Das Geheimnis des Konzerns
Das Geheimnis des Konzerns
Müde schaute Henry auf die große Uhr, die an der Wand befestigt auf ihn hinablächelte, und stellte erleichtert fest, dass die schöne Zeit des Feierabends endlich angebrochen war. Er sammelte die zahlreichen Kaffeebecher und Schnellimbissschachteln ein und warf sie in den gefüllten Papierkorb, der neben seinem Schreibtisch eine bedeutende Position einnahm. Normalerweise sortierte er noch den ganzen Bürokrempel, um am nächsten Tag nicht vor weiteren zeitaufwendigen Aufgaben zu stehen, aber heute war ihm nicht danach und er verließ das Büro ohne sich die Mühe zu machen, sämtliche Akten in die dafür vorgesehenen Schubladen zu räumen. Heute plagten ihn die Magenschmerzen besonders schlimm und sein Kopf fühlte sich an wie eine überreife Melone die gleich explodieren würde.
Er griff nach dem Päckchen Gratiszigaretten und steckte sie in die Tasche seines grauen Anzugs. Henry war ziemlich sicher dass er an diesem Abend mal ausnahmsweise keine Glimmstängel konsumieren würde und fragte sich, ob er es wohl je schaffen könnte endgültig damit aufzuhören. Mit Wehmut dachte er an das Buch mit dem Titel: „Endlich Nichtraucher, auch sie schaffen das!“, das er vor kurzem erworben hatte und gleichzeitig an das Gefühl der Ironie das er zu empfinden glaubte, wenn er sich vor Augen hielt das ausgerechnet ein Mitarbeiter der Tabakindustrie ein solches Buch kaufte. Der Job schmeckte ihm schon lange nicht mehr, aber immerhin konnte er in einem Büro sitzen, während andere sich mit der Herstellung plagten. Das Gehalt war überdurchschnittlich gut, die Arbeitszeit in Ordnung und die Gratiszuschüsse, meist in Zigaretten oder Nahrungsmittelform, am Anfang ein durchaus schätzenswertes Mittel, um die Angestellten bei Laune zu halten. Und doch bekam Henry langsam Zweifel, wenn er all’ die blassen Gesichter sah, die Tag für Tag an seinem Tisch vorbei schlichen und wirkten wie ausgezehrte Tiere auf der Suche nach Beute. Manche erweckten den Anschein eines Ausgebleichten Lakens, auf dem zwei tief liegende, schwarz umränderte Augen mit einem Bedrohlichen Blick gezeichnet waren. Während die eine Hälfte wenigstens ab und zu in der Lage war ein Gespräch untereinander zu führen, ignorierte sich die andere Hälfte mit schweigender Beharrlichkeit. Die einzigen Freunde die er hier gefunden hatte waren John und Mel – ein erwärmender Trost in der sonst so kalt wirkenden, sterilen Fassade eines Multikonzerns. Allerdings wurde John vor kurzer Zeit entlassen und niemand konnte ihm eine befriedigende Antwort darauf geben. Es hieß er hätte gestohlen, was Henry aber nicht so recht glauben wollte, denn er kannte ihn als ehrlichen und zuverlässigen Angestellten, der lieber seine Freizeit geopfert hätte, als auch nur ein Quäntchen Arbeit Liegenzulassen. Deswegen zum Chef zu gehen traute er sich nicht. Allein ein Blick in die unergründlichen Augen des Hochgewachsenen Mannes, im stets Schwarzglänzenden Smoking, rief ein Frösteln hervor, das er dann für eine Ganze Weile nicht mehr los bekam. Einmal hatte Henry gefragt ob er die Gratiszigaretten und Schnellimbisspäckchen durch gesunde Kost ersetzen oder vielleicht auf andere Art vergüten könne, was schließlich im Sinne der Angestellten eine gute Sache sein könnte, doch statt Verständnis erntete er nur den Satz: „Wir sind hier in einer Tabakfabrik und nicht in einem Biokostgeschäft.“ Seitdem hatte es Henry nie wieder gewagt seinen Chef anzusprechen und fühlte sich sehr unwohl, wenn dieser mit nachdenklichem Blick an ihm vorüber lief.
Als er an der Stempeluhr angekommen war und seine Karte hervorzog, erstarrte er für einen Moment als genau die Person aus einem Fahrstuhl trat, die er zu meiden hoffte. Der Schwarzgekleidete kam auf Henry zu und blieb mit diesem merkwürdigen Blick, der ihn aufmerksam musterte, vor ihm stehen. Der Smoking glänzte jetzt in einem aufwallenden Schimmer und Henry war sicher dass das vorher nicht der Fall war.
