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Das Geisterkind
Keiner von uns hatte Lust auf den Wochenendausflug. Tante Dagi feierte Geburtstag und wollte uns alle gern dabei haben. Wir Kinder übernachteten nebenan in einer Ferienwohnung, die über einem kleinen Museum lag. Das war immerhin spannender als in Tante Dagis Wohnzimmer, wo meine Eltern schliefen. Ich teilte mir mit Mia und Anna ein Zimmer und unsere Cousins das andere.
Im Museum gab es eine Puppenstubenausstellung mit prachtvollen Häusern, in denen gekocht und getanzt wurde. Und angeblich sollte es in einigen spuken, wie mir die Kassiererin ins Ohr flüsterte.
Herr Dickhöfer, der Museumschef, war ein kleiner, schmächtiger Mann und ermunterte uns, Ein-Eurostücke in die Puppenstubenautomaten zu werfen. Und als die Affen turnten und die Puppen auf einem Karussell kreisten, glaubte ich, dass eine mich anlächelte. Ja wirklich! Immer wenn sie auf ihrem Elefanten an mir vorbeisauste, zwinkerte sie mich verschwörerisch an.
„Da zwinkert eine!“, rief ich lauter als beabsichtigt und alle lachten mich aus.
Die Ferienwohnung war kuschelig und unsere Zimmer nett eingerichtet. In unserem Raum gab es sogar eine Puppenstube auf einer Kommode.
Wir hatten es uns auf dem Bett gemütlich gemacht und die erste Tüte Chips geöffnet, als wir ein komisches Geräusch hörten wie ein leises Trappeln.
„Haben wir etwa Mäuse im Zimmer?“, fragte Mia.
„Igitt, hoffentlich nicht“, meinte Finn, der schon den Hamster seiner Schwester nicht mochte.
Aber das war noch nicht alles.
In der Puppenstube brannte plötzlich Licht!
„Die hat bestimmt eine Zeitschaltuhr“, meinte Jan und schob sich erst mal eine Handvoll Chips in den Mund.
„Aber das Puppenhaus ist nicht einmal an der Steckdose“, bemerkte Anna.
Es gab auch keine Batterien, das Licht brannte auf unheimliche Weise von allein.
Als wir es näher untersuchten, entdeckte ich etwas noch Gruseligeres.
In den winzigen Lampenschirmen steckten nicht einmal Glühbirnen!
„Nichts kann leuchten, einfach so“, sagte Anna.
Das Licht flackerte rot, als wären die Wände der Puppenstube voller Blut.
„Ich will euch keine Angst machen“, fing Jan an. „Aber ich habe gehört, dass es Geisterlichter gibt.“
„Willst du sagen, dass es hier tatsächlich spukt?“, meinte Mia und drückte ihren Teddy enger an sich. „Ich will nach Hause und keinen Tag mehr hier bleiben.“
„Jetzt bleibt mal locker“, sagte Jan, aber ich spürte, dass er nur so tat, als wäre er cool, was mir Angst machte.
Beim Frühstück in Tante Dagis Wohnung glaubte uns von den Großen niemand. Kein Wunder, sie hatten abends ohne uns noch lange gefeiert.
„Das waren bestimmt Spiegelungen von den Straßenlaternen“, brummte Papa.
„Oder Lichtreflexe“, meinte Tante Dagi. „Waren die Puppenstubenlampen nicht aus farbigem Glas?“
Ich überlegte. Tatsächlich erinnerten sie an die Römergläser, mit denen wir auf Tante Dagis Geburtstag angestoßen hatten. Wir mit Traubensaft, bevor wir rübergelaufen waren zu unserer Ferienwohnung.
„Aber ich habe das Geisterlicht tatsächlich gesehen!“ Mia beharrte darauf und aus Trotz schlug sie sich den Bauch voll mit übrig gebliebener Geburtstagstorte.
Am Abend trafen wir uns im Puppenstubenzimmer, so nannten wir jetzt unser Reich, und machten eine Party. Es gab Chips und Reste aus dem großen Eimer Kartoffelsalat. Als uns langweilig wurde, knipsten wir mutig das Licht aus.
Da knackte es. Ein unheimliches Geräusch in der Stille.
„Hey, was ist das?“, fragte Mia ängstlich.
Aber es war nur Anna, die nicht mehr ganz aufs Bett gepasst hatte und mit ihrem linken Fuß auf einen Kartoffelchip getreten war.
Jan kicherte. Erleichtert, wie ich fand.
„Hey, passt doch mehr auf“, sagte ich, immer noch etwas erschrocken, aber ich wollte mir meine Angst nicht anmerken lassen. „Die Vermieterin mag´s bestimmt nicht, wenn wir alles vollkrümeln.“
„Da kann uns das Keksmonster doch einen Gefallen tun“, meinte Jan „und die Krümel über Nacht auffressen.“
Wir mussten eingeschlafen sein, als uns ein Knarzen weckte. Und im Puppenhaus brannte Licht über dem winzigen Küchentisch.
