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Das Geisterhaus
Das Haus sei verflucht, sagen sie.
Ein Geisterhaus nennen sie es.
Für Inga, das Mädchen mit dem blonden Haar, sah es nur aus wie eine alte, verfallene Hütte. Die Fenster eingeworfen, die Tür aus den Angeln gerissen und die Dachpfannen größtenteils vom Wind fortgerissen stand dieses einstöckige Haus verlassen und einsam mitten im Wald herum, wo kaum jemand jemals hinkam. Wer hatte dieses Haus hier mitten in der Einsamkeit gebaut? Wer wollte denn schon im Wald leben? Es sah ja nicht gerade wie die Hütte eines armen Holzfällers aus, nein, dieses Haus musste von einem recht wohlhabenden Mann gebaut worden sein... warum wollte er weg von der Zivilisation? Vielleicht genug vom Alltagsstress? Vielleicht ein Gegner der Gesellschaft, so wie Molière’s Menschenfeind? Wer weiß?
Inga zumindest nicht. Niemand in der Stadt hatte bereits hier gewohnt, als das Geisterhaus gebaut wurde, und niemand kümmerte sich darum. Es störte ja niemanden. Es war ja niemandem im Weg, hier, fern jeder Zivilisation. Nur ein paar Kinder fanden hin und wieder hierher, um sich von dem unheimlichen Gebäude Angst einjagen zu lassen.
Inga war nun mehr oder weniger zufällig hierher gekommen. Sie war mit vielen Gedanken beschäftigt in den Wald gegangen, denn sie dachte die meiste ihrer Zeit über irgendetwas nach. Manchmal, so wie an diesem Nachmittag, war sie so in diese eigentlich belanglosen Gedanken vertieft, dass sie schon als Streuner hätte gelten können, so ziellos wie sie umherirrte. Aber diesmal hatte sie ein Ziel erreicht, ob bewusst oder zufällig, sie war hier und starrte die Fassade dieses Hauses an. Die Sonne war schon halb unter die Dachkante gesunken und blendete Inga nur wenig.
Schließlich setzte Inga sich in Bewegung. Zielstrebig lief sie auf die leere Türöffnung zu, trat über die Holztür hinweg und dachte immer noch darüber nach, was für Leute hier wohl gehaust haben mochten. Vielleicht eine nette, kleine Familie mit Kindern, vielleicht eine verbitterte alte Witwe, die das Geld ihres Mannes genommen und sich ein Haus in der Wildnis gebaut hatte. Vielleicht
(der Teufel persönlich)
sonst wer.
Der Raum war leer. Nicht ein Tisch, nicht ein Schrank befand sich in diesem großen Foyer, das durch die Blätter und Bäume gedämmte Licht schien durch die Fenster auf leere, staubige Bodendielen, die kahlen Steinwände waren völlig ungeschmückt, geradezu essentiell.
Die trostlose Leere der Wände wurde auf der gegenüberliegenden Seite unterbrochen durch eine einfache Holztür mit einer Klinke aus Messing. Die Zeit hatte dieser Tür nichts anhaben können. Das Metall schimmerte immer noch wie neu. Inga fuhr mit der Hand über das Holz, es war glatt und ebenmäßig, fast makellos. Die Farbe war matt-grau, nur wenig heller als der steinerne Rahmen.
Nachdem sie die feine Maserung bewundert hatte, schloss Inga ihre Hand um die Türklinke und drückte sie herunter. Mit einem Knacken löste sich die Verriegelung, und die Tür glitt langsam nach hinten auf. Die Angeln quietschten, und das Haus hörte diese Geräusch sicherlich zum ersten mal seit Äonen, ging es Inga durch den Kopf.
Als die Tür sich ganz geöffnet hatte, starrte Inga in eine undurchdringliche Dunkelheit. Das matte Licht aus dem Vorraum wurde schon nach wenigen Zentimetern von der Schwärze restlos überdeckt, nein, eher verschluckt, dachte Inga. Auch, nachdem sie die Augen einige Sekunden geschlossen gehalten hatte, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, konnte Inga nicht einmal schemenhaft das innere dieses Raumes erkennen.
Das Mädchen ging zwei Schritte in die Dunkelheit
(es frisst mich)
hinein und konnte immer noch
(es verschluckt mich)
nichts sehen.
Dann plötzlich ein lauter Knall, der Inga aufschreien ließ. Vor Schreck sprang sie hoch und drehte sich dabei zur Hälfte in der Luft. Sie konnte auch nicht aufatmen, als ihr klar wurde, dass nur die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war. Sie hatte nämlich keinen Luftzug gespürt, und sie hatte auch nicht die verrosteten Angeln quietschen hören... und das war unheimlich.