„Mir ist etwas zu Ohren gekommen was mir nicht sonderlich gefällt, Henry. Ich darf sie doch Henry nennen, oder?“, sagte der Chef in einem etwas zynisch klingenden Tonfall.
„Ja, natürlich Sir. Aber ich weiß nicht was sie meinen.“
Das Frösteln stieg wieder auf und eine Gänsehaut bildete sich am ganzen Körper, der jetzt leicht zu zittern begann.
„Sie wissen doch dass sie sich mit dem Produkt, das wir herstellen identifizieren müssen. Habe ich Recht?“
„Natürlich Sir.“, antwortete er unterwürfig.
„Nun, ich habe erfahren dass sie ein spezielles Buch ihr Eigen nennen. Eine merkwürdige Lektüre für einen Angestellten in meinem Konzern, finden sie nicht?“
„Sie haben erfahren? Woher?“, fragte Henry ungläubig.
„Das spielt keine Rolle. Ich möchte dass sie auf die Frage antworten.“, seine Stimme klang nun kühl und fordernd.
„Ich weiß zwar nicht genau worauf sie hinauswollen“, sagte Henry der Mut gefasst hatte und sogar ein wenig wütend geworden war, „aber ich kann mir die Bücher kaufen, die ich für richtig halte und ich werde keineswegs zum Kettenraucher, nur weil mein Arbeitsplatz in einer Tabakindustrie angesiedelt ist.“
„Zügeln sie ihren Zorn, Henry! Das könnte ihrer Gesundheit, sagen wir mal, nicht gerade einträglich sein.“
„Ist das eine Drohung?“
„Ein freundlich gemeinter Ratschlag. Nichts weiter. Und ich möchte ihnen weiterhin raten, sich den Gegebenheiten dieses Konzerns anzupassen. Und vergessen sie dabei nicht dass ich ein Mann mit Einfluss bin. Haben wir uns verstanden?“
Der Smoking begann in einem schwarzen Licht zu funkeln, das die Gefühle widerzuspiegeln schien und dabei so tief und unergründlich wirkte, wie die dunklen Augen seines Trägers. Es schmerzte schon nur durchs Hinsehen und ersetzte Henrys Wut mit dem Gefühl des Unbehagens.
„Was ist das für ein Stoff?“, fragte er etwas abwesend.
„Der Stoff der Macht, Henry.“ Ein amüsiertes Lächeln breitete sich in dem Gesicht aus, als er den verwunderten Ausdruck seines Angestellten bemerkte.
„Ich schlage vor sie gehen jetzt und denken gut über meine Worte nach.“
Damit wandte er sich ab und verschwand in einem der Gänge, die fast schon Labyrinthartig in alle Richtungen des gigantischen Gebäudes verliefen.
Als Henry zu Hause war und müde auf seinem Sessel Platz genommen hatte, fragte er sich was in diesem Konzern nicht stimmte, was der Chef wohl verheimlichte und wie viele Angestellte an diesem Wissen beteiligt waren. In ihm wuchs der Glaube um eine Verschwörung, vielleicht einer Sekte die schon seit einiger Zeit Anhänger versammelt hatte, noch bevor er anfing dort zu arbeiten. Er versuchte eine vage Erinnerung zu greifen, eine Erinnerung die etwas mit dem Smoking seines Vorgesetzten zu tun haben schien, aber bevor er sie fassen konnte, verblasste sie in den tiefen seines Unterbewusstseins. Paranoide Gedanken drängten sich auf, die von Drogen in den Gratispäckchen handelten und wenige Momente später kamen sie ihm lächerlich vor. Noch bevor Henry zu Bett ging beschloss er John anzurufen und den wahren Grund seiner Entlassung in Erfahrung zu bringen.
Der Ton verriet dass es am anderen Ende klingelte und nach kurzer Zeit meldete sich eine tiefe Stimme:
„Ja?“
„Hallo, hier ist Henry! John, bist du’s?“
„John wohnt hier nicht mehr. Er ist ausgezogen.“
„Was? Wohin? Wer spricht dort?“
„Ich denke das geht sie nichts an.“
Der Fremde beendete das Gespräch und hinterließ einen langen Piepton, der noch eine halbe Minute in Henrys Ohr erklang, bevor er endlich auflegte.
