Das Gemälde
Das Gemälde
Gleißende Schmerzen zucken durch meinen Kopf.
Endlose Minuten vergehen, bevor ich es schaffe, mich aufzusetzen.
Mein Kopf fühlt sich an, als stecke er in einer Blase, die jegliche Geräusche nur dumpf zu mir durchdringen lässt, in wirres Rauschen verwandelt.
Durch die Schlitze der heruntergelassenen Rollladen fallen schwache Lichtstreifen in den dunklen Raum, in denen Staubpartikel tanzen.
War es erneut dieses Klopfen, das mich aufgeweckt hat?
Seit einiger Zeit höre ich es, meistens in der Nacht.
Da ich jedoch keine direkten Nachbarn habe, kann ich das Geräusch nicht zuordnen.
Wo kommt es her?
Nur das leise Ticken der Uhr durchbricht die plötzlich eingetretene Stille.
Nach einiger Zeit schaffe ich es, mich hinzustellen.
Sofort wird mir schwindelig und ich suche Halt an der kühlen Lehne des Ledersofas.
Die beiden leeren Weinflaschen liegen umgekippt auf dem Wohnzimmertisch, unter ihnen eine Lache der bordeauxroten, süß-herben Flüssigkeit.
Wie spät ist es? Welcher Wochentag ist heute?
Ich habe mal wieder jegliche Orientierung verloren.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es fast acht Uhr am Abend ist.
Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen.
„Langsam“, denke ich, „bevor mir wieder schlecht wird.“
Mit zittrigen Beinen gehe ich in die Küche.
Unter meinen nackten Füßen fühle ich die kalten Fliesen des Küchenbodens, Gänsehaut überkommt mich.
Das Klopfen ist nicht mehr zu hören.
Mein Blick fällt auf das Gemälde im Flur- mein Gemälde.
Es hängt schief.
Während ich es wieder richte, frage ich mich, wie das passieren konnte.
Beide Nägel sind noch fest in der Wand.
Ob es ein Erdbeben gegeben hat?
Den Gedanken verwerfe ich gleich wieder,davon wäre ich sicher aufgewacht.
Zudem hat sich augenscheinlich nichts anderes im Haus verrückt oder verschoben.
Meine Augen verharren auf dem Bild und ich muss unwillkürlich lächeln, als ich mich zurück erinnere.
Zurück an dem Moment, als Thomas und ich an jenem Ort waren.
Das Bild zeigt die Silhouette eines alten Baumes, der an einem großen See steht.
Im Hintergrund erstrecken sich die Berge und das Szenario ist in einen warmroten Farbton getaucht- das Licht des Sonnenuntergangs, der sich im Hintergrund der Berge dezent abzeichnet.
Ich denke an den Moment, an dem das Bild entstanden ist- als ich es malte.
Thomas kommt ins Zimmer, um mich zum Essen zu rufen.
Er hat eine halbe Ewigkeit in der Küche hantiert.
„Judy, das Essen ist fertig,“ sagt er und steht stolz grinsend im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt. Er wartet darauf, dass ich ihm sagte, was für ein toller Koch er doch ist.
Er erblickt mein Gemälde, noch bevor ich es fertig stellen kann.
„Wow, das ist ja wunderschön! Es siehst genauso aus wie unser See.“
„Unser See“- so nannten wir diesen wundervollen Ort immer.
Als wir frisch verliebt waren, hatten wir dieses Örtchen während eines Roadtrips für uns entdeckt und da wir nie gewusst hatten, welchen Namen der See hatte, war er für uns eben „unser See“ geworden.
„Du bist wirklich eine wahnsinnig talentierte Malerin, mein Schatz. Möchtest du das Bild zum Verkauf anbieten?“
„Nein,“ sage ich rasch. „Das ist unser gemeinsamer Ort. Ich wollte diesen Moment für immer festhalten. Ich hänge es im Haus auf.“
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Thomas eine Affäre hatte.
Erst einige Monate nach diesem Gespräch hatte er es mir gestanden.
Noch in derselben Nacht packte er seine Koffer und zog zu ihr.
Das Bild ließ ich hängen.
Ich brachte es nicht übers Herz, es zu verbannen.
Diese Erinnerung verursacht einen bitteren Beigeschmack in meinem Mund, ich spüre Galle in mir aufsteigen und unterdrücke den Reiz, mich zu übergeben.
