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Das Fussballspiel
Die weibliche Natur kann ziemlich kompliziert sein. Zudem kann man nicht gerade behaupten, dass Mädchen viel von Fussball verstehen, was ich bereits in jungen Jahren erfahren sollte, noch bevor ich zu ahnen begann, dass sich ihre Anatomie grundlegend von der eines Jungen unterschied. Sie sind nicht so begabt, was die Ballannahme angeht und nicht gerade gewandt, was die Verarbeitung jenes betrifft; vor allem sind sie nicht geschickt genug, die Bälle richtig zu treffen. Sie stoßen den Ball wild mit der Fussspitze, anstatt ihn mit etwas Instinkt weiterzuleiten. Manchmal springt ihnen die Lederkugel so weit vom Fuss, dass der gegnerische Torwart sich einen Spass daraus macht und erst im allerletzten Moment danach hechtet; natürlich nur um sich vor den Anderen aufzuspielen und immer mit einem Gesichtsausdruck, der einem seine von Gott gegebene Grazilität aufzeigen will. Das erste Spiel, an das ich mich erinnern kann, bei welchem mir auffiel, dass Mädchen nicht sonderlich viel Ahnung von diesem Spiel haben (und wir zudem noch ziemlich übel unter die Räder kamen - eben weil in unserer Mannschaft eine gewisse Grete Olschewski mitspielte -) fand noch vor meinem elften Lebensjahr statt.
Es war an einem sonnigen Tag im Juni und Gert Fitzker hatte die Mannschaftswahl gewonnen, indem er sich die breiten, ausgelatschten Treter seines älteren Bruders angezogen hatte, um damit beim obligatorischen Ene Mene Muck als erstes seinem Gegenüber auf die Schuhspitze zu treten. Natürlich wählte er Gilbert Rahmann, einen kräftigen Viertklässler, dessen Vater '47 bei Rot-Weiß gespielt hatte, sodass ich zu meinem Leidwesen in die gegnerische Mannschaft gewählt wurde. Ebenso wie Grete, die mitspielen durfte, weil Hansi Petersen irgendwie auf sie stand und ihm der einzige Lederball in unserem Viertel gehörte - was letztendlich dazu führte, dass sie meine Mitspielerin wurde und wir das Spiel kläglich verlieren sollten. Sie war zwei Jahre älter als ich und Hansi Petersen meinte, man könne bei ihr seit einiger Zeit etwas sehen, dass er grinsend “Möpse” nannte. Natürlich hatte ich das Wort schon des öfteren gehört und im Großen und Ganzen wusste ich, was Möpse waren. Es handelte sich um eine besondere Hunderasse; dickbäuchige Viecher mit eingedellter Schnauze - nicht sonderlich schön anzuschauen, dennoch Inhalt eines Mysteriums, über das sich Erwachsene, vor allem Männer, gerne unterhielten. Komischerweise sprachen sie darüber nicht in der Art, wie man eigentlich über einen Hund hätte sprechen müssen. Ich meine, Hunde waren schliesslich das Natürlichste auf der Welt. Man musste nicht flüstern, wenn man über sie sprach und großartig zu Lachen gab es da nichts; es waren schliesslich nur Hunde.
Wenn ich das so sage, dann ganz bestimmt nicht ohne Grund.
