Das Geheimnis der Burg
Das Geheimnis der Burg
Seit gestern hatte Daniela Meyer endlich Urlaub. Nachdem sie sich fast ein halbes Jahr keine Ruhe gegönnt und um ihre Beförderung gekämpft hatte, hatte sie sich diese Erholung ehrlich verdient.
Um der stressigen Großstadt zu entkommen, beschloss sie in ein kleines Dorf zu fahren. Das Dorf war so klein und unwichtig, dass es praktisch auf keiner Landkarte verzeichnet war.
Und doch kamen immer wieder Touristen, viele Touristen, die im Dorfhotel übernachteten oder einen Tagesausflug in eben dieses Dorf machten.
Doch sie kamen nicht etwa, weil ihnen das Dorf so gut gefiel oder weil man im angrenzenden Wald wunderbar wandern und campen konnte. Nein, der Grund lag ganz wo anders.
Es war die Burg, die alle wie ein Magnet anzog. Sie war groß und, zur Freude vieler, sehr düster und unheimlich. Die Burg war alt, trotzte seit hunderten von Jahren den Witterungen, aber wie alt sie war, wusste niemand so ganz genau.
Natürlich ist so eine Burg an sich nichts Besonderes, aber diese hier war es schon. Immer wieder wurde von seltsamen Vorfällen berichtet, die in der Nacht oder bei Führungen – am Tag! – beobachtet wurden. Der letzte lag Jahre zurück. Vielleicht aber getraute sich nur keiner mehr etwas zu sagen, man hätte ihm sowieso nicht geglaubt. Und doch spürten einige, dass noch immer ein Geheimnis auf der Burg lag.
Auch Daniela hatte ein seltsames Gefühl, als sie die Burg das erste Mal erblickte. Sie musste noch mindestens eine Stunde fahren und dennoch konnte sie bereits zu diesem Zeitpunkt die Burg deutlich sehen. Seltsamerweise beschlich sie das unheimliche Gefühl, diese Burg sehr gut zu kennen, obwohl sie sich sicher war, noch nie zuvor hier gewesen zu sein.
Endlich erreichte sie das Dorf. Das Zimmer war bereits reserviert. Zu ihrem Glück, denn das Dorf war, wie Daniela feststellte, das reinste Touristennest. Alle Zimmer waren belegt, teilweise sogar doppelt.
Doch das konnte Daniela egal sein. Sie hatte ihr Zimmer für sich allein und genoss die Ruhe, die allerdings nicht selten durch die Stimmen und Schritte der anderen Menschen auf dem Flur oder in den Zimmern nebenan gestört wurde.
Irgendwie schaffte sie es total erschöpft einzuschlafen.
Plötzlich war sie sich nicht mehr so ganz sicher, ob sie wach war oder träumte.
Sie befand sich nicht mehr im Hotel, sondern stand davor und sah zur Burg hinauf. Diese erschien ihr furchtbar riesig und flößte ihr große Angst ein.
Daniela wollte umdrehen und wieder in ihr warmes Bett gehen, aber sie stand wie unter Hypnose, als sie sich auf den Weg zur Burg machte. Sie hatte das Gefühl gerufen zu werden. Ja, die Burg rief nach ihr. Die lauten Schreie taten Daniela in den Ohren weh.
Sie wollte nichts mehr hören und wegrennen, aber sie schaffte es nicht einmal ihre Schritte zu verlangsamen. Unaufhaltsam kam sie dem Eingang näher. Bis jetzt hatte sie die Rufe nicht verstehen können, aber als sie auf die Brücke trat, die über den Wassergraben führte, wurden die Worte deutlicher. Und dennoch war ihr, als würden viele verschiedene Stimmen auf sie einreden, nein einschreien.
Als sie die Brücke überquert und das große Tor passiert hatte, hatte sie das Gefühl, als würde ihr Watte aus den Ohren genommen. Sie verstand plötzlich, was gesagt wurde. Sie kannte diese Stimme, wusste aber nicht, woher. Sie hörte deutlich die Worte: „Leila, hilf uns! Du musst deiner Familie helfen!“
Schweißgebadet wachte Daniela auf. Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte sie sich angstvoll um. Sie kicherte hysterisch, als sie sich in ihrem Bett wiederfand.
Leila – sie kannte niemanden, der diesen Namen trug und doch kam er ihr so seltsam vertraut vor. Sicher war sie irgendwann einmal einer Frau mit diesem Namen begegnet und hatte das einfach vergessen.