Verzweifelt starre ich auf das weiße Blatt, doch mir will einfach nicht einfallen, wie und womit ich beginnen kann.
Ich habe schon lange nichts Produktives mehr auf die Beine gestellt.
Trotz einer Tablette wollen die Kopfschmerzen nicht weichen, weswegen ich mir eine neue Flasche Wein aus dem Keller hole und sie schneller leere, als mir bewusst ist.
Mein Magen grummelt.
Vielleicht sollte ich mal wieder etwas essen.
Eine halbe Stunde später kommt das Thaiessen, das ich mir bestellt habe.
Als es kalt geworden ist, wandert es unangerührt in den Mülleimer und ich hole mir eine zweite Flasche Rotwein.
Duck,… duck,... duck,…
Abermals fahre ich hoch, schweißgebadet.
Da ist es wieder- das Klopfen!
Diesmal reagiere ich schneller, unterdrücke den Impuls, mich auf dem Teppich zu übergeben, richte mich auf und gehe schnellen Schrittes in die Richtung, aus der das Geräusch ertönt.
So abrupt es begonnen hat, so abrupt verstummt es auch wieder.
Fassungslos stehe ich vor dem Gemälde.
Es hängt erneut schief.
Der Jim Beam sprudelt über die Öffnung, als ich die Dose an die Lippen setze und den ersten Schluck nehme.
Herb und kalt, der Geschmack meines ersten Urlaubs mit Thomas.
Ich nehme noch einen Schluck, dann noch einen; die Dose ist schon halb leer, aber das ist schon in Ordnung.
Im Kühlschrank stehen noch drei.
Es wird nicht lange dauern, bis diese ebenfalls geleert sein werden.
Meine Tage verbringe ich meistens mit Schlafen, in der Nacht versuche ich, zu arbeiten- was mir momentan nicht so recht gelingen will.
Hauptberuflich male und illustriere ich Bilder für Comics, doch wenn es so weiter geht, wird der Verlag mir bald kündigen.
Ich bin fix und fertig, mein Hirn ist ganz wattig vor Schlaf.
Wenn ich getrunken habe, schlafe ich so gut wie gar nicht.
Ich falle für ein, zwei Stunden ins Koma, dann schrecke ich wieder hoch, krank vor Angst und angewidert von mir selbst.
Irgendwann kommt mir Thomas‘ Stimme in den Sinn.
Sie ist plötzlich in meinem Kopf und ich kann sie nicht unterdrücken.
„Judy? Ich bin`s.“ Seine Stimme ist bleiern, er klingt abgedämpft.
„Hör zu, du musst unbedingt damit aufhören, okay? Das kann so nicht weiter gehen. Bitte Judy, du musst aufhören, mich ständig anzurufen. Du musst dein Leben endlich in den Griff bekommen.“
Der Anrufliste in meinem Handy zufolge habe ich ihn vergangene Nacht viermal angerufen: um 23:02 Uhr, 23:12 Uhr, 23:54 Uhr und um 00:09 Uhr.
Nach der Länge der Anrufe zu schließen habe ich zwei Nachrichten hinterlassen.
Vielleicht hat er sogar einen der Anrufe entgegengenommen, ich kann mich nicht daran erinnern, mit ihm gesprochen zu haben.
Ich sehe ihn vor mir, wie er kopfschüttelnd das Handy zur Seite legt und die neue Frau an seiner Seite in die Arme nimmt.
Das Messer in meinem Herz dreht sich weiter und weiter und weiter.
Irgendetwas liegt auf meinem Gesicht, ich kriege keine Luft mehr, ich ersticke.
Endlich tauche ich -atemlos und mit Schmerzen in der Lunge- wieder ins Wachsein auf.
Ich setze mich auf, die Augen weit aufgerissen, und sehe, wie sich in der Zimmerecke etwas bewegt, wie sich die Schwärze dort verdichtet und allmählich anwächst.
Ich will schon aufschreien- doch dann bin ich endgültig wach und stelle fest, dass da nichts ist, ich aber dennoch aufrecht sitze und meine Wangen tränennass sind.
Der Abend dämmert schon fast, draußen beginnt das Licht, sich gräulich zu verfärben und immer noch trommelt starker Regen gegen mein Fenster.
Sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, dass unten im Keller noch Wein ist.
Als ich fündig werde, schalte ich den Fernseher im Wohnzimmer ein und setze mich aufs Sofa.
Es dauert nicht lange, dann höre ich es wieder: das Klopfen.
Sofort springe ich auf und kippe dabei die halbvolle Flasche Wein um, die ich auf den Couchtisch stehen habe- schon das zweite Mal innerhalb weniger Tage.
Ich ignoriere es und stampfe verärgert in den Flur, kurz vor der Küchentüre bleibe ich stehen, starre ungläubig die Wand an.
Das Bild hängt schon wieder schief.
„Was willst du denn von mir?!“ schreie ich wütend und reiße es von der Wand.
Ich bin gerade auf den Weg in den Garten, als ich innehalte.
Das Bild rauszuschmeißen bringe ich einfach nicht übers Herz, dazu bin ich noch nicht bereit.
Ich drehe mich wieder um und hänge es langsam und sorgsam hin.
In dieser Nacht versuche ich, endlich ein Ergebnis fertigzustellen, das ich dem Verlag präsentieren kann.
Etwas, das sie ein wenig besänftigen wird, denn heute Mittag habe ich einen wütenden Anruf erhalten.
Ich habe erneut eine Frist verstreichen lassen und langsam werden sie ungeduldig.
Entgeistert starre ich auf das noch immer weiße Zeichenblatt vor mir.
Nur mühsam unterdrücke ich den Impuls, das Blatt abzureißen und zusammengeknüllt in den Mülleimer zu stopfen.
Von unten dringt das Klopfen zu mir hinauf, es hält sich jetzt seit einer Viertelstunde dran, treibt mich in den Wahnsinn, ich spüre die Erschütterungen unter meinen nackten Füßen auf den Holzdielen.
Es pulsiert wie ein gigantisches Herz im Inneren meines Hauses.
Doch ich vermeide es, nach unten zu gehen.
Ich weiß, was ich dann vorfinden werde.
Erst als nach fast einer halben Stunde Ruhe eintritt, gebe ich nach und steige die Treppe hinab.
Den Blick demonstrativ abgewandt gehe ich an der Wand vorbei, an der das Gemälde hängt.
Ich will und kann es jetzt nicht ansehen.
Mit einer neuen Flasche Wein mache ich es mir wieder vor dem Fernseher bequem, falle jedoch sofort in einen tiefen, unruhigen Schlaf.
Das grelle Rauschen des Fernsehers lässt mich aus dem Schlaf schrecken.
Sofort sitze ich aufrecht und brauche einen Moment, bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann.
Auch jetzt brummt mir der Schädel, ich spüre Galle in mir hochkommen.
Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen?
Etwas Richtiges und nicht die alten Chips, die ich im Schrank unter der Küchenspüle gefunden und gestern gefrustet in mich reingestopft habe.
Seufzend und stöhnend stütze ich den Kopf in meine Hände, starre auf den staubigen Parkettboden, der dringend wieder gewischt werden sollte.
In meinem Inneren höre ich wieder Thomas´ Stimme: „Das kann so nicht weiter gehen... Du musst dein Leben endlich in den Griff bekommen.“
Wie ein Echo verhallt sie in meinem sonst so leeren Kopf.
Natürlich hat er Recht, so kann es wirklich nicht weiter gehen.
Aber hat er nicht Schuld an meiner momentanen Verfassung?
Schließlich hat er mich von heut auf Morgen für eine Andere verlassen.
Für eine Sophia, oder wie dieses eiskalte, männerstehlende Miststück auch immer heißen mag.
Bin ich wirklich so abstoßend, dass er mich gegen so eine Schlampe eintauscht?
Vor der Trennung habe ich gerne mal auf Partys etwas getrunken- ich habe mich jedoch niemals dermaßen zugeschüttet, wie ich es heute tue um all meinen Kummer zu ersaufen.
Heute gehe ich nicht mehr auf Partys.
Die meisten unserer alten Freunde haben sich abgewendet und verbringen nun Zeit mit Thomas und Sophia, dem neuen Traumpaar.
Es ist ja nicht so, als wenn sie mich nicht immer gewarnt hätten, dass dies eintreffen würde, wenn ich das Trinken nicht endlich sein lassen würde.