Da waren zum Beispiel die Möpse von Fräulein Perl-Glattich. Sie waren Teil des Gesprächsstoffes, wenn ich mit Vater (auf ausdrücklichem Wunsch meiner Mutter, die an den Wochenenden und manchmal auch an Wochentagen in einer nahegelegenen Wäscherei arbeitete) im "Wattenscheider Eck" saß, einer mehr oder weniger heruntergekommen Kneipe in unserer Straße, wo sich all die Tagelöhner und Leiharbeiter trafen, wenn sie beim morgendlichen Anstehen vor dem Arbeitsamt in der Ruhrallee keine Tagesbeschäftigung abgegriffen hatten. Mit der Arbeit sah es nämlich ziemlich Mau aus in unserem Viertel, vor allem seit "diese verdammten Itacker für die Hälfte eines ordentlichen Lohnes" als Gastarbeiter ins Land geholt worden waren; so oder so ähnlich drückten sie sich aus, die Männer mit den faltigen Gesichtern und den rauen Händen, die um den schummrigen, verrauchten Tresen standen und sich angeregt über Möpse oder Fussball unterhielten. Ich wusste nicht, weshalb Fräulein Perl-Glattichs Hunde von solchem Interesse waren, dass die Männer ständig davon sprachen, aber sie taten es und ich hörte ihnen heimlich dabei zu, während ich so tat, als würde ich mich mit meinem Puzzle beschäftigen, an dem ich seit langem vergeblich knobelte. Fräulein Perl-Glattichs Möpse mussten wahrlich zwei prächtige Kerle sein, dachte ich damals, obwohl ich es nicht mit Fug und Recht hätte behaupten können : ich traf sie niemals auch nur mit einem einzigen Hund auf der Strasse an.
Da ich nichts über Möpse wusste und sie mich dazumal nicht sonderlich interessierten, fing ich eben an, mich für das andere Thema zu interessieren, über das Vater und seine Kumpanen sprachen. Von da an verging kein Tag, an dem ich nicht über Fussball las oder nachdachte! Ich fing an, mir jegliche Ergebnisse zu merken - nicht nur die von Rot-Weiß, sondern auch die Ergebnisse der anderen Clubs, deren Existenz für mich zum Inbegriff des Seins wurden. Ich denke nicht, dass Mutter sonderlich stolz auf mich war, wenn ich ihr von den heroischen Taten der Derwalls und der Rahns erzählte, während ich im selben Jahr mit einem ziemlich lausigen Zeugnis aus der Schule kam, was mir eine Woche Hausarrest einbrachte und mir zudem das Bewusstsein einbrachte, dass es einfacher war, sich Torfolgen, Namen und sogar Zuschauerzahlen zu merken als binomische Formeln, die ich bis heute nie mehr in meinem Leben anzuwenden wusste geschweige denn musste. Wer die Tore im Pokalfinale 1953 schoss weiß ich allerdings noch sehr genau - beinahe minutiös.
Ich fragte mich also, während wir an jenem Nachmittag dieses drückend heißen Sommers Aufstellung auf dem löchrigen Rasenplatz nahmen, warum Hansi Petersen von Grete Olschewskis Möpsen sprach. Ich ahnte nicht, dass er ihre Brüste meinte, die ich etwa zwei Jahre später entdecken sollte - als Eduard Glinkwein aus der Oberstufe mit einem einschlägig bekannten Groschenheft herumlief und immer wieder sirenenartig "Mopsalarm! Mopsalarm!" rief. Ich bin mir sicher, dass ich das einzige Wesen war, dass in diesem Moment nicht auf Eduard Glinkwein starrte sondern den Boden nach einem sabbernden Köter absuchte.
Jedenfalls wusste ich von da an, was Möpse waren, bzw. ich wusste es ja eigentlich schon vorher, denn Möpse waren im Grunde genommen immer noch Hunde, nur die Menschen bzw. vor allem Männer nannten die weiblichen Brüste gerne Möpse, weil sie vielleicht nicht richtig damit umgehen konnten und Menschen, die mit etwas nicht richtig umgehen können, neigen recht gerne dazu, etwas ins Lächerliche zu ziehen um von ihrer eigenen Ungeschicklichkeit abzulenken.