Daniela sah die Burg noch vor ihrem inneren Augen. Sie konnte jedes Detail der Burg aus ihrem Traum beschreiben. Oder war es doch kein Traum? Etwas verwirrt fiel sie in einen sehr unruhigen Schlaf.
Schon früh am nächsten Morgen wurde sie durch den Lärm auf dem Flur wach.
Daniela wollte noch etwas schlafen, doch jemand klopfte an die Tür. Schnell zog sie sich ihren Bademantel an und öffnete. Es war die Wirtin.
Sie lächelte Daniela an und entschuldigte sich für die Störung. Die Wirtin teilte ihr mit, dass gegen Mittag eine Führung auf der Burg stattfinden würde. Das wollte sie Daniela nur sagen – für alle Fälle. Daniela bedankte sich für die Information, wünschte der Wirtin noch einen schönen Tag und schloss die Tür. Sie wollte auf keinen Fall an der Führung teil nehmen. Da waren viel zu viele Menschen. Und außerdem war ihr die Burg unheimlich. Ihr graute, wenn sie nur an die dicken schwarzen Mauern dachte. Oder sollte sie doch hingehen?
In Gedanken versunken duschte sie und zog sich danach an. Während des Frühstücks beschloss sie, doch an der Führung teilzunehmen. Da es schon fast elf Uhr war, machte sie sich auf den Weg zur Burg.
Als Daniela sich der Burg näherte, sah sie, dass die Zugbrücke und der Innenhof wie in ihrem Traum aussahen. Sobald sie durch das Tor gegangen war, bemerkte sie die Menschengruppe, die sich zur Führung versammelt hatte. Schnell kaufte Daniela noch eine Karte und schloss sich den Touristen an.
„Und nun folgen Sie mir bitte in den nächsten Saal.“
Schon seit mehr als einer halben Stunde war die Gruppe unterwegs durch die Burg.
Daniela bereute es inzwischen zutiefst an dieser Führung teilgenommen zu haben. Bis jetzt hatten sie nichts aufregendes gesehen, aber die Führung war noch lange nicht vorbei.
Als sie den nächsten Raum durchquert hatten, tauchte vor ihnen plötzlich eine Treppe auf. Sie führte in die Tiefe. Sie war nicht sehr lang und doch war es, als wäre die Umgebung, die Luft, eine ganz andere.
Die Gruppe folgte einem langen Gang. Wie nebenbei erzählte der Führer, dass sich auf beiden Seiten hinter der Wand winzige Räume befanden, in denen verurteilte Verbrecher lebendig eingemauert worden waren.
Am Ende des Ganges blieb die Gruppe stehen und der Führer erklärte, dass sie gleich die Folterkammer betreten würden. „Hier wurden Menschen gequält. Sie sollten gestehen ein bestimmtes Verbrechen begangen zu haben. Ob sie tatsächlich schuldig waren, war unwichtig. Man benötigte einen Schuldigen, den man dem Volk präsentieren konnte. Dass bei den grausamen Foltermethoden alle früher oder später ein Geständnis abgelegt hatten, ist wohl klar.“
Sprachlos sah sich Daniela um. Noch nie hatte sie so etwas grauenvolles und gleichzeitig so faszinierendes gesehen. Daniela konnte den Anblick der Foltergeräte kaum ertragen. Sie jagten ihr grenzenlose Angst ein. Aber sie schaffte es nicht ihren Blick abzuwenden.
Endlich, nach einer Ewigkeit, forderte der Leiter die Gruppe auf, ihm wieder nach oben zu folgen. Zum Schluss sollten die Menschen noch einen ganz besonderen Saal sehen. Ursprünglich wurde er genützt, um adelige Gäste zu empfangen. Doch im Laufe der Zeit nutzte die auf der Burg heimische Familie den Raum als Aufenthaltsräumlichkeit.
An den Wänden hingen die noch vorhandenen Portraits der Ahnen. Sie waren mehrere hundert Jahre alt. Viele der abgebildeten Persönlichkeiten waren in Geschichtsbüchern verewigt worden. Das letzte Bild stammte, laut der Aussage des Burgführers, aus dem frühen 18. Jahrhundert.
Eine Frau fragte, warum die Reihe denn nicht fortgeführt worden sei. Die Antwort war, das wisse niemand genau. Die meisten dieser Familie seien, wie alle anderen Adeligen zur der Zeit auch, der Meinung gewesen, das Leben eines Bauern bedeute nichts. Sie hatten ihren Spaß daran zuzusehen, wie die Menschen gequält und getötet wurden.
