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Das Gefühl der Stärke
Lang und anstrengend war der Tag gewesen. Er lag auf der schmalen Pritsche, die einstmals so flinken Augen müde geschlossen, die Hände halb geöffnet kraftlos ins Laken gekrallt. Er atmete schwer. Es verlangte ihn nach einem Glas Wasser.
Durfte man ihn so behandeln? Pustekuchen, das hier waren subtile Methoden, ihn fertigzumachen. Er hatte ganz anderes durchgestanden. Hatte seine Freunde krepieren sehen. Kein schöner Anblick, nein, mein Herr. Überheblicher junger Schnösel. Den Kopf für eine Sache hinhalten ist eines solchen jungen Schnösels Sache nicht. Arrogante, überhebliche Schnösel wie dieser hatten seine Freunde umgebracht. Bürgersöhnchen.
Er hatte nie viel von Politik verstanden, aber sein gesunder Menschenverstand hatte ihn schon immer mißtrauisch gemacht gegen die feinen Herrschaften und ihr unverbindliches Lächeln und ihren belehrenden Ton. Einen Menschen erniedrigen und zu Tode quälen und dabei unverbindlich Lächeln. Genau wie dieses junge Bürgersöhnchen dort, das ihn jetzt folterte. Ihn verlangte nach einem Glas Wasser, und der Junge versprach es ihm zu holen, aber „eine Frage“ hatte er noch. So ging es nun seit Stunden.
Ächzend drehte er sich auf die Seite. Sein Puls kam nicht zur Ruhe. Er war im höchsten Grade erregt. Nein, er hatte keinen Fehler gemacht.
Bürgersöhnchen wie der hatten ihn doch damals eingesperrt. Zehn Jahre lang mußte er täglich Arbeiter, Genossen leiden und sterben sehen. Als sie ihn dann befreiten, die Amis, da war er dem Tode näher als dem Leben gewesen. Und hier stand einer, stellte dumme, unnütze Fragen und verweigerte ihm ein Glas Wasser.
Bestrafte ihn dafür, das die Zeit seinesgleichen über Männer wie ihn hatte triumphieren lassen. Dafür, das er es ihnen nicht leicht gemacht hatte, über Männer wie ihn zu triumphieren. Er hatte genug davon. Er begann, wirres Zeug zu reden. Das klappte immer bei solchen, hatte schon immer geklappt.
Das Lachen klang mehr nach einem röcheln, und sein ganzer Körper schmerzte.
Schließlich hatte er mit solchen zusammengearbeitet, nachdem einer seiner Genossen Vorsitzender der Partei geworden war. Der hatte ihn zum Oberleutnant der Sicherheit befördern lassen, und nun mußte er junge Bürgersöhnchen darin ausbilden, die Herrschaft junger Bürgersöhnchen zu verhindern. Null Prozent Klassenbewußtsein und hundert Prozent Leistungsbereitschaft. Die sahen in allem einen Wettbewerb. Er hingegen war froh, als er sich langsam wieder in der Lage fühlte, zum Waschbecken an der anderen Wand des Raumes zu kriechen.
Er hatte eine Welt und ihre Ideale verteidigt. Dás Bürgersöhnchen hingegen tat nur seinen Job. Er wollte dem Bürgersöhnchen nicht sagen, wie viel Spaß es ihm gemacht hatte, seinesgleichen alles zurückzuzahlen, nachdem er endlich befreit worden war. Sein Leben war nun der Schutz des Klassenstaates gewesen. Natürlich gab es auch unerfreuliche Erlebnisse. So zum Beispiel, als der Genosse Fritz, den er seit Jugendzeiten kannte, der sein bester Freund gewesen war, zu den Bürgersöhnchen überlief. Aber das würde er dem Bürgersöhnchen nie erzählen, das er es dem Fritz übel genommen hatte, das er ihn behandeln mußte wie ein Bürgersöhnchen. Aber denen konnte man nur mit deren Methoden beikommen. Und wenn man ihnen unterlegen war, mußte man ihnen das Gefühl der Stärke geben. Die Bestätigung ihres Wahns, die Besten und Größten zu sein.
Deshalb hatte der Schnösel ihn gehen lassen. Er dachte, er hätte seinen Widerstand gebrochen...
Freudigmann ging noch einmal die Unterlagen durch. So viele Fragen blieben unbeantwortet, Fragen, die nur der verbohrte, alte Betonkopf hätte klären können, den sie am gestrigen Abend tot in seiner Zelle gefunden hatten.
Freudigmann mochte seine Arbeit. Sie erschien ihm als Dienst an der Gesellschaft. Die Aufarbeitung dessen, was passiert war, sollte verhindern, das solches jemals wieder geschehen könnte. Und es waren schreckliche Dinge passiert. Menschen hatten ihre Eltern, ihre Freunde oder Nachbarn bespitzelt und verraten. Wie bei den Nazis. Keine Rechtfertigung gab es dafür, außer dem Wahn, der einzig großen und gerechten Sache zu dienen.
Freudigmann klappte den Aktendeckel zu und saß eine Weile mit geschlossenen Augen im Stuhl. Es war richtig, und auch wichtig, all das aufzurollen, sie alle vor Gericht zu stellen. Was die Gesellschaft seines Staates bei den Nazis verkehrt gemacht hatte, machte sie nun mit den Kommunisten richtig. Diese hier sollten nun reden, die Methode ihres Machterhalts preisgeben. Nur hartes durchgreifen konnte die demokratische Grundordnung erhalten!
Macht zu haben und sie zu mißbrauchen ist gleichbedeutend. (Bartholomeo Vanzetti)