Damals, an dem heißen Sommertag, als mir das erste Mal richtig klar wurde, dass Mädchen nicht für das Fussballspielen gemacht worden waren, interessierten sich die meisten von uns nicht für Grete Olschewskis Möpse. Was uns wirklich interessierte war das Spiel mit der runden Lederkugel, dem wir uns so oft wir nur konnten widmeten. Wir zogen in jeder freien Minute mit Hansi Petersens braunem Lederball unter den Armen zum alten Forstsportplatz in der Osterfelder Heide hinaus, wo noch bis vor ein paar Jahren ein Internierungslager für Kriegsgefangene gestanden hatte. Zunächst waren wir nicht sonderlich begeistert davon gewesen, uns auf einem Feld in die Hacken zu treten, auf dem vor einiger Zeit Menschen verhungert waren. Vor allem aber störte uns der Anblick des rostigen Stacheldrahtzauns, der die Rasenfläche umschloss und der offensichtlich dazu gedient hatte, das einzugrenzen, was uns laut unserer Eltern seit dem Kriegsende wieder gegeben war und für das wir dem lieben Herrgott im Himmel und noch ein paar andere Heilige, deren Namen ich mir allerdings nicht merken konnte, auf Ewig danken sollten : die Freiheit. Gert Fitzker (jener mit den übergroßen Schuhen seines Bruders und Anführer unserer Truppe) meinte jedoch, dass wir keine andere Wahl hätten, da auf dem regulären Sportfeld im Grafenbusch nur Vereinsmannschaften zugelassen wären und wir ansonsten in den schmutzigen Hinterhöfen unserer Altbausiedlung hätten spielen müssen. Diese tristen Siedlungen sollten später Teil jener Legenden werden, in denen Fußballer zu Helden hochstilisiert wurden, weil sie sich im Ruß der Stadt und auf dem harten Beton der Hinterhöfe ihre Knie aufschürften. Ihre Geschichten sollten an den Stammtischen erzählt werden mit solch innbrünstigem Ausdruck, dass einem die gegenwärtige Menschheit wie ein primitiver Haufen Stallaffen vorkam und man sich fragte, weshalb die jetzige Sportlergeneration überhaupt diesen ganzen modernen Schnickschnack wie Massagebänke, beheizte Trainingsplätze, Hochleistungszentren usw. benötigten, wenn doch ein einfacher betonierter Hinterhof genügte. Da sieht man mal wieder die Moral der Gesellschaft. Hätte man sich in seinem Sonntagsanzug in einen Schweinetrog geschmissen, um anschliessend mit blutigen Knien heraus zu steigen, hätte sicher keiner Beifall geklatscht!
Jedenfalls spielten wir trotz aller Bedenken auf dem stoppeligen Platz in der Osterfelder Heide, der einst dazu gedient hatte, feindliche Infanteristen gefangen zu halten. Wir beschlossen allerdings, vor jedem Spiel eine Gedenkminute einzulegen - in Ehren und im Gedenken an jene armen Seelen, die irgendwo unter unseren Schuhsohlen ihr Leben ausgehaucht hatten. Vor den ersten beiden Spielen hielten wir uns auch ehrenvoll an unser Gelübde, standen stumm im Kreis herum und stellten uns mit Grausen den Haufen zusammengepferchter Männer vor, die hungernd und wimmernd bei Wind und Wetter ihrem Schicksal entgegen gesehen hatten - eben dort, wo wir nun standen und uns in wenigen Augenblicken vor die Schienbeine treten sollten. Vor dem dritten Spiel fiel die Gedenkminute allerdings schon merklich kürzer aus, da ich und ein paar Andere dummerweise früher als sonst zum Flötenunterricht mussten, den Fräulein Hutz - unsere ausgemergelte Flötenlehrerin, über die nie einer der Männer am Tresen auch nur ein Wort verlor weil sie vermutlich keinen Hund besaß - auf den frühen Nachmittag verschoben hatte; spätestens jedoch beim vierten oder fünften Spiel hatten wir die Lagerinsassen komplett vergessen. Wir dachten uns nicht einmal etwas dabei, als Heiner Großmann, unser speckiger Torsteher, bei einer spektakulären Flugparade auf etwas Hartes fiel und sich dabei eine Rippe so heftig stieß, dass er nur unter großen Schmerzen weiterspielen konnte. Stattdessen warf er den knöchrigen Gegenstand verärgert zur Seite, auf den er geprallt war; niemandem kam in den Sinn noch einmal danach zu schauen. Anfang der 1960er Jahre pflügte ein Räumungstrupp das verwitterte Feld um, weil man unter dem Rasen Blindgänger vermutete (und sich tatsächlich Fliegerbomben darunter befanden, wie sich schliesslich herausstellte). Dabei fand man vereinzelte menschliche Überreste zwischen den Grasnarben, was die Stadtoberen schliesslich irgendwann dazu veranlasste, das einstige Fussballfeld zur Gedenkstätte zu erklären mit all dem üblichen Brimborium. Vermutlich hatte sich Heiner Großmann damals die Rippe an einem Oberschenkelknochen geprellt oder an einem verwitterten Unterkiefer, wer weiß. Immerhin hatten wir ganze zweimal innegehalten und an jene Menschen gedacht, die zum Teil noch auf dem Feld verstreut gelegen hatten, während wir mit unseren klobigen Galoschen, die einem wie schwarze Kohleöfen an den Füssen klebten, darüber hinweg getrampelt waren.