Als Henry am nächsten Tag hinter seinem Schreibtisch saß, überlegte er fieberhaft ob eine Kündigung seinerseits das beste Mittel wäre um dem Konzern zu entgehen, denn er war felsenfest davon überzeugt dass John nicht mehr am Leben war. Vielleicht hatte er das Geheimnis in Erfahrung gebracht, das düster über diesen Räumlichkeiten schwebte. Vielleicht hatte John dem Chef auf irgendeine Weise im Weg gestanden oder ihn als Bedrohung identifiziert und auch Henry glaubte nun spätestens nach der letzten Begegnung dass er etwas zu verbergen gedachte. Er wollte gar nicht wissen was es sein konnte, er wollte nur ein zufriedenes Leben führen wie jeder andere auch.
Auf dem Blatt mit den Produktionszahlen, das er gerade gedankenverloren durchsah, erschien ein Schatten und eine bekannte Stimme fragte nach seinem Namen. Erschrocken blickte Henry auf und war erleichtert als er Mel erkannte.
„Hey Mel.“, sagte Henry aufatmend.
„Tu’ mir den Gefallen und schleiche dich nicht so an, okay?“
„Du sollst zum Chef kommen.“ Mels Tonfall klang seltsam monoton und sein Blick schien durch ihn durch zu sehen.
„Ist alles in Ordnung? Du wirkst abwesend und siehst blass aus.“
Unruhe stieg in Henrys Geist, denn sein Freund wirkte nicht wie sonst, sondern wie die anderen durchscheinenden Mitarbeiter, die nie ein Wort miteinander wechselten und keinem auch nur ein Fünkchen Beachtung schenkten. Als er keine Antwort erhielt fragte er unsicher: „Warum soll ich zum Chef kommen?“
„Das hat er mir nicht gesagt. Aber ich glaube es ist besser wenn du seiner Aufforderung unverzüglich nachkommst.“
Mel sah ihn an als träume er nur, als hätte er mit einer Fantasiegestalt gesprochen und nicht mit einem menschlichen Wesen.
„Mel ist alles in Ordnung?“, fragte er hektisch, doch sein Freund drehte sich herum und ging wieder seiner Arbeit nach.
Hastig packte Henry die Sachen ein, die ihm gehörten und lief zum Fahrstuhl, der ihn ins Erdgeschoß und damit zum Ausgang bringen würde. Keine Sekunde länger als nötig könnte er auf diesem Gelände verbleiben, in dem die illegalen Machenschaften des Chefs und seinen Verschworenen, wichtiger waren als das Leben der Mitarbeiter. Er würde die Polizei alarmieren und ihnen von John erzählen, von Mels merkwürdigen Verhalten und dem Gespräch mit seinem Boss. Nichts, so glaubte er, könne ihn davon abhalten, doch der Fahrstuhl belehrte ihn eines besseren, als dieser in einer Etage hielt die Henry wohlbekannt war. Er drückte verzweifelt auf den Knopf der den Fahrstuhl nach unten ins Erdgeschoß befördern würde, aber nichts rührte sich, kein Anzeichen einer Bewegung. Die Tür zum gefürchteten Büro stand offen und eine Stimme befahl herrisch einzutreten.
Widerwillig kam Henry der Aufforderung nach und als er im Raum des Chefs stand, schloss sich die Tür wie von Geisterhand.
Lauernd schaute der Hochgewachsene auf den ängstlichen Henry und sein Anzug waberte in dem Schwarzfunkelnden Licht, das immer mehr an Intensität gewann.
„Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt dass sie mir entkommen würden? Ihre Annahme sich einer höheren Macht widersetzen zu können ist geradezu lächerlich und töricht.“
„Was sind sie und was wollen sie von mir?“
„Gleich zum Punkt, was?“, antwortete das Wesen amüsiert.
„Haben sie schon einmal etwas von Kakodaimones gehört?“
„Nein.“, hauchte er.
„Dämonen Henry, böse Geister. Wir treten in vielerlei Form auf und sind schon seit einigen Jahrtausenden zugegen. Wir dulden es nicht wenn sich ein Wurm, wie sie es sind, in unsere Angelegenheiten mischt.“
„Und was wollen sie?“
Henrys Frage war kaum mehr als ein Flüstern und sein Verstand schien gelähmt zu sein, ein schwacher Schatten der sich in den dunklen Augen seines Gegenübers verlor.
„Wir sind hier um uns nähren. Haben sie sich schon gefragt woher ihre Magenschmerzen rühren?“
Mit weit aufgerissenen Augen schaute er in das Gesicht seines dämonischen Chefs und mit verzweifelter Hoffnung hielt er an dem Glauben fest, das alles nur eine Lüge war, das er ihn verunsichern wollte mit seinen schockierenden Worten. Er konnte und wollte nicht mehr zuhören, aber das Wesen sprach unbeirrt weiter.
