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Das Gegenteil von Einsamkeit

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13.07.2006
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Das Gegenteil von Einsamkeit

Es war eine stürmische Herbstnacht. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mittenacht endlich Ruhe gab. Frank hörte das alte Gebäude ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als er spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Er öffnete die Augen, und der Raum war wieder so, wie er früher ausgesehen hatte, bevor die Welt menschenleer wurde.
Aus dem Radio auf dem Nachttisch, dem in einer Welt ohne Elektrizität nutzlosen Gerät, dudelte die Musik von WDR 4. Frank konnte ein Zittern nicht unterdrücken.
Die Tür wurde geöffnet, und Maria kam herein, nackt und wunderschön, die langen blonden Haare in ein Tuch gehüllt.
Frank traute seinen Augen nicht. Tränen liefen seine stoppeligen Wangen hinab. Plötzlich ging das Licht aus, WDR 4 verstummte.
Frank tastete die andere Seite des Bettes ab. Dort lag niemand. Hastig entzündete er die Kerze auf seinem Nachttisch. Ihr flackernder Schein enthüllte den wahren Zustand des Zimmers. Staubflocken bedeckten den Teppich und das geflickte Bettzeug stank nach altem Schweiß.
Maria war wieder fort.

Er hatte Maria am Bach hinter dem Haus begraben. Hier kniete er vor dem schlichten Holzkreuz und legte wie jeden Tag einen frischen Blumenstrauß auf das Grab. Rechts und links waren je drei weitere Kreuze aufgereiht: sechs Kindergräber. Er hatte seine ganze Familie eigenhändig bestattet, denn außer ihm und seinem Boxer Nestor war niemand sonst übrig geblieben.
„Nimm dich in Acht, Reichmann“, krähte eine heisere Stimme vom anderen Bachufer herüber. Frank blickte auf.
Ein hagerer schmutziger Mann starrte zurück.
Nestor, der auf der Veranda auf Frank wartete, begann laut zu kläffen.
„Senkler“, zischte Frank. Den hatte er vergessen. „Lass mich in Ruhe, du verrückter Idiot!“
„Der Bus!“, rief Senkler. „Er kommt. Immer wieder! Der Bus!“
„Ich bete! Hau ab, du Blödmann!“ Frank hob drohend die Faust.
Der Verrückte stolperte wild gestikulierend davon, verschwand im Gebüsch. Frank schüttelte unwillig den Kopf.
„Der ist völlig durchgedreht …“ Er hörte die Verandatür knallen. Zwei Jungen im Grundschulalter rannten laut kreischend in den Garten. Nestor tanzte freudig bellend um sie herum.
Frank glaubte, sein Herzschlag setze aus. Er fasste sich an den schmerzenden Brustkorb. „Mein Gott, die Zwillinge …“
Die Knaben verschwanden wie ausgewischt. Nestor schnüffelte winselnd im Gras.
Frank Reichmann bekreuzigte sich. „Vielleicht ist Senkler nicht der einzige, der den Verstand verliert. Mein Gott.“

Das Haus Gottes war eine Ruine, seit der Turm eingestürzt war. Doch Frank wanderte jeden Tag den Berg hinauf, um das ewige Licht am Brennen zu halten.
Er kniete vor dem Altar und versuchte zu beten. Nestor lief unruhig durch die morschen Kirchenbänke.
Heute wollte ihm kein Gebet über die Lippen kommen. Schließlich seufzte er und beschloss, dass ein Lied seine zerrütteten Nerven beruhigen könnte.
„Großer Gott wir loben Dich“, begann er leise, da fiel eine weitere Stimme ein, dann noch eine, schließlich brauste ein Chorgesang durch die düstere Ruine: „Wie Du warst vor aller Zeit, so bleibst Du in Ewigkeit!“
Mit gesträubten Nackenhaaren wandte Frank sich um.
Hinter ihm standen sie, über hundert Menschen, die Gesangbücher in den Händen, und sangen voller Inbrunst das Lied, das er angestimmt hatte. Nestor hatte sich mit eingezogenem Schwanz unter einer Bank versteckt.
Frank spürte, wie sein Brustkorb sich zusammenzog, sein Blick wurde trübe, Dunkelheit umhüllte ihn.
Frank schlug die Augen auf und schaute auf den von Läusen bewohnten Bart des verrückten Senkler, der sich über ihn beugte. Eine nasse Hundezunge befeuchtete Franks Stirn. „Beeil dich“, krächzte Senkler.
Frank rappelte sich auf. Die Schmerzen waren verschwunden, ganz so wie die längst verstorbene Gemeinde.
Ein Schimpfwort lag ihm auf den Lippen, aber verschluckte es. „Was willst du, Senkler?“
„Der Bus kommt!“ Der Verrückte lief zum Ausgang.
Frank humpelte ihm nach, Nestor eng an seiner Seite.
Auf der Straße vor der Kirche stand ein roter Bus, fuhr an und rumpelte den Berg hoch. Frank ließ die Schultern sinken.
„Siehst du?“ Senkler spuckte aus. „Da war er.“
Frank nickte langsam. „Okay. Ein Bus. Jetzt sind wir gleich.“
„Nee“, sagte Senkler. „Du hast noch Familie.“
Frank hörte seine eigenen Zähne aufeinander klappern.

