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Das Geheimnis des Hubert K.
Als er die Wohnungstüre aufschloss, fühlte er bereits, wie sich sein Körper zu verändern begann. Nicht, dass er diesem Vorgang besondere Beachtung geschenkt hätte, er war ihm inzwischen so vertraut wie das Gefühl einer vollen Blase; und ebenso wie man sich als Erwachsener nicht mehr in die Hose machte, konnte er die Verwandlung anhalten, bis er in die Wohnung gegangen war und sein Hemd ausgezogen hatte. Gelegentlich vergass er das, und dann kam es vor, dass ihm ein Knopf abriss, weil der spriessende Busen die Dehnbarkeit der Textilie überbeanspruchte.
Endlich Feierabend. Er fühlte sich heute ein wenig müde, aber das würde ihn nicht davon abhalten, später noch auszugehen. Das tat es nie.
Er zog sich nackt aus und stellte sich vor den grossen Spiegel in der Diele. Alles sass perfekt an seinem Platz, auch das Make-Up und der Nagellack. Er hatte seine Lieblingsgestalt angenommen, die des brünetten Dessousmodels von Seite 1248 aus dem Otto-Katalog. Das kleine Tattoo in Form einer Erbeere auf der linken Brust hatte er allerdings selbst dazuerfunden. Bilder auf der Haut waren nach wie vor eine Herausforderung, aber in letzter Zeit war er zunehmend in der Lage, sie zu erzeugen, ohne dabei eine Vorlage anzustarren.
Im Schlafzimmer zog er einen roten Spitzenslip mit passendem BH an, dazu eine silberne Kette mit Kreuz-Anhänger, und steckte schliesslich je eine grosse Creole durch die frischen Ohrlöcher. Er erinnerte sich daran, wie dumm er vor einigen Jahren gewesen war. Er hatte sich Ohrringe schiessen lassen und sechs Wochen lang die blöden Blicke der Kollegen im Büro ertragen. Dabei konnte er doch auch unnatürliche Veränderungen an seinem Körper nach Belieben erscheinen und verschwinden lassen!
Er nahm zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf das Sofa vor den Fernseher. Schalke spielte gegen die Bayern, das durfte er sich nicht entgehen lassen.
Er lächelte: trotz der merkwürdigen Neigungen, die er entwickelt hatte, war er irgendwo noch ein Mann geblieben.
Nachem er eine bequeme Position gefunden hatte, legte er die Fernbedienung beiseite und konzentrierte sich kurz auf seine Arme und Beine. Sie begannen sich langsam in seinen Körper zurückzuziehen, bis nur noch Stümpfe übrig waren. Zu diese Figur hatte ihn der Film „Boxing Helena“ inspiriert, in der ein verrückter Chirurg seiner Geliebten Arme und Beine amputiert. Irgendwie völlig pervers, aber auch irgendwie – geil. Nachdem er den Film ein Dutzend Mal gesehen hatte, war es zu seiner Lieblings-Fernsehstellung geworden, als Frau ohne Arme und Beine dazusitzen.
Sein besonderes Talent hatte er wahrscheinlich schon immer besessen, nur war es niemandem aufgefallen, auch ihm selbst nicht. Erst im Nachhinein ergaben manche Episoden seines Lebens einen Sinn, wie etwa als er mit elf vom Baum gefallen und mit gebrochenen Armen ins Krankenhaus gekommen war. Auf den Röntgenbildern waren dann keine Knochenbrüche mehr zu sehen gewesen, und es hatte auch nicht mehr weh getan. Sogar die Hautabschürfungen waren verschwunden.
Er war nie krank. Wenn er sich schnitt, blutete es nur für eine Sekunde. Aber das war nicht weiter aufgefallen; er hatte eine normale Kindheit gehabt, eine normale Berufsausbildung gemacht und einen normalen Job bekommen. Er war schüchtern, hatte Höhenangst und kaum Freunde. Erst als er eines Nachts auf dem Nachhauseweg von einer Jugendbande überfallen und mit mehreren Messerstichen schwer verletzt worden war, dämmerte es ihm, dass es nicht normal sein konnte, trotz blutverschmierter Kleidung keine Stichwunden am Körper zu finden.
Er war nicht zur Polizei gegangen. Stattdessen hatte er begonnen, zu experimentieren, und festgestellt, dass er jede Wunde innerhalb von Minuten regenerieren konnte. Er hatte begonnen, Judounterricht zu nehmen und Gewichte zu heben – und dabei war ihm aufgefallen, dass er seine Muskeln auch wachsen lassen konnte, ohne sich anzustrengen und ohne wochenlang auf das Ergebnis zu warten.