„Es ist ein Tumor. Ein Kind des Todes wächst in ihnen heran und es breitet sich aus, streckt seine Fühler in ihr Gewebe und zerstört es langsam. Das ist die Nahrung die wir brauchen. All’ die Krankheiten die das Leben befallen sind unsere Kost. Sie gibt uns die Kraft die wir brauchen um existieren zu können. Wir sorgen dafür dass es niemals aufhört. Die Schwäche der Menschen ist unser Verbündeter.“
„Sie lügen.“, schrie Henry. Tränen flossen aus den ungläubigen Augen und plötzlich spürte er wieder den nagenden Schmerz in seinem Innern. Verkrampfte Hände ertasteten den Bauch in dem die gefürchtete Krankheit zu reifen begonnen hatte und eine tiefe Trauer hielt ihn in ihrem Bann. Er fiel auf die Knie und ein Schluchzen entfuhr seiner Kehle. Sämtliche Angst war gewichen und die Gefühle der Verzweiflung brachen hervor wie ein Sturm, der sich nicht kontrollieren ließ.
„Sie wissen dass ich das nicht tue. Sie reden sich ein ich würde lügen, aber der Schmerz spricht eine andere Sprache. Ich verstehe die Trauer die sie umgibt und doch muss ich sie bitten eine Entscheidung zu fällen.“
„Was wollen sie noch?“, schluchzte Henry.
„Mein Leben ist zerstört.“
„Das ist es nicht. Sie haben immer noch eine Wahl. Entweder sie gehören zu all’ den anderen, die nichts weiter als Futter für meinesgleichen sind oder sie werden einer der Unseren, eine unsterbliche Kreatur der Macht. Was meinen sie dazu?“
Es fiel ihm schwer sich zu erheben und anstrengend war es, die bitteren Informationen zu verdauen und doch nahm er sich zusammen und schaute fest auf den bösen Geist, den er früher für einen Menschen gehalten hatte.
„Sie wollen dass ich ein dämonisches Wesen werde? Ein Geschöpf das sich von den Krankheiten anderer ernährt? Das muss ein schlechter Scherz sein!“, den letzten Satz schrie Henry hinaus und seine Gefühle gerieten wieder ins wanken als er bemerkte dass das sein Gegenüber völlig kalt ließ.
„Mir ist es egal.“, sagte das Wesen unbeeindruckt.
„Ich bot ihnen eine einmalige Gelegenheit. Wenn sie diese nicht wahrnehmen ist das ihre Sache.
Sie könnten zum Arzt gehen und er würde ihnen sagen dass es zu spät ist. Sie werden genau wie John ans Bett gefesselt sein und sich vor Qualen winden. Übrigens ist er noch am Leben und jeder Fetzen seines zerstörten Gewebes überträgt uns die negative Energie, an der wir uns laben. Er ist in unseren Kellergewölbe, in einem von den unzähligen Zimmern die extra von den Meinen eingerichtet wurden, damit Menschen wie sie in Ruhe verenden können. Da sie das Angebot abgelehnt haben werde ich sie jetzt dorthin geleiten.“
„Warten sie!“, entfuhr es Henry.
„Ich habe es mir überlegt.“
Sein Herz raste und er zweifelte an seinem Verstand, aber er wollte auf keinen Fall dort unten mit den anderen sterben, an einer Krankheit zu Grunde gehen, die ihn mit der Zeit wahnsinnig werden ließ und jeden klaren Gedanken unmöglich machte. Er stellte sich vor wie die Schreie durch das Gewölbe hallten und wie seine eigenen eins mit ihnen wurden. Der Geruch des Todes der seinem Körper entströmte, das nie Enden wollende Leid das ihn umgab und der ewige Schmerz der von innen an ihm zehrte, waren überzeugende Argumente an einer Entscheidung festzuhalten, die seine Menschlichkeit einforderte.
Das Wesen lächelte zufrieden und gewährte den Entschluss eines von Verzweiflung getriebenen Angestellten, der ahnungslos in das Getriebe der Dämonen geraten war. Der Anzug riss auseinander und verwandelte sich in glühende Schatten, die wild durch den Raum huschten und dunkle Schlieren in der Luft zurück ließen. Einer davon schwebte auf Henry zu, verschwand in dem aufgerissenen Mund und fuhr ins Innere des Körpers, um dort alles Menschliche zu verdrängen und Platz für ein neues Bewusstsein zu schaffen.
Die Jahre vergingen und der Konzern breitete sich weiter aus, eröffnete Filialen in vielen Ländern und übernahm Konkurrenten die keine Wahl hatten und sich dem Willen einer wachsenden Übermacht beugen mussten.