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Das Gegenteil von Einsamkeit
Es war eine stürmische Herbstnacht. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mittenacht endlich Ruhe gab. Frank hörte das alte Gebäude ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als er spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Er öffnete die Augen, und der Raum war wieder so, wie er früher ausgesehen hatte, bevor die Welt menschenleer wurde.
Aus dem Radio auf dem Nachttisch, dem in einer Welt ohne Elektrizität nutzlosen Gerät, dudelte die Musik von WDR 4. Frank konnte ein Zittern nicht unterdrücken.
Die Tür wurde geöffnet, und Maria kam herein, nackt und wunderschön, die langen blonden Haare in ein Tuch gehüllt.
Frank traute seinen Augen nicht. Tränen liefen seine stoppeligen Wangen hinab. Plötzlich ging das Licht aus, WDR 4 verstummte.
Frank tastete die andere Seite des Bettes ab. Dort lag niemand. Hastig entzündete er die Kerze auf seinem Nachttisch. Ihr flackernder Schein enthüllte den wahren Zustand des Zimmers. Staubflocken bedeckten den Teppich und das geflickte Bettzeug stank nach altem Schweiß.
Maria war wieder fort.
Er hatte Maria am Bach hinter dem Haus begraben. Hier kniete er vor dem schlichten Holzkreuz und legte wie jeden Tag einen frischen Blumenstrauß auf das Grab. Rechts und links waren je drei weitere Kreuze aufgereiht: sechs Kindergräber. Er hatte seine ganze Familie eigenhändig bestattet, denn außer ihm und seinem Boxer Nestor war niemand sonst übrig geblieben.
„Nimm dich in Acht, Reichmann“, krähte eine heisere Stimme vom anderen Bachufer herüber. Frank blickte auf.
Ein hagerer schmutziger Mann starrte zurück.
Nestor, der auf der Veranda auf Frank wartete, begann laut zu kläffen.
„Senkler“, zischte Frank. Den hatte er vergessen. „Lass mich in Ruhe, du verrückter Idiot!“
„Der Bus!“, rief Senkler. „Er kommt. Immer wieder! Der Bus!“
„Ich bete! Hau ab, du Blödmann!“ Frank hob drohend die Faust.
Der Verrückte stolperte wild gestikulierend davon, verschwand im Gebüsch. Frank schüttelte unwillig den Kopf.
„Der ist völlig durchgedreht …“ Er hörte die Verandatür knallen. Zwei Jungen im Grundschulalter rannten laut kreischend in den Garten. Nestor tanzte freudig bellend um sie herum.
Frank glaubte, sein Herzschlag setze aus. Er fasste sich an den schmerzenden Brustkorb. „Mein Gott, die Zwillinge …“
Die Knaben verschwanden wie ausgewischt. Nestor schnüffelte winselnd im Gras.
Frank Reichmann bekreuzigte sich. „Vielleicht ist Senkler nicht der einzige, der den Verstand verliert. Mein Gott.“
Das Haus Gottes war eine Ruine, seit der Turm eingestürzt war. Doch Frank wanderte jeden Tag den Berg hinauf, um das ewige Licht am Brennen zu halten.
Er kniete vor dem Altar und versuchte zu beten. Nestor lief unruhig durch die morschen Kirchenbänke.
Heute wollte ihm kein Gebet über die Lippen kommen. Schließlich seufzte er und beschloss, dass ein Lied seine zerrütteten Nerven beruhigen könnte.
„Großer Gott wir loben Dich“, begann er leise, da fiel eine weitere Stimme ein, dann noch eine, schließlich brauste ein Chorgesang durch die düstere Ruine: „Wie Du warst vor aller Zeit, so bleibst Du in Ewigkeit!“
Mit gesträubten Nackenhaaren wandte Frank sich um.
Hinter ihm standen sie, über hundert Menschen, die Gesangbücher in den Händen, und sangen voller Inbrunst das Lied, das er angestimmt hatte. Nestor hatte sich mit eingezogenem Schwanz unter einer Bank versteckt.
Frank spürte, wie sein Brustkorb sich zusammenzog, sein Blick wurde trübe, Dunkelheit umhüllte ihn.
Frank schlug die Augen auf und schaute auf den von Läusen bewohnten Bart des verrückten Senkler, der sich über ihn beugte. Eine nasse Hundezunge befeuchtete Franks Stirn. „Beeil dich“, krächzte Senkler.
Frank rappelte sich auf. Die Schmerzen waren verschwunden, ganz so wie die längst verstorbene Gemeinde.
Ein Schimpfwort lag ihm auf den Lippen, aber verschluckte es. „Was willst du, Senkler?“
„Der Bus kommt!“ Der Verrückte lief zum Ausgang.
Frank humpelte ihm nach, Nestor eng an seiner Seite.
Auf der Straße vor der Kirche stand ein roter Bus, fuhr an und rumpelte den Berg hoch. Frank ließ die Schultern sinken.
„Siehst du?“ Senkler spuckte aus. „Da war er.“
Frank nickte langsam. „Okay. Ein Bus. Jetzt sind wir gleich.“
„Nee“, sagte Senkler. „Du hast noch Familie.“
Frank hörte seine eigenen Zähne aufeinander klappern.
In der folgenden Nacht durfte Nestor ins Schlafzimmer. Der Hund lag am Fußende des Bettes. Frank ließ die Kerze brennen.
Gegen Mitternacht begann Nestor zu bellen.
Das Radio sprang an, und Wolfgang Petry sang vom Namen an der Tür. Maria trat ein. Diesmal trug sie ihren roten Pyjama. Sie setze sich auf die Bettkante und blickte Frank in das angstbleiche Gesicht. Nestor stürzte durch sie hindurch aus dem Bett.
„Liebling“, sagte Maria. „Nun komm, die Kinder warten schon auf Dich. Sie haben alles vorbereitet, du hast schließlich nur einmal im Jahr Geburtstag…“
Frank sah die Lachfältchen in ihren Augenwinkeln, und alle Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben drängten zugleich ans Licht. Er schlug die Decke zurück, stand auf und folgte ihr aus dem Zimmer.
Nestor verkroch sich verwirrt unter dem Bett.
Der Hund schnappte sich schwanzwedelnd das Stück Wurst, das der stinkende Mann ihm zuwarf.
Senkler stand kauend in der Küche, die er nie hatte betreten dürfen und fühlte sich wie im Paradies. Reichmann hatte ihm heute nicht den Zutritt verboten, nein, diesmal war er einfach sitzen geblieben. Ganz still und friedlich saß er am Tisch, das Gesicht auf dem Teller mit der Torte, und rührte sich nicht. Nicht einmal ein bisschen.
Senkler verharrte im Kauen. Fragen tauchten unvermittelt in seinem umnebelten Verstand auf. Wer hatte die Torte gebacken? Und wieso hingen hier überall Luftballons?
Ein Lufthauch fuhr durch den Raum. Nestor ließ von der Wurst ab und rannte freudig bellend aus der Küche.
„Ach ja!“ Senkler schlug sich an die Stirn. „Familienfeier!“