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- 29.11.2009
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Das gelobte Land
Es war kalt, grau in grau und nieselte. Selbst in unserem Wohncontainer spürte man mangels ausreichender Heizung noch die nasse Kälte. Aber ich musste nach draußen. Harun und ich wollten abends etwas essen. Und auch trinken. Da wir - natürlich nur sehr wenig - Geld bekommen hatten, um uns selbst zu versorgen, mussten wir einkaufen.
Es dämmerte zu allem Überfluss, und der Weg wurde durch die wenigen Laternen nur spärlich beleuchtet. Zu Hause wurde jetzt, gerade zu dieser Zeit, besonders viel geschossen. Vater hatten sie schon früh abgeholt und gefoltert. Anschließend war er im Gefängnis gestorben. Eine Zeit lang hatte noch Mutter für uns gesorgt. Für mich musste sie nicht ganz so viel tun. Ich war immerhin schon vierzehn. Aber Harun war noch so klein, erst sieben, und gar nicht kräftig. Mutter hatte oft geweint, wegen Papa.
Und dann waren Soldaten gekommen. Sie hatten sie ins Schlafzimmer gezerrt. Mama schrie, flehte und bettelte. Dann ein lautes Stöhnen eines der Soldaten und ein Schrei von Mama, wie ich ihn noch nie von einem Menschen gehört habe. Schließlich ein Röcheln, ein Schuss, Stille!
Die Soldaten verließen eilig unsere von Bomben und Granaten halb zerstörte Wohnung. Ich traute mich kaum, ins Schlafzimmer zu sehen. Da! Auf dem Bett lag sie, den Rock bis zum Bauch hochgezogen. Ohne Höschen. Ein Loch in der Stirn. Das ganze Kopfkissen war blutig. Ich sehe es heute noch vor mir.
Onkel Said und Tante Sheila nahmen uns mit. Wir konnten gar nichts mitnehmen, denn wir hatten nichts mehr, was das Mitnehmen gelohnt hätte. Wir wanderten in der Nacht, und am Tag schliefen wir im Wald, immer mit der Angst, sie würden uns alle auch noch töten. Endlich kamen wir an die Grenze.
„Da ist sie, die Türkei, unsere Rettung!“, rief Onkel Said aufgeregt.
Ein Knall, ein Aufprall in seinem Rücken, und er fiel vornüber. Wir rannten um unser Leben.
Nach langer, beschwerlicher und entbehrungsreicher Reise erreichten Harun und ich das Land, von dem wir nur aus Erzählungen wussten. Ein reiches und friedliches Land im Norden – das gelobte Land?
Wir mussten angeben, wie wir heißen und woher wir kommen. Dann nahm man unsere Fingerabdrücke. Schließlich wies man uns beiden einen Wohncontainer zu, so groß wie ein kleiner Wohnwagen. Er war einer von Hunderten. Und alle waren bewohnt, von Leuten aus unserem Land, aber auch aus anderen Ländern, wo ebenfalls geschossen, geplündert und vergewaltigt wurde, wo man folterte und mordete. Massenhaft.
Die Wohncontainer wurden bewacht. Aber sie konnten nicht verhindern, dass es Streit, Schlägereien, Rauschgift, Diebstahl und Vergewaltigung gab. Die Wachleute waren sogar zum Teil selber kriminell und versuchten, von den kriminellen Machenschaften im Lager zu profitieren. Ihnen kam man besser nicht in die Quere. Die Gemeinschaftstoiletten waren einerseits ein Alptraum, was die Hygiene anging, andererseits ein Ort, wo das Verbrechen im Lager Raum hatte.
Ich versuchte, Harun zu schützen, so gut es ging. Dennoch hatte er, weil er klein und schwach war, vieles zu ertragen. Ich weinte jede Nacht. Um ihn, denn er ist das Einzige, was mir noch geblieben ist, um Papa und Mama. Und um Onkel Said. –
Wir bekamen schließlich Kleidung für den Winter und ein bisschen Geld, um für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Da sie Harun schon einmal bestohlen haben, nahm ich alles an mich. Wir wanderten eine dreiviertel Stunde durch die einsetzenden Dämmerung in die Richtung, in welcher der Supermarkt lag, zu dem alle aus unserem Lager liefen, oft mehrmals am Tag, um die Zeit totzuschlagen, denn es dauerte oft Monate, bis man Bescheid bekam, ob man bleiben durfte.
Der Weg war zwar teilweise geteert, der andere Teil aber war unbefestigt und natürlich an einem Tag wie heute eine einzige Matschpiste. Ich nahm Harun an die Hand, und wir beeilten uns, so gut es ging, denn wir hatten Angst. Angst vor den Leuten aus dem Lager, nicht vor allen, aber vor manchen. Heute aber trafen wir keinen von ihnen. Angst aber hatten wir auch vor den Bewohnern des fremden Landes. Sie hatten einmal zu Hunderten vor dem Zaun unseres Lagers gestanden, mit Fackeln und Transparenten, und laut und hasserfüllt gebrüllt. Eine Reihe von Polizisten verhinderte es damals, dass sie das Lager stürmten. Nicht auszudenken, was ohne sie geschehen wäre. Noch heute steht jeden Tag ein Wagen mit Polizisten vor dem Lager.