Inga tappte durch die Dunkelheit zurück zu der Tür, durch die sie gekommen war, und versuchte die Klinge zu drücken... doch es ging nicht. Typisch, dachte sie, so etwas musste ja passieren. Ich bin in einem Horrorfilm, und als nächstes taucht vor mir ein Gespenst oder ein Monster auf, um mich zu holen.
„Quatsch“, sagte die laut, „Alte Türen klemmen nun mal, und denkende Menschen haben keine Angst vor der Dunkelheit –“
Sie hielt inne. Etwas war nicht in Ordnung... ihre Stimme klang irgendwie nicht normal. „Hallo?“ Nein, irgendwas stimmte nicht. Erst nachdem sie zwei weitere Male „Hallo!“ gerufen hatte, merkte sie, was los war: Es gab kein Echo.
Sobald die Worte ihren Mund verlassen hatten, waren sie auch schon wieder verschwunden, so als hätte es sie nie gegeben. Tatsächlich fragte Inga sich einen Moment lang, ob sie denn überhaupt etwas gesagt hatte. Ja, sie hatte etwas gesagt, aber die Wände hatten ihre Worte nicht zurückgeworfen.
Inga drehte sich wieder um. Höchstwahrscheinlich gab es irgendwo in diesem dunklen Raum noch eine zweite Tür... sie musste sie nur finden. Also marschierte sie von der Tür weg, um zur Wand gegenüber zu gelangen. Bei den ersten Schritten zögerte sie noch, bis sie dann überzeugt davon war, dass dieser Raum genau so leer sein musste, wie der vorige. Auch die tappenden Geräusche ihrer Schritte auf dem teppichlosen Holzboden warne jeweils nur für einen Sekundenbruchteil zu hören, und dann verschwunden. Kein Echo. Es klang nicht danach, als seien die Wände schallisoliert... Inga wurde das Gefühl nicht los, dass da gar keine Wände waren.
Sie ging.
Und sie ging.
Und sie ging weiter, die Hände ausgestreckt, um die Wand zu erfühlen, auf die sie jeden Augenblick stoßen musste. Jeden Augenblick, gleich müsste es soweit sein.
Aber die Wand kam nicht.
Nach einer Weile blieb Inga stehen. Sie war doch schon so viele Schritte gelaufen, das ganze Haus war nicht so lang... selbst die Nervosität,
(Furcht)
die die Zeit viel schneller verfliegen ließ, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Inga schon mindestens zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter durch den leeren Raum gelaufen war. Diese Wand musste doch bald kommen...
Also ging Inga weiter. Sie ging noch zehn Schritte, dann fing sie an zu laufen. Und schließlich rannte sie. Es war ihr nun egal, über was sie stolpern könnte, sie wollte nur möglichst schnell diese andere Wand erreichen. Sie drehte sich nach rechts und suchte dort eine Begrenzung, die ihr Einhalt gebieten könnte... vergeblich. Sie rannte und rannte, mal in diese, mal in jene Richtung, und verlor sich immer tiefer in dieser grausamen Schwärze.
Irgendwann war sie zu erschöpft, um weiterzulaufen... ob nun körperlich oder geistig. Es war nicht möglich... dieses Haus war einfach nicht so groß, konnte es nicht sein! Sie ging in die Knie. Flach und fast hechelnd ging ihr Atem, und die stickige Luft schien gar keinen Sauerstoff zu enthalten. Als sie dann endlich wieder halbwegs normal atmen konnte, stand sie wieder auf. Und sie schrie auf, als etwas aus der Dunkelheit ihr Gesicht streifte.
Doch sie blieb stehen. Irgendetwas hatte sie, oder sie hatte irgendetwas berührt... aber sie hatte nicht das Gefühl, dass es etwas war, wovor man hätte Angst haben müssen. Langsam streckte sie die Hand vor sich aus, bekam das etwas zu fassen und zog daran. Es gab ein Klicken und...
Das Licht ging an.
Über sich sah Inga in das vergilbte Licht einer 12 Watt Birne, und obwohl die Lampe nur schwach leuchtete und flackerte, blendete sie das Licht. Sie hielt immer noch die Schnur der Lampe umklammert. Nun sah sie sich um, und bei dem Anblick, der sich ihr bot, musste sie um ihr Bewusstsein kämpfen.
Sie stand in der Mitte eines quadratischen Raumes, und alle vier Wände waren jeweils gerade mal Anderthalb Meter von ihr entfernt.
Vor sich hatte sie eine hellbraune Tür mit runden Knauf, gerade einmal einen Schritt und eine Armlänge entfernt, und hinter sich die graue Tür mit der Messingklinke, vor der sie gerade minutenlang davongelaufen war.