Um auf den verhängnisvollen Nachmittag der Erkenntnisse zurück-zukommen : der Ball lief gut durch unsere Reihen und ich glänzte bereits zu Beginn mit einigen taktisch klugen Pässen zu Heiner Großmann, unserem recht stämmigen Torwart. Natürlich fragt man sich nun, was an Rückpässen so taktisch klug sein kann; aber diejenigen, die selber einmal Fussball gespielt haben wissen, dass ein Rückpass auf den Torhüter durchaus Sinn machen kann; zumindest wenn man mit jemandem wie Grete Olschewski in einer Mannschaft spielt. Der Clou an der Geschichte ist nämlich der, die Mädchen so weitläufig wie möglich zu umspielen - je weniger sie am Ball sind, desto größer sind die Chancen, dass der Ball auch in den eigenen Reihen bleibt. Wer sich jetzt fragt, weshalb man dann nicht einfach die Rollen des Torstehers mit der Rolle des Mädchens vertauscht zeigt jedoch lediglich auf, dass er keine Ahnung von diesem Spiel hat, denn erstens würde das dem Gegner die Chance eröffnen, mit einem nicht einmal besonders gut platzierten Schuss einen Treffer zu erzielen (oder glaubt jemand allen Ernstes, ein Mädchen würde sich unter Aufbringung aller leiblichen Kräfte in den Staub stürzen?) und zweitens würde man sich einer jederzeit anspielbaren Position berauben. Der dritte Grund war in unserem Falle auch der, dass Heiner Großmann ziemlich schlecht bei Atem war (ihm fehlte seit einem Volltreffer '44 in den Dachstuhl des Backsteinhauses, in dem er mit seiner verwitweten Mutter gewohnt hatte, ein Lungenflügel) und wohl kaum länger als für ein paar Minuten Puste gehabt hätte, was ihn quasi zum Torsteher degradierte. Jedenfalls lief es bei uns ganz flüssig und bei Gert Fitzker in gewissen Maßen ebenfalls, denn er sollte bald der bis dahin erste und bis heute letzte Mensch sein, der sich vor meinen Augen während eines Fussballspiels in die Hose schiss. Es muss kurz nach Spielbeginn gewesen sein - Grete Olschewski war bislang ganz passabel aus dem Spiel genommen worden und Heiner Großmann keuchte noch nicht wie eine abgehalfterte Dampflok - als Jürgen Betzner, den alle nur "Wiesel" nannten wegen seines spitzzulaufenden Gesichts, Gert Fitzker im Strafraum (den wir natürlich nur imaginär sahen, da für eine reguläre Strafraummarkierung kein Magnesium bereit stand) von den Beinen holte. Nun muss man zu Gert Fitzkers Verteidigung erwähnen, dass er wenige Tage zuvor an einer heftigen Magen-Darmerkrenkung gelitten hatte und noch immer ein fieses Ziehen und Stechen in den Gedärmen spürte. Viele Jahre später kam mir der Spruch zu Ohren : Der Gefoulte soll niemals selber schießen. Sogleich fiel mir Gert Fitzker ein, der an jenem Nachmittag eben gegen diese Regel verstieß. Er legte sich den Ball sorgfältig auf den Strafstoßpunkt und zog aus Leibeskräften ab. Ich bin wahrlich kein Mediziner und kann deshalb nicht mir Fug und Recht behaupten, dass der menschliche Körper bei einem besonders harten Tritt dermaßen verkrampft, dass es einem die Därme ausquetscht; aber Fakt ist, dass sich Gert gewaltig in die Hose donnerte! Wir hörten es alle und wollten zunächst unseren Ohren nicht trauen. Unsere Augen allerdings bestätigten es. Auf Gert Fitzkers Hosenboden machte sich eine dunkle Verfärbung breit, die wie ein sanfter Hügel aus dem braunen Chordstoff heraustrat. Heiner Großmann behauptete später, dass er es bis unter die Torlatte hätte riechen können; dem möchte ich mich jedoch nicht anschliessen - gerochen habe ich nichts aber gesehen habe ich genug, um noch heute dann und wann in der Nacht aufzuwachen, um wie Blöde in die Dunkelheit hinein zu wiehern.