„Ich hab alles unter Kontrolle,“ sage ich immer.
Doch das ist eine Lüge, denn ich habe schon lange nichts mehr unter Kontrolle.
Ich bemerke die Tränen, bevor sie sich einen Weg über meine Wangen bahnen können.
Verstohlen wische ich sie mit dem Ärmel meines Pullovers weg, als müsste ich irgendjemanden etwas vormachen.
Während der Bewegung halte ich erschrocken inne.
Auf meiner rechten Hand ist ein großer, hartgewordener Fleck schwarze Farbe.
Wie kommt die dahin?
Ich habe mein Arbeitszimmer im Obergeschoss doch beim letzten Mal erneut ohne vorzeigbare Beweise verlassen.
Ich stehe auf und mache mich in den Weg in Badezimmer, um die Sauerei abzuwaschen.
Auf dem Weg komme ich an dem Bild vorbei.
Zufrieden stelle ich fest, dass es diesmal nicht schief hängt.
Beim Vorbeigehen werfe ich einen näheren Blick darauf.
Was ich dann sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
Das Bild zeigt die Silhouette eines alten Baumes, der an einem großen See steht. Im Hintergrund erstrecken sich die Berge und das Szenario ist in einen warmroten Farbton getaucht- das Licht des Sonnenuntergangs, der sich im Hintergrund der Berge dezent abzeichnet.
Das ist die Szene des Gemäldes, das ich vor einiger Zeit gemalt habe- als ich noch glücklich und verliebt war, als mir noch nicht das Herz entrissen und darauf rumgetrampelt wurde.
Von ihm. Von Thomas.
Doch das was da nun in meinem Flur hängt, ist nicht mein Bild.
Dieses Bild hier ist anders.
Neben dem Baum ist eine Gestalt.
Schattenhaft und nahezu unbekümmert sitzt sie dort und scheint ihren Blick über den See schweifen zu lassen.
Ich merke, wie eine Gänsehaut mich überkommt und ich unwillkürlich einen Schritt nach hinten mache.
Das kann nicht sein.
Wo kommt die Gestalt her?
Ich habe sie nicht dorthin gemalt und es kann niemand sonst in mein Haus gelangt sein, denn niemand außer mir hat einen Schlüssel und die Türen und Fenster verschließe ich jeden Abend und kontrolliere sie noch einmal.
Als ich noch ein Kind war, ist bei uns zuhause zweimal eingebrochen worden.
Seitdem vergesse ich nie, ein Fenster und eine Türe zu schließen, es ist mir in Fleisch und Blut übergegangen und für mich so selbstverständlich wie das Atmen.
Mein Puls beschleunigt sich und ich habe plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
Ein warmer Atem streift über meinen Nacken, ich kann diese unheimliche Nähe spüren und höre leise, aber schweres Atemzüge.
Mein Körper versteift sich und ich wage es nicht, mich zu bewegen.
Ich fühle mich wie eine Gefangene in meinem eigenen Körper, mir ist kalt und gleichzeitig heiß vor Angst.
Langsam drehe ich meinen Kopf und werfe einen Blick über meine Schultern, gefasst darauf, meinem Angreifer ins Gesicht zu sehen.
Doch hinter mir ist nichts.
Auch die Gestalt im Bild ist plötzlich verschwunden, als hätte sie nie existiert.
Ich bin alleine.
Wütend reiße ich das Papier vom Zeichenblock, zerknülle es und werfe es auf den Boden neben meinem Schreibtisch zu den anderen misslungenen Werken.
Ich schenke mir den kalten Whiskey aus der Flasche nach.
Nachdem ich das dritte Glas geleert habe, verzichte ich aufs Einschenken und trinke direkt aus der Flasche.
Eigentlich gibt es keine Veranlassung, weshalb ich die letzten Nächte wie eine Besessene durchgearbeitet habe.
Denn vermutlich werde ich jetzt, da ich einen neuen wichtigen Abgabetermin habe verstreichen lassen, nie wieder einen Auftrag erhalten, weswegen es mir eigentlich freigestehen würde, nur noch das zu zeichnen, was ich will.
Wenn der Verlag anruft, gehe ich nicht mehr ans Telefon.
Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich sie noch vertrösten soll.
Es dauert nicht lange, bis ich das Klopfen wieder höre.