Der Herr auf dem letzten Bild war anscheinend einer der schlimmsten. Doch hatte er nicht das Recht gehabt, auf dieser Burg, in diesem Gebiet zu regieren. Das hatte nur sein älterer Bruder. Dessen Name sei heute in Vergessenheit geraten. Doch von seinem gerechten Regiment spräche man noch heute.
„Er behandelte alle Menschen gleich, machte keine Unterschiede zwischen Bauern und Königen. Selbst seinen Bruder, der ihm gegenüber feindlich eingestellt war, behandelte er fair. Wir wissen noch, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte, einen Jungen und ein älteres Mädchen. Eines Tages verschwand die ganze Familie. Die Portraits der Frau und der Kinder waren ebenfalls verschwunden. Das des Mannes verbrannte auf dem Hof. Bis heute ist nicht geklärt, was damals geschah.“
Die Geschichte kam Daniela sehr bekannt vor, doch sie wusste nicht, weshalb. Möglicherweise hatte sie das irgendwo in einer Zeitschrift oder in einem Buch gelesen. Vielleicht war darüber im Fernsehen berichtet worden... Sie konnte es sich nicht erklären.
Aus irgendeinem Grund glaubte sie zu wissen, wie es weitergegangen war. Sie war sich sicher, dass der Mann und die Kinder hier in der Burg ums Leben gekommen waren. Ebenso sicher wusste sie, dass die Frau noch lange weitergelebt hatte und weit entfernt von hier gestorben war. Das war zum verrückt werden! Diese Gedanken strömten in Danielas Kopf und sie konnte nichts dagegen tun.
Plötzlich wurde die Stille, die seit kurzer Zeit in diesem Raum herrschte, von lautem Gelächter unterbrochen. Bauarbeiter kamen mit Leiter und Werkzeug herein und durchquerten den Saal.
„Achten Sie bitte nicht auf die Männer. Sie sind hier, um einige Reparaturen durchzuführen,“ meinte der Führer zu der Gruppe.
„Übrigens, wenn es Sie interessiert, der Name der Lady ist uns noch heute bekannt. Auf der Rückseite des Gemäldes ihres Schwagers steht seine Liebeserklärung an sie.“
„Wie hieß sie denn?“ fragte jemand aus der Gruppe ungeduldig.
„Ihr Name war Lady Leila.“
„Leila,“ murmelte Daniela überrascht. Das war der Name aus ihrem Traum. Was hatte das zu bedeuten? Um sie herum begann die Welt zu verschwimmen. Es wurde für einen Moment dunkel.
Plötzlich wurde Daniela von einem grellen Licht geblendet, das wieder etwas schwächer wurde und nun als angenehm warmes Feuer, das im Kamin brannte, identifiziert werden konnte. Daniela sah sich um.
Ihre Umgebung hatte sich sehr verändert. Die Gruppe war verschwunden. An ihrer Stelle sah sie nun vier Personen. Einen Mann, eine Frau und zwei Kinder. Sie waren fröhlich, redeten und lachten. Man konnte sehen, dass sie eine glückliche Familie waren. Die Gesichter der vier Menschen jedoch waren ...verwischt ... unscharf.
Es klopfte an die Tür. Der Vater stand auf und öffnete. Er begrüßte erfreut einen zweiten Mann. Daniela sah sofort, dass dies der Bruder auf dem Gemälde war.
Folgerichtig musste die Frau, die vor dem Kamin saß, Leila sein. Zunächst sah alles harmlos aus, doch dann ging alles so schnell, dass Daniela fast nicht folgen konnte.
Noch ehe der Vater die Türe geschlossen hatte, wurde diese aufgestoßen und weitere Männer betraten den Raum. Sie hatten ihre Gesichter mit schwarzem Stoff verhüllt. Schnell hatten sie die kleine Familie überwältigt. Nur der Bruder war verschont geblieben und Daniela sah auch, weshalb. Er war der Anführer. Er hatte die Männer bezahlt und sie führten seine Befehle aus.
Die vier Gefangenen wurden aus dem Raum geschleift. Die Umgebung fing an zu verblassen, doch Daniela konnte noch erkennen, dass der Bruder die vier Portraits der Familie von der Wand nahm und mit ihnen und einem teuflischen Grinsen im Gesicht aus dem Raum ging.
Plötzlich stand Daniela in dem Flur, der zur Folterkammer führte. Die Kerker auf beiden Seiten waren bis auf einen bereits geschlossen. In diesen wurden der Vater und die Kinder gestoßen. Höhnisch lachend stellte der Bruder Leilas Portrait an eine Wand in diesem Raum.