Es war irre komisch!
Gert lief - die Hände über dem Hintern verschränkt - in Richtung des Waldrandes, der nur wenige Meter neben dem Spielfeld begann. Ich weiß nicht, ob es angemessen ist das zu erwähnen, aber ihm sollte es auch nicht besser ergehen als den Strafgefangenen einige Jahre zuvor. Der Zaun versperrte ihm den Weg, sodass er keine andere Wahl hatte, als eine Ehrenrunde um den Platz zu drehen, während wir vor Freude brüllten, uns auf dem Rasen wälzten und die Bäuche hielten. Man muss sich das mal vorstellen : da läuft ein 12-jähriger mit viel zu großen Latschen und vollgedampften Hosen um einen rostigen Drahtzaun und hält sich mit beiden Händen den Hosenboden. Später haben wir seine Unterhose im Wald gefunden. Sie hing an einem Ast wie eine mahnende Fahne; was uns abermals dazu veranlasste, lauthals loszuprusten. Wenn ich wir sage, dann meine ich damit uns Jungen, denn Grete Olschewski lachte nicht. Vielleicht, weil sie bis dato heimlich in Gert Fitzker verliebt war, wer weiß. Sie sollte sich einige Jahre später mit Gert verabreden, als beide kurz vor dem Abitur standen und ihr erste sexuelle Revolution bereits hinter sich hatten : Küssen unter Einsatz der Zunge. Es wurde jedoch nichts aus ihnen - vielleicht kamen ihr die Erinnerungen an jenen Nachmittag ins Gedächtnis zurück. Womöglich sah sie vor dem inneren Auge seine flatternde Unterhose am Ast hängen und hat es deshalb sein gelassen, sich weiterhin mit ihm zu treffen. Gert machte es nicht sonderlich viel aus. Vielmehr traue ich ihm zu, dass er noch immer über diesen besagten Tag im Juni grübelte, als sein Darmtrakt ihm die Dienste verweigert hatte beim Elfmeterschuss.
Trotz des Fehlversuches - Gert hatte zwar in gewissem Sinne voll ins Schwarze getroffen aber den Ball nicht an Heiner Großmann vorbei bekommen - kassierten wir recht schnell zwei unnötige Tore. Grete Olschewski ließ sich beide Male wie eine Slalomstange umspielen, doch anstatt sich über ihr dämliches Mißgeschick aufzuregen (wie das jeder von uns Jungen getan hätte), lachte sie nur und tat so, als sei nichts gewesen. Das brachte mich erst recht auf die Palme! Man muss sich das mal vorstellen : Bei Gerts irrwitziger Einlage lachte sie nicht; und dort, wo es nichts zu Lachen gab, blökte sie es laut heraus. Ich vermutete, sie verstand das Spiel nicht richtig. Fussball war eben etwas für Kerle, nichts für Mädchen. Grete verstand das Spiel einfach nicht, basta. Sie führte sich kindisch auf. Nach dem dritten Tor, das ebenfalls auf ihre Kappe ging, winkte sie fröhlich ab, was mich beinahe dazu brachte, ihr an ihren dämlichen Zöpfen zu reissen. "Es ist doch nur ein Spiel." flötete sie, während Hansi Petersen ihr verstohlen hinterher gaffte. Ihm schien es offensichtlich nichts auszumachen, dass wir drauf und dran waren, das Spiel zu verlieren. Es war eben nicht nur ein Spiel (wie es Mädchen für gewöhnlich abtun, wenn sie bei etwas wirklich chancenlos sind). Es war mehr als das. Es war etwas jenseits der vorherrschenden Klassifizierung. Der Ball wog nicht ab zwischen arm und reich oder groß und klein. Ihm war es schnurz, ob man aus den dreckigen Arbeitergegenden kam oder in den piekfeinen Villenvierteln wohnte, wo es jeden Sonntag Himbeerkuchen und Sahnetorte gab. Das verstanden Mädchen nicht. Deshalb taten sie es lapidar als ein Spiel ab. Ich möchte nicht sagen, dass alle Frauen so denken, denn ich habe einmal bei einem Handballspiel zugesehen, bei dem sich die Damen büschelweise Haare herausgerissen haben. Aber die meisten Frauen denken so, und das ist irgendwie kindisch.