Erst leise, dann steigert es sich weiter, stetig, bis es irgendwann so laut wird, dass ich es kaum noch aushalte.
So kann ich mich nicht konzentrieren.
Duck, duck, duck…
Ich halte inne und verharre einen Moment in meiner Bewegung.
Duck, duck, duck…
Es soll aufhören. Dieses Klopfen soll einfach nur noch aufhören.
Duck, duck, duck…
Ich ertrage es nicht mehr. Ich kann es einfach nicht mehr hören!
Duck, duck, duck…
Ich drehe bald durch. Wieso hört es nicht einfach auf?
Duck, duck, duck…
Geräuschvoll knalle ich den Zeichenstift auf meinen Schreibtisch, es gibt einen lauten Knall.
Duck, duck, duck…
Ich stütze mein Gesicht in meine Hände und beginne zu heulen.
Die Sache wächst mir einfach über den Kopf.
Duck, duck, duck…
Einen Moment lang kehrt Ruhe ein. Es scheint aufgehört zu haben.
Doch dann-
Duck, duck, duck…
Es reicht! Ich springe auf, der Stuhl kippt nach hinten, fällt mit einem lauten Scheppern zu Boden.
Mit lauten Schritten durchquere ich mein Arbeitszimmer, und reiße die Türe auf.
„Was willst du, verdammt noch mal?!“
Meine wütende Stimme hallt im leeren Haus wider.
Die Antwort kommt fast zeitgleich mit meinem Gebrüll: Duck, duck, duck…
Sofort stürme ich die Treppe runter, mein Puls ist ins Unermessliche gestiegen, mich überkommt eine unbeschreibliche Wut und mit einem Mal kommt alles hoch.
Vor dem Bild bleibe ich stehen und starre entgeistert darauf.
Meine Innereien verkrampfen sich, mein Herz mach einen Sprung.
Die Gestalt ist wieder da, doch sie sitzt nicht mehr neben dem Baum.
Sie steht mitten im Bild.
Und obwohl es nur ihre Silhouette ist, die sich dunkel auf meinem Gemälde abzeichnet, weiß ich, dass sie mich anstarrt.
Blindwütig reiße ich das Bild von der Wand.
„ES REICHT!“ schreie ich erzürnt und laufe schnellen Schrittes zur Hintertüre, den schweren Rahmen fest in der Hand haltend.
Als ich die Türe aufreiße, weht ein kühler Wind hinein, er umschließt meine nackten Füße.
Wann war es eigentlich so kalt geworden?
Voller Abscheu hole ich aus und schmettere das widerliche Gemälde auf die geflieste Terrasse.
Beim Aufprall zerschellt der Rahmen sofort in unzählige Einzelteile.
Ich werfe ihm noch einen letzten Blick zu, bevor ich mich umdrehe und die Türe hinter mich ins Schloss werfe.
Nachdem sie sicherheitshalber zweimal verriegelt habe, stürme ich in die Küche und reiße die Türe des Kühlschranks auf.
Sofort greife ich zu einer halbleeren Flasche Rotwein.
Gierig leere ich den letzten Schluck in einem Zug.
Ich unterdrücke abermals einen Brechreiz und fasse den Gedanken, zurück in mein Arbeitszimmer zu gehen und weiter zu arbeiten.
Doch als ich mich umdrehe, halte ich in der Bewegung inne und erstarre.Das Bild hängt an der Wand. Es ist unversehrt.
Entgeistert starre ich darauf.
Das kann nicht sein. Das ist einfach nicht mehr real.
„WAS WILLST DU VON MIR?“ brülle ich laut und mit Nachdruck.
„LASS MICH ENDLICH IN RUHE!“
Mit einem lauten Scheppern schmeiße ich meine Flasche gegen das Bild.
Ich verfehle nur knapp und treffe die Wand, auf der ein dunkler Fleck zurückbleibt.
Abermals habe ich das beklemmende Gefühl, nicht alleine zu sein und beobachtet zu werden.
Abrupt drehe ich mich um und da steht sie. Mitten im Raum.
Dunkel und bedrohlich. Die Gestalt von meinem Bild.
In dem Moment, in dem mein Herz vor Panik aussetzt, fällt das Licht im gesamten Haus aus…
Prolog
„Und hier haben wir das große Wohnzimmer, hell und sonnendurchflutet.“
Die Maklerin lächelt freundlich. Es ist ihr Job, freundlich zu sein.
