Das gebrochene Herz
Sie war schon immer anders gewesen. Sie war nicht so engstirnig wie die anderen Engel, sondern glaubte, dass es da noch mehr geben musste, als nur das Paradies auf den Wolken, wo sie wohnte. Und so war sie eines Tages etwas weiter hinuntergeflogen, durch die Wolkendecke. Sie war auf einer kleinen Wolke gelandet, auf der nichts war, außer einem roten Briefkasten. Sie war sehr neugierig und so öffnete den Briefkasten. Jeder andere Engel wäre spätestens jetzt wieder nach oben geflüchtet, doch Isabella nicht. Sie war anders als andere Engel. Ihr Haar war rabenschwarz und ihre Locken standen ihr wild vom Kopf ab. Ihr Teint glich Porzellan und ihre mandelförmigen Augen waren von einem strahlenden Eisblau. Doch sie stach nicht nur durch ihr Aussehen, sondern auch durch ihr Verhalten heraus. Sie liebte es wild herumzufliegen oder bis spät in die Nacht die Sterne zu beobachten. Sie war wissenshungrig und neugierig. Und genau darum öffnete sie den Briefkasten. Es lag nur ein einzelner Brief darin. Das Papier des Umschlags war glatt und lag gut in der Hand. Ohne groß nachzudenken, brach Isabella das Siegel und zog den Briefbogen hervor. ‚Niemand wird das hier je lesen. Also kann ich endlich loswerden, was ich denke und was ich fühle. Niemanden interessiert es ob es mir gut geht oder nicht. Meine Eltern haben nur noch Augen für meine Geschwister. Sie können beide irgendetwas besonders gut, nur ich bin normal. Ich habe zwar ziemlich gute Noten, mehr aber auch nicht. Ich kann nicht gut handarbeiten oder schöne Bilder malen. Ich bin weder sonderlich sportlich noch kreativ. Ich lese gerne und viel und ich habe gute Noten. Aber das mit den Noten ist für meine Eltern schon längst zur Gewohnheit geworden.‘ Der Brief ging noch ein bisschen weiter. Ganz unten stand ein Name. Klein und unleserlich stand da: John. Isabella hatte gemerkt das dieser John in keiner einfachen Situation war. Er musste wohl gerade eine schwere Phase durchmachen. Isabella überlegte einen Moment, dann hatte sie einen Beschluss gefasst. Sie flog kurz zurück durch die Wolkendecke, um Tinte, Feder und Papier zu holen. Nach einer kurzen Weile kehrte sie zu der Briefkastenwolke zurück. Sie setzte sich und begann einen Antwortbrief zu verfassen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich war er fertig. Isabella las ihn abschließend noch einmal durch: Hallo John. Ich weiß du hast keine Antwort auf deinen Brief erwartet. Es ist schwierig zu erklären, woher ich deinen Brief habe oder wer ich bin. Nur so viel: Ich heiße Isabella. Ich kann dich und deine Lage gut verstehen. Erwachsene können manchmal so blind sein. Weißt du, mir hilft es immer, wenn ich mich jemanden aussprechen kann. Falls du das möchtest, schreib mir einfach einen Brief und hinterleg ihn wie beim ersten Mal. Ich weiß, dass es nicht richtig war deinen Brief zu lesen und ich hoffe du verzeihst mir. Isabella. John war zunächst verwundert, als er den Brief von Isabella am nächsten Tag fand. Doch er öffnete den Umschlag und las gespannt den Brief. Sofort holte er Stift und Papier und verfasste eine Antwort. So begann eine gute Freundschaft zwischen dem Menschen John und dem Engel Isabella. Isabella hatte etwas neues über Engel gelernt. Sie konnten nicht an Krankheiten oder Verletzungen sterben. Engel starben nur an Folge des Alters. Isabella hatte gefragt, ob ein Engel an einem gebrochenen Herzen sterben konnte. Schallendes Gelächter war erklungen. „Natürlich nicht“, war die Antwort und die Stimme hatte vor Spott nur so getrieft. Isabella hatte gefragt, weil sie eine Vermutung hatte. Jedes Mal war da ein angenehmes Kribbeln, wenn sie sah, dass ein John ihr geantwortet hatte und wenn keine Antwort da war, war sie enttäuscht. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu John und seinen Briefen ab. Isabella war das alles an sich selbst aufgefallen und sie hatte überlegt woran das lag. Es gab nur einen logischen Schluss: Sie war verliebt. In John. In einen Menschen! Das konnte doch nicht wahr sein. Ein Engel und ein Menschen, wie sollte das funktionieren? Es hatte Isabella einiges an Überwindung gekostet, doch sie musste es ihm sagen. Also schrieb sie John einen Brief, indem sie ihm ihre Liebe gestand. Als der Brief dann endlich im Briefkasten lag, war es bereits Nacht und es türmte sich neben Isabella ein kleiner Turm aus Papier auf. Alles Entwürfe, die sie verworfen hatte. Keine 10 Minuten später kam schon eine Antwort. Mit einem mulmigen Gefühl öffnete Isabella den Brief und las: Isabella, du wirst es nicht glauben. Ich saß hier mit Stift und Papier und habe überlegt, wie ich es dir sagen soll, als mich dein Brief erreichte. Genau das was in deinem Brief stand, probierte ich jetzt nun schon seit Stunden zu Papier zu bringen. Aber so ist es leichter für mich. Drei Wörter: Ich liebe dich, Isabella. Mist das waren vier, aber egal. In Liebe, John. Isabella las den Brief wieder und wieder. Sie konnte es nicht glauben. John erging es ähnlich. Von nun an schrieben sie mehr Briefe, denn je. Doch eines Tages änderte sich alles. Isabella hatte den ganzen Tag noch nichts von John gehört. Das machte sie sehr traurig und sie war verwirrt. Als es Nacht wurde und der Mond aufging,hatte sie immer noch nichts von John gehört und so beschloss sie in die Menschenwelt hinab zufliegen, um zu sehen was passiert war. Sie flog durch die Wolkendecke, auf das Lichtermeer Londons zu. Ein Normalsterblicher wäre auf der Suche nach einer bestimmten Person in dieser riesigen Stadt verzweifelt, doch zwischen Isabella und John bestand eine Art unsichtbares Band und so konnte sie ihn überall finden. Das Band war schwächer geworden, dass hatte Isabella wohl gemerkt, aber erklären konnte sie sich das nicht. Doch trotz der geringeren Kraft des Bands, trugen ihre Engelsschwingen sie sicher zu Johns Aufenthaltsort. Es war ein Friedhof. Sie folgte dem Band weiter und weiter über den dunklen Friedhof, fragte sich was John hier machte, und erreichte schließlich einen einzelnen, abseitsstehenden Grabstein. Kein John weit und breit. Eine kleine Kerze brannte auf dem Grab. Auf dem Grabstein stand: John Smith Gestorben an den Folgen eines Verkehrsunfalls am 17.2.1999 im Alter von 17 Jahren. Isabella sank zu Boden. Ihr Herz fühlte sich an als wäre es in tausend kleine Splitter zerbrochen. Sie fühlte sich leer. „Es geht also doch“, war ihr letzter Gedanke, bevor sie ihre Augen für immer schloss. Alles was zurück blieb, war ein kleiner Haufen goldener Staub und eine weiße Feder. Später wuchs eine Rose auf dem Grab von John Smith. Sie hatte schneeweiße Blüten und fesselte den Blick eines jeden, der an ihr vorbeiging mit ihrer überirdischen Schönheit. Niemand hatte sie dort hingepflanzt, sie war einfach da gewesen.