In der folgenden Nacht durfte Nestor ins Schlafzimmer. Der Hund lag am Fußende des Bettes. Frank ließ die Kerze brennen.
Gegen Mitternacht begann Nestor zu bellen.
Das Radio sprang an, und Wolfgang Petry sang vom Namen an der Tür. Maria trat ein. Diesmal trug sie ihren roten Pyjama. Sie setze sich auf die Bettkante und blickte Frank in das angstbleiche Gesicht. Nestor stürzte durch sie hindurch aus dem Bett.
„Liebling“, sagte Maria. „Nun komm, die Kinder warten schon auf Dich. Sie haben alles vorbereitet, du hast schließlich nur einmal im Jahr Geburtstag…“
Frank sah die Lachfältchen in ihren Augenwinkeln, und alle Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben drängten zugleich ans Licht. Er schlug die Decke zurück, stand auf und folgte ihr aus dem Zimmer.
Nestor verkroch sich verwirrt unter dem Bett.

Der Hund schnappte sich schwanzwedelnd das Stück Wurst, das der stinkende Mann ihm zuwarf.
Senkler stand kauend in der Küche, die er nie hatte betreten dürfen und fühlte sich wie im Paradies. Reichmann hatte ihm heute nicht den Zutritt verboten, nein, diesmal war er einfach sitzen geblieben. Ganz still und friedlich saß er am Tisch, das Gesicht auf dem Teller mit der Torte, und rührte sich nicht. Nicht einmal ein bisschen.
Senkler verharrte im Kauen. Fragen tauchten unvermittelt in seinem umnebelten Verstand auf. Wer hatte die Torte gebacken? Und wieso hingen hier überall Luftballons?
Ein Lufthauch fuhr durch den Raum. Nestor ließ von der Wurst ab und rannte freudig bellend aus der Küche.
„Ach ja!“ Senkler schlug sich an die Stirn. „Familienfeier!“

 

Guten Abend, UdoWarstein,

ein gutes Gruselhäppchen, was Du da geschrieben hast! Das liegt vor allem an dem Hund.
Normalerweise hat man ja in Grusel- oder Psychogeschichten mit eingebautem Tier einen Indikator: Wenn der Hund bellt, dann ist da was, der Held hat es sich nicht nur eingebildet. Hier ist, wenn nicht auch der Hund eine Halluzination ist oder spinnt, alles echt, und die bedrückende und surreale Stimmung kam bei mir gut an.
Interpretiert hab ich jetzt gar nicht so viel, weil ich gemerkt hab, daß ich mich dabei totlaufen würde. Alles steht so nebeneinander wie Parallelwelten, die Zeit scheint nicht kontinuierlich zu verlaufen, und dann noch Gott und ein roter Bus, da hab ich gedacht: Widerstand ist zwecklos. Ich kann es genausogut einfach lesen.:D

Hier sind ein paar Sachen, die mir dabei besonders auffielen:

Aus dem Radio auf dem Nachttisch, dem in einer Welt ohne Elektrizität nutzlosen Gerät, dudelte die Musik von WDR 4.
Das Unterstrichene würd ich streichen. Daß es keinen Strom gibt, ist ja nicht explizit wichtig in der Geschichte, und der Einschub klingt so holprig. Aus dem nutzlosen Radio ... das würde reichen, finde ich. Klar ist das nutzlos, wenn es keine Menschen mehr gibt.
Frank konnte ein Zittern nicht unterdrücken.
So geht mir das bei WDR4 auch. :aua:
Hier kniete er vor dem schlichten Holzkreuz und legte wie jeden Tag einen frischen Blumenstrauß auf das Grab.
Immer sind das schlichte Holzkreuze in Geschichten. Ich würd das Adjektiv streichen und wie jeden Tag auch. Ich meine: Du sparst zugunsten der Stimmung an so vielen Informationen, da kannst Du genausogut überflüssige Zusätze streichen. Dann fragt sich der Leser auch nicht, woher der Mann das ganze Jahr über in einer solchen Welt Blumen ranschafft.
„Senkler“, zischte Frank. Den hatte er vergessen. „Lass mich in Ruhe, du verrückter Idiot!“
„Der Bus!“, rief Senkler. „Er kommt. Immer wieder! Der Bus!“
Senkler und der Bus. Die hattest Du doch schonmal. :susp:
Er kniete vor dem Altar und versuchte zu beten. Nestor lief unruhig durch die morschen Kirchenbänke.
Heute wollte ihm kein Gebet über die Lippen kommen.
Hier ist Nestor nicht gut plaziert, es klingt, als könne der Hund heute nicht beten. Allerdings läuft er durch die Bänke, das ist entweder unsauber formuliert oder wertvoller Insidertipp. Überhaupt, ein Hund, der Nestor heißt!
Frank hörte seine eigenen Zähne aufeinanderklappern.
eigenen könnt raus.
„Liebling“, flötete Maria.
Nee, oder? Muß die flöten? Das macht doch das ganze Drama hin, so ein klamaukiges Wort! Da gibt es bestimmt hundert bessere, wenn Du hier überhaupt Redebegleitung brauchst.
die Kinder warten schon auf Dich. Sie haben alles vorbereitet, Du
Bei dem Gotteslied will ich es noch einsehen, aber hier muß die Anrede kleingeschrieben werden.
Senkler stand kauend in der Küche, die er nie hatte betreten dürfen, und fühlte sich wie im Paradies.

Gruß,
Makita.

P.S.

„Okay. Ein Bus. Jetzt sind wir gleich.“
Geil. :D

 
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Jau, das war ja men eine ausführliche, konstruktive Kritik. Woll?

Du hast recht, da kann noch gestrafft werden. Deine Kürzungsvorschläge treffen's.

Dann fragt sich der Leser auch nicht, woher der Mann das ganze Jahr über in einer solchen Welt Blumen ranschafft.
Na, im Winter gibt's Eisblumen. *kalauer*

Senkler und der Bus. Die hattest Du doch schonmal.
Bingo!

Allerdings läuft er durch die Bänke, das ist entweder unsauber formuliert oder wertvoller Insidertipp.
Sowohl als auch. Wir zwei könnten allerdings höchstens durch die Kirchenbänke krabbeln oder uns durchquetschen.

Überhaupt, ein Hund, der Nestor heißt!
Nestor ist ja auch eine Ehrenbezeichnung für den Ältesten.
Zum anderen gibt es den Hund wirklich, nur ist er in der Realität ein Weibchen. (Was ja irgendwie noch surrealistischer ist).

Ja, ja, ich bin soooo höflich, dass ich immer Du mit großem D schreibe... *hüstel*

Nee, oder? Muß die flöten? Das macht doch das ganze Drama hin, so ein klamaukiges Wort!
Stimmt, das ist ja peinlich. Und dabei lese ich gar keine Liebesschmonzetten...

Danke sehr!

 

Hallo Udo

Eine wunderlich schöne, kleine Geschichte, die da deinen Tasten entsprungen ist. Wohl ist das Erleben für den Prot. etwas eigenartig, ein Dasein in der Gegenwart und zugleich schemenhaft auch in der Vergangenheit. Was mir hierbei einzig befremdend vorkam, war der Titel. Ich ahne zwar einen annähernden Zusammenhang, doch warum sollte dieser Zustand von Frank ein Gegenteil von Einsamkeit sein? Die kurzen Sequenzen früheren Lebens füllen dieses Vakuum kaum.

Auf jeden Fall gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

Der Titel hat’s tatsächlich in sich,

lieber Udo,

in dieser Geschichte aus Nekropolis mit geradezu klassischen & zeitlosen Elementen:
Nestor, König von Pylos und die personifizierte Altersweisheit, tritt auf mit zertrümmertem Kiefer und womöglich coupiertem Schwanz (pardon, beim Hund: Rute, gramm. weiblich, was das ganze ja noch komplizieren wird, könnte aber auch ein gewandelter Zerberus sein), denn

Styx ist nur mehr ein Stücksken Gewässer, dass es keines Charon bedarf, denn der Herr der Unterwelt – pardon, der Unterschicht mag vielleicht hadern, aber er heißt nicht mehr Hades, sondern Reichmann … und keift vom "andern Ufer" her - über.
Und der arme Mensch - in der Anstalt, wie ich vermute, trotz Gartens - Friedhöfe sind halt gepflegte Anlagen - Parks.