Das vierte Tor, das wir an jenem Nachmittag kassierten ging auf meine Kappe! Ich war noch dermaßen in Rage über die Dämlichkeiten von Grete Olschewski, dass ich Gert Fitzker (jenen mit den übergroßen Galoschen; dessen Unterhose zudem im Wald an einem Baum prangerte) übersah, der sich hinter meinem Rücken vors Tor geschlichen hatte und den Ball aus kurzer Distanz abstaubte. Großartig mit ihm gejubelt und umarmt hat ihn an diesem Tag keiner, soweit ich mich erinnern kann. Heiner Großmann, unser Torsteher, rüttelte wie immer wütend am Torpfosten; ich drosch den Ball mit aller Wut im Bauch gegen den rostbefallenen Zaun. Grete schaute mich nur bemitleidend an. Das bestätigte mir, dass sie diesen Spiel nicht verstand.
Zum Ende des Spiel netzte Gert Fitzker, der Hosenscheisser, ein weiteres Mal ein. Ich hatte mittlerweile keine große Lust mehr, diesen Nachmittag auf der Osterfelder Heide zu verbringen. Ich wäre viel lieber bei Fräulein Hutz im Flötenunterricht gesessen oder hätte mich von Großmutter abschlabbern lassen; sie saugte die Backen an, wenn sie einem einen Kuss gab. Stattdessen haute ich Adalbert Adenbach, unserem bemitleidenswerten Klassenstreber, der nur einen Tick besser Fussball spielen konnte als Grete Olschewski, kräftig vors Schienbein, sodass ich kurz darauf in eine wilde Schubserei mit der Hälfte seiner Mannschaftskameraden verwickelt wurde. Ich gab schliesslich klein bei, rächte mich aber nach dem Schlußpfiff, indem ich ihm ein Stück Rotz, dass ich in einem unbeobachteten Moment aus meiner Nase gezogen hatte, auf sein kariertes Hemd schmierte - direkt unterhalb des Kragens. Er bemerkte es nicht, und ich glaube, dass es auch ausser mir niemand bemerkt hat. Aber mir genügte es schon, dass ich wusste wo es war, wenn ich es mir ansehen wollte auf dem Nachhauseweg.
Wir trotteten alle gemeinsam nach Hause. Die meisten wohnten im selben heruntergekommenen Stadtteil, nur Heiner Großmann lebte einige Häuserblocks weiter in einer etwas besseren Gegend. Seine Mutter hatte nach dem Krieg als Entschädigung für das zerbombte Haus eine nette 3-Zimmerwohnung erhalten und wenn ich ehrlich bin, gönnte ich ihm auch diese Annehmlichkeit. Grete Olschewski verabschiedete sich wie immer gut gelaunt und verschwand hinter dem dumpfen Bretterzaun, der das Reihenhaus ihrer Eltern von der Strasse trennte. Ich sah ihr hinterher. Meine Wut hatte sich etwas gelegt. Aber ich benötigte mehrere Tage, bis ich über das Spiel hinweg kam. Aus dem Flötenunterricht bin ich danach ausgetreten. Irgendwie war mir das zu kindisch geworden.