Er hatte über seinen Körper die totale Kontrolle.
Was aus ihm jedoch nicht gleich einen anderen Menschen gemacht hatte. Er war nach wie vor ein schüchterner Sachbearbeiter, und lange Zeit scheute er sich davor, an sich selbst Veränderungen vorzunehmen, aus Angst vor den Reaktionen seiner Kollegen, Freunde – und nicht zuletzt seiner Eltern. Innerhalb seiner eigenen vier Wände begradigte er seine krumme Nase, legte sich einen Traumkörper zu und liess die Hautunreinheiten verschwinden. Aber wenn er das Haus verliess, war er wieder der alte unscheinbare Hubert Kaczinek, der langweilige Versicherungsfälle bearbeitete.
Irgendwann nach dem Tode seiner Eltern war ihm jedoch die Idee gekommen, sich als jemand völlig anders auszugeben, und damit hatte sich sein Leben zu verändern begonnen. Wenn er aussah wie Jean-Claude van Damme oder Orlando Bloom, begannen sich die Frauen plötzlich für ihn zu interessieren, und eine Zeit lang war er sehr glücklich damit gewesen.
Bis es ihn reizte, neue Wege zu beschreiten.
Beim ersten Mal als Frau in der Öffentlichkeit war er noch sehr unsicher gewesen und hatte das Gefühl gehabt, dass ihn alle anstarren. Bis er sich daran gewöhnte, dass man ihn anstarrte, weil er so gut aussah. Er gewöhnte sich auch sehr schnell daran, dass es als Frau sehr viel einfacher war, einen Mann abzuschleppen und der Sex um ein Vielfaches aufregender.
Seine Möglichkeiten waren damit noch lange nicht erschöpft: Er hatte kürzlich begonnen, zusätzliche Gliedmassen aus seinem Körper wachsen zu lassen oder die Gestalt von Tieren anzunehmen. Das war extrem schwierig. Auch die kleineren Verwandlungen hatten Übung erfordert. Sich in eine Frau zu verwandeln, war etwa so schwer wie mit vier Kegeln zu jonglieren, aber es war erlernbar. Und mit Übung würde es ihm vielleicht in einigen Jahren gelingen, sich in einen Adler zu verwandeln und zu fliegen!
Er hätte mit seinem Talent vielleicht zum Geheimdienst gehen können oder á lá Spiderman das Verbrechen bekämpfen. – Aber das entsprach nicht seiner unsicheren Persönlichkeit, die sich in all den Jahren nicht verändert hatte. Seltsamerweise war er weit weniger unsicher, wenn er nicht Hubert K. war. Seine alte Identität hemmte ihn, und er hatte schon alle möglichen Überlegungen angestellt, ob er nicht irgendwie eine andere annehmen konnte, um frei zu sein. Aber woher Geburtsurkunde, Schulzeugnisse etc. nehmen? Er wusste aus seiner Arbeit sehr genau: Ohne amtliche Dokumente war ein Mensch nichts.
Ein merkwürdiges Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte den Kopf, und im gleichen Augenblick spürte er, wie in etwas Hartes an der Schäfe traf.
Die Welt drehte sich, als er vom Sofa fiel, und ohne Arme gab es auch nichts, um seinen Sturz abzufangen. Für einen Moment wurde alles Schwarz, dann klarte seine Sicht wieder auf.
Zwei schmudelig gekleidete Männer mit ALDI-Tüten waren über ihm.
„Scheisse“, sagte der eine. „Die ist ja ein Krüppel.“
„Egal, sie hätte vielleicht das Haus zusammengeschrien“, meinte der andere. – Und dann zu ihm: „Hör zu Puppe, du bist jetzt ganz still und lässt uns hier unsere Arbeit tun, sonst tun wir dir weh, klar?“ Der Mann zückte zur Untermauerung seiner Worte ein verdrecktes kleines Klappmesser.
Einbrecher also, noch dazu ziemlich dreiste. Wahrscheinlich hatte er vergessen, die Tür zu schliessen, das passierte ihm in letzter Zeit häufiger. Die Wohnung lag in einer üblen Gegend; der Preis dafür, dass sich die Nachbarn nicht um einen kümmerten.
Aber das Problem würde er bald gelöst haben. Er sagte nichts und wartete, bis die beiden die Schränke im Wohnzimmer durchwühlt hatten und ins Schlafzimmer gingen. Dann konzentrierte er sich.
Die zwei hatten sicher noch nie einen Werwolf gesehen. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, dessen Überreste er vor sechs Monaten auf der Mülldeponie entsorgt hatte.