Inga hastete zu der grauen Tür, riss sie auf und hechtete hinaus, als könnte die Lampe jeden Augenblick verlöschen und sie in der Dunkelheit gefangen sein. Sie lief zwei Schritte weiter, und dann blieb sie stehen.
„Wovor laufe ich eigentlich weg?“
Mach dich nicht lächerlich. Denk nach! Dein Gehirn hat dir einen Streich gespielt. Das war die Panik, du hast Angst in der Dunkelheit bekommen.
„Ja, so muss es gewesen sein...“
Nun machte Inga wieder kehrt. Die Lampe flackerte, aber blieb an. Jetzt hatte sie schon so einen langen Weg hinter sich gebracht... jetzt einfach nach Hause zu gehen wäre doch albern. Verdammt sei meine Neugier, aber ich will wissen, was hinter dieser anderen Tür ist!
Als hätte sie die Todesängste, die sie vor nicht mal einer halben Minute durchgestanden hatte, völlig vergessen, betrat sie noch einmal den leeren Raum. Das alte Selbstbewusstsein war zurückgekehrt, und mit gewohnter Zielstrebigkeit stampfte sie auf die braune Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu. Dabei fragte sie sich, wie Freud wohl ihre Angst vor der Dunkelheit deuten würde... Angst vor Isolation? Vor Einsamkeit?
Und bevor sie es merkte, hatte sie den Knauf gedreht, die Tür aufgeschwungen und den grell erleuchteten Raum Nr. 3 betreten. Hier hallten ihre Schritte deutlich wider. Der Raum, nur unbedeutend größer als der vorige, war völlig weiß, die Wände weiß bestrichen, Der Fußboden mit weißen Kacheln bedeckt. In jeder der vier Ecken hing eine Leuchtstoffröhre an der Wand, und in jeder Wand war eine Tür, die genauso schlicht braun war, wie die, durch die Inga gerade getreten war. Die Türrahmen gingen aber sehr tief in die Wände, so dass man praktisch einen zwei Meter langen Tunnel durchqueren musste, um durch die Türen zu gehen. Und noch etwas fiel Inga auf, die Türen zu ihrer Linken und Rechten hatten den Knauf an der rechten Seite, und obwohl sie die Tür zum vorigen Raum offen stehen gelassen hatte, nur für den Fall, wusste sie, dass diese und die Tür gegenüber den Knauf von hier gesehen links hatten.
Inga ging durch die Tür zu ihrer Rechten... und fand sich in einem Raum wieder, der genauso aussah, wie der vorige.
„Die haben sich aber nicht viel neues einfallen lassen...“
Auch dieser Raum hatte vier Türen, und diesmal nahm sie die linke. Wieder der gleiche Raum. „Hmm...“ Sie durchquerte den Raum und ging durch diese Tür. Das ist ja ein komisches Labyrinth, in dem alle Wege offen sind.
Inga wollte wieder zum Anfangsraum zurück, um in die andere Richtung zu gehen. Sie lief also zurück durch den Raum, und es störte sie nicht, dass die Tür hinter ihr lautlos zugefallen war. Sie wusste ja noch, wo sie war. Also nach rechts, auch diese Tür musste sie erst wieder öffnen, und hier links muss der –
Inga hatte die Tür aufgerissen und war erstarrt. Sie blickte in einen weißen Raum mit Kacheln auf dem Boden und Leuchtstoffröhren in den Ecken... und mit vier Türen.
Das muss die falsche Tür gewesen sein! Inga lief einen Raum weiter nach rechts und denn wieder links rein, und hier musste
(sollte)
doch der Ausgang sein. Nein. Nein? Das geht nicht! „Das ist nicht MÖGLICH!“
Inga rannte los, zur Tür gegenüber, riss sie auf, wieder ein weißer Raum. Zur nächsten Tür – nichts! Weiter, weiter geradeaus. Irgendwann muss das Labyrinth ja eine Grenze haben!
(So wie der dunkle Raum)
„Lasst mich hier raus! ICH WILL HIER RAUS!“ Inga schrie und rannte, rannte und schrie, riss Türen auf, durchquerte weiße Räume, und sie schrie, bis sie drohte, zu ersticken.
Dann stolperte sie.
Zu spät riss sie die Arme hoch, und sie landete krachend mit dem Kinn und der Nase auf den weißen Kacheln. Einen Augenblick war ihr schwarz vor Augen, dann versuchte sie aufzustehen und sah, dass auf dem Boden ein Fleck ihres Blutes war. Er strahlte aus dem Weiß geradezu hervor. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Nase, wobei ein kleiner Tropfen Blutes neben dem größeren Fleck landete, und lief weiter. Doch im nächsten Raum erstarrte sie von Neuem, denn in der Mitte des Raumes lag ein Fleck
(ihres)
Blutes. Inga rannte zur nächsten Tür geradeaus durch, und auch in diesem Raum war ein roter Fleck, nur war der kleine Tropfen auf einer anderen Seite. Zur Tür nach rechts, auch dort ein Fleck, und links auch, und überall, in jedem Raum.