Da saß tatsächlich ein winziges Kind mit einem winzigen Teller und einer winzigen Tasse.
„Hey, das ist doch nur eine Puppe“, meinte Anna.
„Was wollen wir machen?“, fragte Jan.
„Wir können sie ansprechen“, schlug ich vor und mein Herz klopfte bis zum Hals.
Vorsichtig schlichen wir zum Puppenhaus.
Da erlosch das Lichtlein und alles wurde dunkel.
„Lass uns lieber wieder zum Bett gehen“, meinte Mia ängstlich.
„Quatsch, wir machen die Deckenlampe an!“, entschied Jan, aber im hellen Licht waren Tellerchen und Tasse verschwunden.
Nur ein Krümel erinnerte an das Kind.
„Es gibt kein Kind“, meinte Jan und klang fast enttäuscht.
Da hörten wir etwas ganz nah am Bett. Ein leises Rascheln, als würde man im Herbst auf trockene Blätter treten.
Wir trauten uns nicht, uns zu rühren.
Es war unheimlich.
„Vielleicht ist das Kind in Mias Chipstüte“, meinte Anna. Jan kicherte und Mia fing an zu kreischen.
„Ich werde nie wieder Chips essen!“, sagte sie. „Zumindest nie wieder aus dieser Tüte.“
„Das würde Mama gefallen, du kleine Speckrolle!“
„Pass auf ...!“
Während sie sich stritten, bemerkte ich, wie mich etwas anstupste.
Ich schrie auf.
„Hey Leute“, sagte ich entsetzt. „Das Geisterkind hat mich berührt!“,
Seine Hand war heiß gewesen wie Papas Feuerzeug. Das wir gern in der Hand hielten – als kleine Mutprobe, wer es am längsten schaffte.
Aber von einem Geisterkind wollte ich nicht angefasst werden. Mut hin oder her.
„Vielleicht verschwindet es, wenn du es ansprichst“, meinte Jan.
„Hau ab, du Chipsarsch!“, schrie ich. Aber das Geisterkind tat so, als würde es nichts hören. Vielleicht war es taub. Wir überlegten, welche Beleidigungen Geisterkinder vertreiben konnten.
„Lass uns lieber vorsichtig sein“, flüsterte Anna. „Wir sollten uns nicht mit ihm anlegen. Vielleicht kann es zaubern.“
Jan kannte keine Bedenken. „Du, alter...“
„Tatsächlich bin ich alt“, unterbrach ihn ein zartes Stimmchen. „Viel älter als eurer Opa, viel älter als euer Urgroßvater.“
„Noch älter als unser Ururgroßvater?“, erkundigte sich Mia und ich wunderte mich, dass sie mutiger war als wir alle.
„Ich heiße Hermine“, raunte das Puppenstuben-Kind. „Der Puppenstubenmacher hat mich verzaubert.“
„So wie Pinocchio?“, fragte Jan.
„Pinocchio?“, Hermine sah uns fragend an.
„Sie hat wirklich die letzten 100 Jahre verpasst“, meinte Finn und grinste blöd.
„Lass uns lieber überlegen, wie wir ihr helfen“, sagte ich.
„Und meinen Freunden“, bat Hermine.
Wir heckten einen Plan aus:
Anna und Finn sollten mit dem Eimerhenkel die Museumstür aufknacken. Den Trick kannten wir von Mama, als sie sich mal ausgesperrt hatte. Und ich schlich leise in Tante Dagis Wohnung und klaute aus Papas Jacke die Autoschlüssel. Im Kofferraum gab es eine Werkzeugkiste und eine Taschenlampe.
„Leute, wir brauchen Münzen“, sagte ich, als wir im dunklen Museum standen.
„Da mach ich nicht mit“, meinte Jan. „Das Geld brauche ich für Snickers.“
„Mann, hier geht es um Wichtigeres als Snickers“, fuhr Anna ihn an.
Im Taschenlampenlicht warfen wir Münzen in die Panoramen. Und plötzlich waren da nicht nur tanzende Teddybären, sondern Kinder, die Karussel fuhren und turnten wie auf einem nächtlichen Spielplatz.
„Hey, die sehen wirklich nicht aus wie Puppen“, flüsterte Anna.
„Echt krass“, meinte Jan. „Das sind krass viele!“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Hermine ängstlich.
„Ich habe eine Idee!“ Und mit dem Glasschneider aus Papas Werkzeugkiste konnte ich ihre Freunde aus den Panoramen befreien.
Jeder von uns nahm mehrere auf den Arm und weil sie so klein waren, reichte der Rest von Tante Dagis Geburtstagstorte später für alle.