrscheinlich mehr Samurai, als er dachte.“
„Ob er sich wohl auch Gedanken über Fortpflanzung gemacht hat und deshalb zwei Frauen und einen Mann gewählt hat?“, fragte Betty. „Ich meine, es gibt ja noch andere Ärzte, Biologen und Botaniker in den Tanks. Und zwei Frauen verdoppeln eben die mögliche Geburtenrate.“
„Bitte!“, sagte Françoise und winkte heftig mit den Händen ab. „An sowas will ich im Moment gar nicht denken.“
„Ich finde solche Gedanken ganz lustig“, sagte Jerry und zwinkerte Betty zu. Alle drei mussten lachen.
Dann kamen vier selbstgebaute Kisten von je zwei Metern Länge. Betty schaute angewidert zur Seite. „Entschuldigung, dass ich euch dabei nicht helfen konnte.“
„Schon gut“, sagte Jerry. Er manövrierte die vierte Kiste in die Kapsel und salutierte. „Ihre letzte Reise beginnt, Sir.“
„Ist er das?“, fragte Betty.
Jerry nickte.
Ein grünes Licht ging an.
„Wir sind über dem Landungsgebiet“, sagte Jerry.
Sie blickten ein letztes Mal ins Innere des Schiffs.
„Genesis-Team bereit zur Kolonisierung“, sagte Jerry. Dann schloss er die Luke und startete die Kapsel.
Abgebremst von Fallschirmen und umgeben von mehreren gigantischen Airbags, landete ihre Kapsel ruppig aber unversehrt in dem vorher ausgewählten Zielgebiet. Die Außensensoren bestätigten die prognostizierten Umweltbedingungen mit Stickstoffatmosphäre, ausreichend Sauerstoff und Temperaturen oberhalb des Gefrierpunktes.
Jerry öffnete die Luke und sie verließen die Kapsel. Die weite, ebene Landschaft, die sich ihnen darbot, war karg, bräunlich, und von spärlichem Pflanzenbewuchs. In Jerry breitete sich ein Gefühl der Erhabenheit ob der unberührten Landschaft aus, er ging auf ein Knie, nahm eine Handvoll Erde, roch daran, und ließ sie durch seine Finger rieseln. „OK“, sagte er. „Sogar besser als OK.“
Sie errichteten das mitgebrachte Habitat und installierten die Sonnen- und Wasserkollektoren. Am Ende ihres ersten Tages auf einer neuen Welt genossen sie den Untergang der fremdartigen roten Sonne und fielen dann erschöpft aber zufrieden in ihre Kojen.
Der nächste Tag war sonnig, mit einem Himmel, dessen blaue Färbung entfernt an die Erde erinnerte, aber deutlich dunkler war. Sie beerdigten die verstorbenen Kolonisten etwas abseits ihres Habitats. Als letztes kam der Captain an die Reihe.
„Wir verabschieden uns hier von einem großen Mann, der angesichts einer aussichtslosen Situation Tapferkeit bewies und das Nötige tat, um seinen Kameraden eine Zukunft zu ermöglichen. Dem trotz seines schrecklichen Schicksals nicht einfach alles egal war, sondern der ehrenvoll handelte.“ Jerry wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge. Seine Hals war geschwollen und seine Stimme zitterte. „So wie man es von einem echten Samurai erwarten würde.“
Françoise und Betty standen hinter ihm, hielten sich in den Armen und weinten leise. Dann warfen alle drei je eine Handvoll Erde in das Grab und begannen damit, es zuzuschaufeln.
Als sie wieder vor ihrem Habitat standen, sagte Betty: „Ist echt hübsch geworden, Françoise.“
Sie blickten auf das weiße Plastikschild, das über dem Eingang hing und auf dem in großen Buchstaben stand: Harimoto-Camp.