Das Adverb „ein“ hat im Deutschen im Gegensatz zu andern Sprachen eine merkwürdige Karriere durchgemacht vom Zahlwort (ggfs. mit Genitiv-s) zum unbestimmten Artikel, was sich in den Zusammensetzungen fortsetzt wie der „Einsamkeit“, was heute bedeutet, dass wer allein sei.

Dabei war das Suffix –sam ursprünglich selbst ein eigenes Wort in der Bedeutung von „mit etwas übereinstimmend, von gleicher Beschaffenheit“ (Duden Bd. 7) und mit dem Adverb „samt“ (= zusammen) verwandt, was heut nur noch im „allesamt“ (alle zusammen) durchschimmert.

Ist also das Wort „Einsamkeit“ vom Bedeutungswandel her selber schon sein Gegenteil? Klingt das nicht schon im Synonym „alleine“ an, dass ja ein Widerspruch zu sein scheint: all + eine. Kurz: da ist wer bei sich selbst!

Doch Frank wanderte jeden Tag den Berg hinauf, um das ewige Licht am Brennen zu halten.
Ja, so sagt man wohl (vor allem hier im Pott: ich bin am Laufen …, German gerund halt …). Vielleicht eleganter: „Doch Frank wanderte jeden Tag den Berg hinauf, um das ewige Licht leuchten zu lassen“, wie manche kleine Geschichte, die man erst beim zweiten Lesen knackt ...

Gruß

Friedel

 

@friedrichard
Deine Kommentare machen Udo froh. Und Erwachsene ... äh ... das geht zu weit.

Genau in die von Dir eingeschlagene Richtung zielte ich mit dem Titel.

Was dat am Brennen dran sein tun täte... Tatsächlich bringt er nichts zum Leuchten. Er hält das Ewige Licht im Zustand des Brennens, er konserviert eine Aktion, hält sie im Gange, lässt sie zum Zustand erstarren.
Da fällt mir nur die Verlaufsform ein, uneleganterweise. Hm. ??

Übrigens: herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
Geburtstag is, wennste noch am Leben am dran sein bis ;-)

 
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Geburtstag is, wennste noch am Leben am dran sein bis
, wat ich doch hoff,

lieber Udo Und nochen Zitat

Deine Kommentare machen Udo froh
, denn aufgrund des unterschlagenen / verschwiegenen Reims (hab wat gegen Werbung, aber kenn s'e trotzdessen) die indiskrete Frage nach dem Alter ... Wahscheinlich fühlste Dich jünger ... Ich ja auch. Wie 60 1/2 ...

War auch nicht schwierig, die richtige Richtung einzuschlagen und mit der Geschichte zu gehn. Auf King wär ich freilich nie gekommen (und außer der Verfilmung von Shining halt ich alles andere für Ramsch, was bei Vielschreibern gar nicht anders sein kann). Wat den Slang angeht - muss ma' schaun, ob ich nich' ma' wieder wat zu schreib ...

Danke für den lieben Gruß und -.
Ramsch sind Deine Geschichten mit Sichgerheit nicht!

Gruß

Friedel

 

@Friedel
Och, ich bewege mich auf die 46 zu.

King? Interessant, ich bekenne mich schuldig, früher recht viel von King gelesen zu haben. Das das so durchschlägt, war mir nicht bewußt.
Hm, zu distanziert?
Ich rede mich jetzt nicht mit diesem Männer-Frauen-Dings raus, sondern überleg mal, was ich mit der Kritik anfange.

Im Übrigen, liebe Maria, habe ich ja richtig Glück, dass ich die Maria Reichmann als nackt und wunderschön beschrieben habe. Ansonsten hätte ich mir ja was eingehandelt. ;-)

 

Nochen Nachtrag zur Karriere des Adv. "ein", der gerade eben über mich kömmt,

lieber Udo,

denn in seinem Superlativ (einst) deckt es alles ab - außer der Gegenwart, also ausgerechnet den einzig "wahren" Zeitpunkt, denn alle andere Zeitformen sind Konstrukte: einst war & einst wird, aber niemals ist einst.

Man, wat binnich widder klu:ch!

Zur Frage

Hm, zu distanziert?
gibt's nur eine Antwort: man kann gar nicht genug Distanz wahren. Wer mitten in der Masse steht, verliert die Übersicht und die sollte ein Autor schon wahren.

Tschüss

Friedel

 

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