Und es war noch etwas geschehen. In einer der großen Städte des Landes, in dem wir nun lebten, hatten solche Leute wie die, die vor unserem Lager gestanden hatten, mehrere Leute aus unserem Land gehetzt und zu Tode geprügelt. Das wusste nun jeder, der als Flüchtling in dieses Land gekommen war, und alle hatten Angst, dass es ihnen genauso gehen konnte. –
Harun weinte, weil ihm die Beine weh taten. Ich zog ihn immer weiter. Schließlich stolperte er und fiel der Länge nach in den Matsch. Das war kurz vor dem Supermarkt. Eine junge Frau aus unserem Land half ihm auf, strich ihm über das Haar und tröstete ihn. Ich musste plötzlich weinen. Wie gerne hätte ich es gehabt, wenn sie bei mir das Gleiche getan hätte. Aber ich war schon fast erwachsen. Ich musste allein klarkommen. –
Immer wenn wir den Supermarkt betraten, glaubten wir, wir seien in einer anderen Welt. Was hatten die Leute in diesem Land für einen Luxus. Was sie alles kaufen konnten. Aber hatten sie auch genug Geld dafür? Wenn wir in ihre Einkaufswagen schauten, glaubten wir, sie seien alle Millionäre. Wir jedenfalls hatten lange nicht so viel Geld, um einen dieser Einkaufswagen auch nur zu einem Viertel zu füllen.
Wir kauften Nudeln und Tomatensauce für unser Abendessen. Harun wünschte sich eine Cola und etwas Schokolade. Unser Budget reichte gerade noch. Als wir den Laden verließen, hatte ich eine Plastiktüte mit den gekauften Sachen in der Hand. Harun bettelte, die Schokolade sofort essen zu dürfen. Ich gab sie ihm, und er gab mir einen Riegel ab.
Wir gingen durch die Dunkelheit den langen Weg zu unserem Lager zurück. Dabei trafen wir auf zwei junge Männer aus unserem Land, die bei dieser Kälte noch Sandalen an den Füßen trugen und nur im T-Shirt unterwegs waren. Neben uns auf der breiten Straße fuhren die Einheimischen mit ihren großen Autos entlang. Ein Geländewagen reihte sich an den nächsten. Die Leute mussten hier Unmengen an Geld verdienen. Unsere Eltern hatten auch ein Auto besessen, einen alten, gebrauchten Wagen, den sie nur manchmal fahren konnten, weil er sehr viel Benzin brauchte, was wir kaum bezahlen konnten. –
Zurück im Lager kochten wir in der Gemeinschaftsküche unsere Nudeln. Wir mussten warten, bis eine Familie, die vor uns an der Reihe war, gegessen hatte. So wurde es spät. Die Leute erzählten, dass unsere Gastgeber bald keine Flüchtlinge mehr aufnehmen würden, und dass von denen, die bereits da waren, viele zurückgeschickt werden würden. Alle hatten Angst, zurück in ihre Länder zu müssen. Zwei junge Mädchen weinten deshalb. Sie wussten, was sie dort erwartete.
Aber ich kann nicht glauben, dass die Leute in diesem Land tatsächlich so hart sind. Normalerweise müssten doch die Menschen, wenn es ihnen so gut geht wie vielen in diesem Land, anderen ein bisschen von ihrem Reichtum abgeben können. Bei uns zu Hause jedenfalls gibt jeder dem anderen ab, wenn er es braucht. Das ist bei uns so Sitte. Sie sehen doch, wie es uns geht und wissen, was wir erlebt haben! Außerdem wollen wir auch etwas für unsere Gastgeber tun und arbeiten, um uns selbst versorgen zu können. –
Während ich noch nachdachte, gab es Streit zwischen Flüchtlingen, die verschiedene Religionen hatten. Die Christen sagten, die Muslime seien daran schuld, dass unsere Gastgeber so hart sein wollten. Die Muslime wollten das nicht auf sich sitzen lassen, und so gab es eine Schlägerei. Fast hätten sie auch Harun und mich geschlagen. Aber wir konnten gerade noch rechtzeitig fliehen.
Nun sitzen wir hier in unserem Wohncontainer. Ich muss an unsere Eltern und Verwandten und meine Freunde in unserem Land denken. Es tut so weh, dass so viele von unseren Leuten tot sind oder vermisst werden. Wir sind so allein, und das Land, in dem wir uns befinden, ist so fremd und unheimlich.
Ach, wäre doch alles noch so, wie vor sieben Jahren, als Harun geboren wurde und bei uns noch Frieden herrschte! Aber so wird es nie wieder werden. Vielleicht kommen wir nie wieder nach Hause, und vielleicht sind bereits all unsere Leute jetzt tot. Ich weiß nicht, warum dies alles geschieht. Aber am liebsten wäre ich jetzt bei Papa und Mama im Himmel. –