Das Gemälde des Vaters
Das Gemälde des Vaters wurde inspiriert durch folgendes
Bild
Es wird mein Lebenswerk dich zu zeichnen, Vater, oh ja! Mein Meisterwerk wird es werden. Bis jetzt habe ich ja nur eine Skizze von dir, so wie ich Skizzen von vielen Menschen habe. Skizzen sind leicht anzufertigen: Einmal kurz hingesehen, einmal kurz den Bleistift geschwungen und, voilà! fertig ist die Skizze. Jeder hat diese einfachen Skizzen, macht sie jeden Tag. Aber genau hinzusehen, alles erfassen, was vor einem liegt, all das Schöne, all das Hässliche, den Hass und die Liebe, das alles zu begreifen oder den Versuch machen es begreifen zu wollen, ich denke, davor fürchten sich die meisten. Und auch ich fürchte mich! Oder bin ich nur zu faul mir die Arbeit des Hinsehens zu machen? Ich weiß es nicht und es ist jetzt auch egal. Skizzen habe ich Tausende, aber ein Gemälde, mein Vater, ein Gemälde bekommst nur du. Nur du verdienst eines!
Und darum sitze ich auch jetzt hier vor der Leinwand. Habe Hunderte Pinsel, Federn und Farben, Ölkreiden, Aquarellfarben, Kohle, einfach alles, dazu Wasser und Seife, ein Tuch für überschüssige Farbe, die an meinen Fingern hängen bleiben könnte, Abdeckpapier, Seidenpapier, Tintenlöscher und vieles mehr. Ich habe an alles gedacht. Ich habe die Skizze, die ich von dir gemacht habe, vor mich auf die Leinwand gespannt. Ich werde einfach darüber zeichnen, sodass die Skizze verschwindet. Niemand soll merken, dass ich je eine Skizze von dir hatte. Jeder soll das Bild sehen. Es wird ein Meisterwerk werden.
Ein Mal tief durchgeatmet und es geht los! So, womit fang ich an? Mit deinem Kopf werde ich beginnen. Hier finden sich gar schöne Ansätze an der Skizze: Blondes Haar, blaue Augen, Bart. Ja, gar nicht schlecht, muss ich sagen. Man erkennt dich, ganz klar. Das ist mein Vater. Nur dein Haar ist nicht blond. Es ist grau. Wieso habe ich es blond gemacht? Du hattest doch schon immer graues Haar, nie habe ich dich blond gesehen. Ich male dir graue Haare, ein Zeichen des Alters und der Weisheit. Jedoch auch des Todes und der Vergänglichkeit. Es schaudert mir, aber wer den Pfad der Skizzenzeichnung verlässt, um ein Gemälde zu malen, muss damit rechnen. Die Wahrheit ist nicht immer einfach.
Aber die Wahrheit ist wahr, und darum geht es mir hier, Vater. Darum mache ich jetzt weiter. Ich male deine Augen, lasse Freude am Leben darin erkennen, Freundlichkeit und Güte... Wo ist das Deckweiß? Warum habe ich nicht ans Deckweiß gedacht??? Jetzt ist es schwer, deine Augen zu ändern. Aber es wird schon gehen. Hier geht sich noch etwas Grant aus, etwas Traurigkeit. Und hierhin kommt die Bosheit, mit der du so oft auf mich herabgeblickt hast. Bosheit, die deine Augen in mein Herz brannten. Ich muss es aufmalen, es ist ein Gemälde.
So ist es gut, nun ja, nicht gut, aber wahr. Jetzt male ich dir hohe Wangenknochen und ein eckiges Kinn. Nun kommt dein Mund an die Reihe, dann ist dein Gemälde fertig!!!
Ich male dünne Lippen und ein Lächeln. Nur ein schiefes Lächeln. Du hast nie ganz gelacht, immer nur mit einem Mundwinkel. Der andere ist ernst geblieben. Es hat auch nur ein Auge mitgelacht, eine Augenbraue ist dir in die Höhe geschossen und deine Stirnfalten, die du beim Lachen bekommen hast, haben auch eine Seite bevorzugt. Wie soll ich dich denn so zeichnen? Dich, mit deinen halben Gefühlen? Du hast nie ganz gelacht, etwas in die blieb immer ernst. Du warst aber auch nie ganz böse, stets strahlte diese dunkle Güte in dir. Wie soll ich so etwas malen? Wie soll ich mein Gemälde so fertig stellen?
Ich nehme ein Stück Kohle und ziehe einen dicken schwarzen Strich durch die Mitte deines Gesichtes. Eine Seite so, die andere Seite so. Jetzt ist dein Gemälde fertig, Vater! Eine Seite lacht mit mir, die andere Seite weint mit mir. Mit einer Seite deines Gesichtes erzählst du mir, ich solle Gutes tun, das Böse meiden, solle höflich und anständig sein. Mit der anderen Seite deines Gesichtes versuchst du mir zu erklären, warum das nur für mich gilt, nicht für dich. Ein Auge lacht über meine vorlauten Witze, das andere brennt in mein Herz die Worte „Halt deinen Mund!“. Ein Teil deines Gesichtes schimpft mit mir und droht mich zu fressen, der andere Teil schaut gütig über meine Fehler hinweg und lobt mich für meine Einsicht. Ein Teil deines Mundes erzählt stolz darüber, wie du nach dem Krieg alles wieder aufgebaut und dich von den Nazis nie hast unterkriegen lassen, der andere Teil ruft 1939 auf dem Heldenplatz „Heil Hitler“.
Altes Fleisch spannt sich unter der grauen Haut wenn du brüllst, die Familie sei das Wichtigste, aber sie spannt sich auch, wenn du dein Bier trinkst und Mutter verprügelst. Ein Teil liebt mich, ein Teil hasst mich...
Oh, wie sehr sehne ich mich nach der Skizze.
Wo ist das Benzin? Und wo sind die Streichhölzer? Dieses Durcheinander!
Dein Gemälde ist fertig, aber was hat es gebracht? Wo ist denn nun das verdammte Benzin???
Skizzen sind leicht anzufertigen: Einmal kurz hingesehen, einmal kurz den Bleistift geschwungen und, voilà! fertig ist die Skizze. Einfach und effektiv. Man verdirbt sich nicht die Augen vom Hinsehen und man ermüdet auch nicht die Hand vom Malen. Der Geist bleibt frei für wichtigere Dinge. Und vor allem: Skizzen fertigt man sehr schnell an. Ich kann das sogar schneller, als eine Leinwand benötigt, vollständig abzubrennen.
[Beitrag editiert von: Peter Hrubi am 03.04.2002 um 11:19]