„Gebe den Leuten das Gefühl, dass du sie magst und sie fressen dir aus der Hand. Gebe ihnen das Gefühl, dass du ihr Freund bist, und sie kaufen alles, was du ihnen vorlegst,“ sagt ihr Chef immer.
Ihre Gedanken kreisen bereits um die Provision, die sie für den Verkauf dieses Hauses erhalten wird.
Damit würde sie endlich den langverdienten Urlaub auf den Bahamas machen können, den sie und ihr Ehemann schon so lange geplant hatten.
Aufmerksam mustert sie das Pärchen.
Sie kann anhand ihrer Mimik erkennen, dass sie positiv überrascht sind.
„Ich finde es einfach umwerfend,“ sagt die junge Frau, die rechte Hand schützend auf ihren kugelrunden Bauch gelegt.
„Da stimme ich zu,“ sagt ihr frischgebackener Ehemann. „Es ist wirklich toll. Wie viel Zimmer sind im Obergeschoss?“
„Drei,“ antwortet die Maklerin knapp und lächelt weiterhin.
Das Pärchen tauscht freudige Blicke aus und sie versteht, dass die beiden unbedingt nach einem Haus mit einem Kinderzimmer für ihren baldigen Nachwuchs gesucht haben.
„Ab wann wäre das Haus bezugsfertig?“ fragt der Mann und ihr entgeht nicht, dass er ungeduldig ist und am liebsten sofort einziehen würde.
„Sofort,“ lautet ihre Antwort.
„Sofort?“ fragt die junge Frau. „Aber was ist mit dem Vorbesitzer?“
Sie möchte ihre Kunden nicht anlügen und beschließt, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie vielleicht ein wenig abschreckend sein könnte:
„Die Vorbesitzerin ist vor fast einem Jahr spurlos verschwunden.“
Stille macht sich breit, doch damit hat sie gerechnet.
„Wie…wie meinen sie das?“ Es ist der Mann, der fragt, seine junge Frau scheint noch etwas geschockt zu sein.
„So wie ich es sage. Die Vorbesitzerin ist verschwunden. Man fand nie eine Spur von ihr und es erweckte auch nicht den Anschein, als hätte sie ihr Verschwinden geplant. Es war, als wäre sie wie vom Erdboden verschluckt worden.“
„Glauben… Glauben Sie, dass ein Gewaltverbrechen vorliegt?“ fragt die Schwangere mit leiser Stimme.
Sofort schüttelt die Maklerin den Kopf.
„Es gab keinerlei Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen und auch nicht für ein Gewaltverbrechen. Machen Sie sich keine Sorgen. Dies ist eine der sichersten Gegenden in dieser Stadt.“
Dann jedoch senkt sie die Stimme und sagt: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie starke psychische Probleme und ein großes Alkoholproblem hatte.“
Als sie beschließen, die Führung im Obergeschoss weiterzuführen, bliebt die junge Frau abrupt stehen.
Neugierig und interessiert schaut sie auf etwas, das an der Wand hängt.
„Das ist ja wunderschön,“ sagte sie und fährt mit den Händen den Rahmen des Bildes entlang.
„Oh, das ist von der Vorbesitzerin. Sie war eine unheimlich talentierte Künstlerin. Ist dieses Bild nicht atemberaubend? Wir haben es für die Hausbesichtigungen hängen lassen, da wir das Loch dahinter noch nicht geflickt haben. Es gab Probleme mit den Heizungsrohren, die immer ein klopfendes Geräusch verursacht haben. Wenn Sie möchten, entfernen wir das Bild selbstverständlich vor Ihrem Einzug.“
„Oh nein,“ wirft die junge Frau sofort ein. „Ich finde es wunderschön. Es soll hängen bleiben.“
Das Bild zeigt die Silhouette eines alten Baumes, der an einem großen See steht.
Im Hintergrund erstrecken sich die Berge und das Szenario ist in einen warmroten Farbton getaucht- das Licht des Sonnenuntergangs, der sich im Hintergrund der Berge dezent abzeichnet.
Neben dem Baum stehen sie, dezent und unauffällig.
Die Silhouetten eines Mannes und einer Frau.
-Ende-