Natürlich in jedem Raum, weil es nur ein Raum ist...
Inga fiel zu Boden, auf den Zellenboden, ging es ihr durch den Kopf, denn sie war gefangen. Gefangen in einem Raum, in dem alle Türen offen standen. Inga hatte das Gefühl, sich den Kopf halten zu müssen, damit er nicht zerspringe. Mit den Händen gegen die Schläfen pressend legte sie sich auf den Boden und rollte sich auf den Rücken. Ein gedehntes Stöhnen entfuhr ihr.
Und erst jetzt konnte sie es sehen...
In der Decke über sich erkannte Inga einen kleinen Ring, so unscheinbar, dass sie ihn fast übersehen hätte. Sofort sprang sie auf und versuchte den Ring zu erreichen, und fast schaffte sie es. Er war nur ein kleines Stück zu hoch. Sie holte noch einmal Anlauf, sprang hoch, und ihr Mittelfinger verhakte sich schmerzhaft in dem Eisenring. Eine Falltür, deren Ränder man zuvor beim besten Willen nicht erkennen konnte, klappte nach unten, eine Leiter rasselte herab und schlug dicht hinter Inga auf den Kacheln auf. Ohne weiteres Zögern bestieg das Mädchen die Leiter und kletterte hinauf, wobei sie zwei Sprossen auf einmal nahm.
Oben angekommen befand sie sich jedoch nicht auf dem Dachboden dieses verfluchten Hauses, aber das hatte sie auch gar nicht erwartet. Stattdessen stand sie auf dem ersten Absatz einer steinerner Wendeltreppe. Sie lief sofort los, die Treppe hinauf. Stetig ging es weiter hinauf in einer Drehung nach rechts. Das Gemäuer ringsum erinnerte Inga stark an eine Ritterfestung, und die verwitterten, feuchten Steine und die ausgetretenen Stufen deuteten ebenfalls auf eine lange Existenz hin.
Inga hörte ihre eigenen Schritte hallen, und die Schritte wurden schneller und lauter. Hätte dieses Mädchen einmal angehalten und nachgedacht, wäre ihm aufgefallen, dass sie schon wieder viel zu lange lief, und das Gebäude niemals so hoch sein konnte. Aber unter das hallende Geräusch ihrer Schritte hatte sich noch andere Geräusche gemischt. Je schneller sie lief, desto mehr hörte es sich danach an, als wäre noch jemand
(etwas)
auf dieser Treppe, und je mehr sie dieses Gefühl bekam, desto schneller lief sie. Irgendetwas schlich hinter ihr her die Treppe hinauf, und würde sie nur einen Augenblick stehen bleiben und sich umsehen, würde es um die Ecke kommen, und sie würde es sehen, und es würde bestimmt so schrecklich sein, dass sie es nicht aushalten würde, und deshalb lief sie weiter, immer schneller, und hat das Ganze nicht endlich ein Ende?
Und dann, ganz plötzlich, sah Inga Licht über sich, und sie schoss aus dem engen Gang heraus, stolperte über die letzte Stufe und landete in weichem Gras. Sie blickte hinter sich auf die dunkle Öffnung im Boden und horchte, doch die Geräusche waren verschwunden. Kein Monster, kein Irrer mit einem Messer sprang hinter ihr heraus. Nichts.
Erst jetzt blickte Inga sich um. Sieh sah Bäume... hier auf dem Dach? Nein, sie war wieder im Wald. Und zwar direkt hinter diesem Haus.
Die Sonne stand noch recht hoch über dem Horizont, nur wenig tiefer, als bei Ingas letztem Blick über das Dach des Hauses. War so wenig Zeit vergangen?
Natürlich, sie musste ins Haus und in den Keller gegangen sein. Und dann ist sie hier hinten wieder herausgekommen. Ja, so musste es gewesen sein. Natürlich, etwas anderes ist ja auch gar nicht möglich. So war es.
Langsam glaubte sie sich wirklich daran zu erinnern.
(Und woher kommt das getrocknete Blut an deiner Nase?)
Inga beschloss, dass sie nicht weiter darüber nachzudenken brauchte. Es war doch eine ganz klare Sache.
Nachzudenken lohnt sich nicht.
Mit dem Handrücken wischte sie sich die Nase ab und ging heim.