„Da ich euch diese schöne Frau entführen muss, lasse ich das Portrait hier – nicht, dass ihr sie noch vergesst, in euren letzten Stunden!“
Fassungslos starrte der Vater seinen Bruder an. „Wieso tust du das?“
„Ganz einfach. MIR steht die Herrschaft zu! Du bist unwürdig!“ schrie ihm der Mörder entgegen. Mit einem verrückten Lächeln setzte er hinzu:
„Ich möchte das Volk von dir befreien. Die benötigen eine starke Hand, die sie führt und du Schwächling, kannst das nicht. Ich werde dich und deine Familie aus den Köpfen der Bauern und der Menschen ausradieren. Sie werden deinen Namen vergessen und bald nicht einmal mehr wissen, dass du je gelebt hast. Also,... wenn du nicht existierst, dann bin doch ich der Erstgeborene, oder?“
Er sah fragend in die Runde. Seine Handlanger nickten bestätigend mit dem Kopf.
„Und weil ich der Erstgeborene bin, herrsche ich über dieses Land und über diesen Pöbel, den du auch als Mensch bezeichnest.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ die Kammer. Er fasste Leila am Handgelenk und riß sie mit sich. Kaum war er die Treppe hochgegangen, fingen die Männer an, die Wand zu zumauern. Sie hörten nicht auf die Schreie der drei Verdammten und ließen sich nicht durch ihre Flehen und Betteln beeindrucken.
Auch Leila wehrte sich mit aller Kraft. Daniela war inzwischen mit den beiden in der Eingangshalle. Der Bruder ließ sich durch Leilas Schläge und ihre verzweifelten Versuche zu fliehen nicht beirren. Er lachte nur.
„Liebes, wieso wehrst du dich denn? Ich hab für dich ein wunderschönes Schloss gekauft, nur zwei Tagesreisen von hier entfernt. Dort wirst du in Sicherheit sein. Und deine Kinder werden hier auf den Gemälden bei dir sein. Niemals wieder wird dich jemand belästigen. Du wirst nur noch mich und die Wachen um dich haben. Bis ans Ende deines Lebens...“
Wieder verschwamm Danielas Umgebung. Als sie aufblickte sah sie in die besorgten Gesichter der Menschen aus ihrer Gruppe.
Verwirrt fragte sie, was los sei. Einer der Teilnehmenden antwortete, sie sei mitten im Raum weinend zusammengebrochen und seit mehr als zehn Minuten nicht mehr ansprechbar gewesen.
Sie bemerkte die heißen Tränen auf ihrem Gesicht und plötzlich erschien ihr alles so klar. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen? Alles war total logisch. Nun wusste sie, was sie zu tun hatte.
Entschlossenen Schrittes verließ sie den Raum und rannte die Treppe hinab. Neugierig folgte ihr die Gruppe.
Als Daniela am Fuße der Treppe angelangt war, steuerte sie sofort die Stelle der Wand an, hinter der sie die Familie wusste. Die Bauarbeiter hatten hier unten zu arbeiten begonnen, machten vermutlich jedoch zur Zeit eine Pause, denn sie waren nicht da.
Das war Daniela recht. Auch das am Boden liegende Werkzeug war nützlich für sie. Mit einer Spitzhacke fing sie an, auf die Steinmauer einzuschlagen. Der Gruppenführer versuchte vergebens, sie davon abzuhalten. Aufgeregt rannte er davon, um Hilfe zu holen.
Plötzlich brach ein großes Stück Mauer aus der Wand. Dahinter wurden die sterblichen Überreste eines Menschen sichtbar. Ein Raunen ging durch die Gruppe.
Ein junger Mann griff nach einem schweren Hammer, um Daniela zu helfen. Es dauerte nur Minuten bis das Loch groß genug war, damit alle es sehen konnten:
Drei Skelette lagen zusammengekauert auf dem Boden. Mit Entsetzen erkannte man, dass zwei davon Kinder waren. Alle starrten auf das ihnen gebotene Bild.
Dem jungen Mann fiel noch etwas anderes ins Auge. An der Wand lehnte ein Bild, vom Staub bedeckt. Vorsichtig säuberte er es, schaute das Portrait der jungen Frau an und stieß einen Laut des Erschreckens aus. Alle Blicke wandten sich ihm und dann Daniela zu, denn jeder hatte erkannt, was Daniela längst wusste:
Lady Leila war zurück gekehrt, um ihre Familie zu befreien.